Hallo, Avatar,
mir gefallen die Gedichte. Ob sie aber Haiku (im strengen Sinne) sind?
Ich denke, es sind Mischformen.
Die äußere Form ist Haiku. (3 Zeilen, kurze Verse, die in deutsch (und englisch) oft verwendete Formübertragung mit 5-7-5 Silben.
Ebenfalls vorhanden ist in allen der Jahreszeitenbezug (ein Jahreszeitenwort).
Auch die Entwicklung ist - so denke ich jedenfalls - Haiku-typisch.
Ein Element aus der westlichen Kultur kommt aber dazu, welches im Haiku normalerweise nicht verwendet wird: die Interpretation und Erklärung, zum Teil in abstrakten Begriffen. Es geht damit über die Beschreibung hinaus.
Sprengt es damit schon die Form? Hierzu kann es unterschiedliche Auffassungen geben.
Ich habe viele solcher Gedichte geschrieben, ging aber dann von der Interpretation auf die Beschreibung zurück.
Es ist natürlich so - und völlig klar - dass es auch bei Haiku Entwicklungen gibt, ebenso wie in der Sprache, insbesondere, wenn verschiedene Kulturen sich treffen.
Vergessen wir nie, dass es ursprünglich ein "kleines lustiges Gedicht" ist, also ein "lustiges Gedichtlein".
Nun zu den einzelnen:
Schneeglöckchenwispern.
Aufgeregte Langsamkeit
Versteckt unter Schnee.
Hier haben wir eine Vermenschlichung, das Schneeglöckchen wