5. Der Museumsbesuch
Wo bin ich zuhause? Gibt es für mich eine Heimat? Eine geographisch festgelegte? Eine im Herzen? Eine verlorene? Ist es die Erinnerung? Welches Vergangene ist jetzt noch bedeutsam?
In meiner Erinnerung ist mein Leben nichts weiter als ein graues Raster, ein grobpixeliges Mosaik, ein blind gezeichneter „Kreis“, welcher vor der ewigen, perfekten Schablone nicht bestehen kann. Dieser Kreis, den ich zu schließen habe, ist nicht rund und bereits jetzt so fehlerhaft, daß unmöglich noch eine ideale Form daraus werden kann. Aber dann, dann denke ich mir wieder mit wild aufwallender Euphorie: Die Bäume da draußen in der Herbstsonne, die haben ganz unregelmäßige Jahresringe, weit entfernt vom Ideal des Kreises, aber es gibt sie, die Bäume und ihre Jahresringe, zweifellos, da stehen sie, da leuchten sie, da lachen sie mir direkt ins Herz, aber den idealen Kreis, den gibt es nicht! Welch lächerliche Chimäre ist doch der „ideale Kreis“ gegen diesen Baum da draußen! Welch hoffärtiges Versteigen in weltfremde Theorien, welch blasses Luftschloß! Geradezu triumphierend kommen mir diese Gedanken! Und so wage ich es, mit neuer Kraft weiterzuschreiben, mich aufzuschreiben, vorwärtszudrängen, hinzustreben auf ein letztes Ziel, auf den Tag, da mein zerbeulter Kreis sich schließt ...
Ich war bis zu einem gewissen Punkt, bis zu einer gewissen Zeit, bis zu einer gewissen Lebensphase, die ich in meinen jungen Jahren, im allerweitesten Sinne im Bereich des beginnenden dritten Lebensjahrzehnts ansiedeln würde, in irgendeiner Form gewöhnlich, nicht besonders auffällig; ich war „normal“. Dies kam vielleicht daher, daß ich weder besonders hübsch, noch besonders stark, noch besonders reich, noch besonders klug war. Andererseits war ich aber auch nicht besonders häßlich, schwach, arm oder dumm. Im Gegenteil, wenn ich ehrlich bin, war ich eher etwas hübscher als einer, den man nur als „nicht häßlich“ beschreiben würde; in Bezug auf die körperliche Beschaffenheit war ich mittelstark mit der Tendenz zum Eher-kräftig-Sein, ich war wohl auch einer der finanzkräftigsten aus der Gruppe derer, die weder reich noch arm sind, und insgesamt eher klug als dumm, aber dümmer als ein ganz Gescheiter. Zusammenfassend kann ich sagen, daß man damals insgesamt wenig Notiz von mir nahm, zuallerletzt ich selbst. Obere Mittelklasse war ich in jeder Hinsicht; gehobene Normalität – ist das nicht bitterer als jedes durchschnittliche Mittelklassentum, als jede wirklich mittelmäßige Normalität? Zeugt nicht die gehobene Mittelklasse von unausgeschöpftem Potential, vom nicht geschafften Sprung in die Elite? Ist nicht die hoffnungslose Nähe zur Perfektion viel vernichtender als die Ferne, die gar nicht in vollem Ausmaß begriffen wird?
Ich aber wußte damals nicht, wie nah ich an der Perfektion war (gibt es denn Perfektion in diesem Leben?), beziehungsweise wie weit entfernt von ihr. Ich kannte weder die Tränendimension des Menschseins, noch achtete ich besonders auf den Gesichtsausdruck von Kindern, um nur zwei von vielen möglichen Beispielen zu nennen. Kurz, ich war auf dem besten Weg, meinen Status Quo der schattenhaften und unideellen Lebensführung zu zementieren. Für mich stellte das damals natürlich kein großes Problem dar, da ich es als ein solches gar nicht erkannte. An mir vollzog sich die altbekannte Geschichte vom Bewußtseinsmangel, der mich davor bewahrte, an meiner Normalität, an meiner Banalität, an meinem trüben Dahintreiben zu leiden: Ich wußte ja weder, was ich nicht wußte, noch wußte ich, wer ich überhaupt war. Letzteres weiß ich zwar vielleicht bis heute nicht, aber ich weiß mittlerweile wenigstens einiges darüber, wer ich nicht bin; damals aber wußte ich sozusagen gar nichts. Heute kann ich mich zumindest über mein Nicht-Wissen ein Stück weit definieren; dadurch, daß ich erkenne, daß ich mich nicht wirklich kenne, lerne ich mich kennen.
Jahrelang verbrachte ich einfach irgendwie meine Zeit, ohne mir besondere Gedanken über die Welt zu machen. Mein Leben bestand aus Nebensächlichkeiten wie der Schule (meine Abschlußnote lag knapp über dem Durchschnitt), dem Studium (abgebrochen, wieder aufgenommen, später endgültig abgebrochen), ein paar kleineren Arbeiten für den Lebensunterhalt und leeren Freizeitbeschäftigungen; ansonsten war ich ein fauler Schmarotzer an den Fleischtöpfen meiner Eltern. Doch all diese hohlen, äußerlichen Fakten empfinde ich heute nur noch als störende Fassade; als leere, abgenutzte Form, die pflichtmäßig erfüllt sein will und mich in eine Rolle drängt, in eine Funktion fesselt, mich zur Zahl reduziert. All diese Umstände aus jener ersten, blinden Zeit sind heute absolut bedeutungslos. Ihre einzige Daseinsberechtigung ist die hinführende Aufgabe, die sie hier übernehmen, bevor ich mich der schweren Fülle so vieler eigentlicher Dinge widmen kann.
Der dynamische Auslöser, der an meiner festgefahrenen Statik etwas zu ändern vermochte, ist schwerlich in nur einem einzigen Ereignis zu suchen und mit Worten zu fassen, aber vermutlich war es in erster Linie der Museumsbesuch, den ich irgendwann damals zusammen mit meinen Eltern an einem verregneten Tag machte. Außer meinen Eltern hatte ich zu dieser Zeit in Ermangelung enger Freunde keine wichtigen Bezugspersonen, und so waren sie es, die mich zu jenem Museumsbesuch überredeten und mir so etwas zuteil werden ließen, das mich auch heute noch staunen läßt und mich überhaupt erst dazu bringt, dieses Buch zu schreiben. Euch, liebe Eltern, gebührt mein Dank, auch wenn ihr mich später nicht mehr begreifen konntet.
Ohne Vorwissen streifte ich durch die Ausstellungsräume und war begeistert, als ich die meisterhaften Gemälde sah; ich war hingerissen und fasziniert von der überirdischen Schönheit, aber auch bestürzt und vielleicht noch mehr ergriffen von der Schrecklichkeit so mancher Darstellung. Noch nie zuvor hatte ich ein vergleichbares Kunsterlebnis gehabt; es war, als ob ein frischer Wind meine eingeschlafene Vorstellungskraft aufleben und in mir ganz neue Welten entstehen ließ. Das Museum prägte mich; als ich es schweigend wieder verließ, war ich nicht mehr ganz derselbe, als der ich es schweigend betreten hatte. (Meine Eltern diskutierten auf dem Heimweg lebhaft über das Gesehene, ohne mich an ihren Gedanken teilhaben zu lassen, und interpretierten mein ständiges Schweigen wohl als Desinteresse. Während sie mit dieser Deutung beim Betreten des Museums noch Recht gehabt hätten, schwieg ich nun jedoch, weil ich von den Kunstwerken dermaßen beeindruckt war, daß ich nicht wußte, was ich sagen sollte.)
Viel mehr ist an dieser Stelle über den Museumsbesuch nicht zu sagen. Ich möchte nur festhalten, daß sich in mir etwas verändert hatte oder zumindest etwas begann, sich in mir zu verändern. Ohne daß irgendjemand es damals erkannte, war in mir der erste, noch instabile Grundstein gelegt, auf dem schon bald ein sehr bizarres, windschiefes, geheimnisvolles Haus gebaut werden würde.
Wo bin ich zuhause? Gibt es für mich eine Heimat? Eine geographisch festgelegte? Eine im Herzen? Eine verlorene? Ist es die Erinnerung? Welches Vergangene ist jetzt noch bedeutsam?
In meiner Erinnerung ist mein Leben nichts weiter als ein graues Raster, ein grobpixeliges Mosaik, ein blind gezeichneter „Kreis“, welcher vor der ewigen, perfekten Schablone nicht bestehen kann. Dieser Kreis, den ich zu schließen habe, ist nicht rund und bereits jetzt so fehlerhaft, daß unmöglich noch eine ideale Form daraus werden kann. Aber dann, dann denke ich mir wieder mit wild aufwallender Euphorie: Die Bäume da draußen in der Herbstsonne, die haben ganz unregelmäßige Jahresringe, weit entfernt vom Ideal des Kreises, aber es gibt sie, die Bäume und ihre Jahresringe, zweifellos, da stehen sie, da leuchten sie, da lachen sie mir direkt ins Herz, aber den idealen Kreis, den gibt es nicht! Welch lächerliche Chimäre ist doch der „ideale Kreis“ gegen diesen Baum da draußen! Welch hoffärtiges Versteigen in weltfremde Theorien, welch blasses Luftschloß! Geradezu triumphierend kommen mir diese Gedanken! Und so wage ich es, mit neuer Kraft weiterzuschreiben, mich aufzuschreiben, vorwärtszudrängen, hinzustreben auf ein letztes Ziel, auf den Tag, da mein zerbeulter Kreis sich schließt ...
Ich war bis zu einem gewissen Punkt, bis zu einer gewissen Zeit, bis zu einer gewissen Lebensphase, die ich in meinen jungen Jahren, im allerweitesten Sinne im Bereich des beginnenden dritten Lebensjahrzehnts ansiedeln würde, in irgendeiner Form gewöhnlich, nicht besonders auffällig; ich war „normal“. Dies kam vielleicht daher, daß ich weder besonders hübsch, noch besonders stark, noch besonders reich, noch besonders klug war. Andererseits war ich aber auch nicht besonders häßlich, schwach, arm oder dumm. Im Gegenteil, wenn ich ehrlich bin, war ich eher etwas hübscher als einer, den man nur als „nicht häßlich“ beschreiben würde; in Bezug auf die körperliche Beschaffenheit war ich mittelstark mit der Tendenz zum Eher-kräftig-Sein, ich war wohl auch einer der finanzkräftigsten aus der Gruppe derer, die weder reich noch arm sind, und insgesamt eher klug als dumm, aber dümmer als ein ganz Gescheiter. Zusammenfassend kann ich sagen, daß man damals insgesamt wenig Notiz von mir nahm, zuallerletzt ich selbst. Obere Mittelklasse war ich in jeder Hinsicht; gehobene Normalität – ist das nicht bitterer als jedes durchschnittliche Mittelklassentum, als jede wirklich mittelmäßige Normalität? Zeugt nicht die gehobene Mittelklasse von unausgeschöpftem Potential, vom nicht geschafften Sprung in die Elite? Ist nicht die hoffnungslose Nähe zur Perfektion viel vernichtender als die Ferne, die gar nicht in vollem Ausmaß begriffen wird?
Ich aber wußte damals nicht, wie nah ich an der Perfektion war (gibt es denn Perfektion in diesem Leben?), beziehungsweise wie weit entfernt von ihr. Ich kannte weder die Tränendimension des Menschseins, noch achtete ich besonders auf den Gesichtsausdruck von Kindern, um nur zwei von vielen möglichen Beispielen zu nennen. Kurz, ich war auf dem besten Weg, meinen Status Quo der schattenhaften und unideellen Lebensführung zu zementieren. Für mich stellte das damals natürlich kein großes Problem dar, da ich es als ein solches gar nicht erkannte. An mir vollzog sich die altbekannte Geschichte vom Bewußtseinsmangel, der mich davor bewahrte, an meiner Normalität, an meiner Banalität, an meinem trüben Dahintreiben zu leiden: Ich wußte ja weder, was ich nicht wußte, noch wußte ich, wer ich überhaupt war. Letzteres weiß ich zwar vielleicht bis heute nicht, aber ich weiß mittlerweile wenigstens einiges darüber, wer ich nicht bin; damals aber wußte ich sozusagen gar nichts. Heute kann ich mich zumindest über mein Nicht-Wissen ein Stück weit definieren; dadurch, daß ich erkenne, daß ich mich nicht wirklich kenne, lerne ich mich kennen.
Jahrelang verbrachte ich einfach irgendwie meine Zeit, ohne mir besondere Gedanken über die Welt zu machen. Mein Leben bestand aus Nebensächlichkeiten wie der Schule (meine Abschlußnote lag knapp über dem Durchschnitt), dem Studium (abgebrochen, wieder aufgenommen, später endgültig abgebrochen), ein paar kleineren Arbeiten für den Lebensunterhalt und leeren Freizeitbeschäftigungen; ansonsten war ich ein fauler Schmarotzer an den Fleischtöpfen meiner Eltern. Doch all diese hohlen, äußerlichen Fakten empfinde ich heute nur noch als störende Fassade; als leere, abgenutzte Form, die pflichtmäßig erfüllt sein will und mich in eine Rolle drängt, in eine Funktion fesselt, mich zur Zahl reduziert. All diese Umstände aus jener ersten, blinden Zeit sind heute absolut bedeutungslos. Ihre einzige Daseinsberechtigung ist die hinführende Aufgabe, die sie hier übernehmen, bevor ich mich der schweren Fülle so vieler eigentlicher Dinge widmen kann.
Der dynamische Auslöser, der an meiner festgefahrenen Statik etwas zu ändern vermochte, ist schwerlich in nur einem einzigen Ereignis zu suchen und mit Worten zu fassen, aber vermutlich war es in erster Linie der Museumsbesuch, den ich irgendwann damals zusammen mit meinen Eltern an einem verregneten Tag machte. Außer meinen Eltern hatte ich zu dieser Zeit in Ermangelung enger Freunde keine wichtigen Bezugspersonen, und so waren sie es, die mich zu jenem Museumsbesuch überredeten und mir so etwas zuteil werden ließen, das mich auch heute noch staunen läßt und mich überhaupt erst dazu bringt, dieses Buch zu schreiben. Euch, liebe Eltern, gebührt mein Dank, auch wenn ihr mich später nicht mehr begreifen konntet.
Ohne Vorwissen streifte ich durch die Ausstellungsräume und war begeistert, als ich die meisterhaften Gemälde sah; ich war hingerissen und fasziniert von der überirdischen Schönheit, aber auch bestürzt und vielleicht noch mehr ergriffen von der Schrecklichkeit so mancher Darstellung. Noch nie zuvor hatte ich ein vergleichbares Kunsterlebnis gehabt; es war, als ob ein frischer Wind meine eingeschlafene Vorstellungskraft aufleben und in mir ganz neue Welten entstehen ließ. Das Museum prägte mich; als ich es schweigend wieder verließ, war ich nicht mehr ganz derselbe, als der ich es schweigend betreten hatte. (Meine Eltern diskutierten auf dem Heimweg lebhaft über das Gesehene, ohne mich an ihren Gedanken teilhaben zu lassen, und interpretierten mein ständiges Schweigen wohl als Desinteresse. Während sie mit dieser Deutung beim Betreten des Museums noch Recht gehabt hätten, schwieg ich nun jedoch, weil ich von den Kunstwerken dermaßen beeindruckt war, daß ich nicht wußte, was ich sagen sollte.)
Viel mehr ist an dieser Stelle über den Museumsbesuch nicht zu sagen. Ich möchte nur festhalten, daß sich in mir etwas verändert hatte oder zumindest etwas begann, sich in mir zu verändern. Ohne daß irgendjemand es damals erkannte, war in mir der erste, noch instabile Grundstein gelegt, auf dem schon bald ein sehr bizarres, windschiefes, geheimnisvolles Haus gebaut werden würde.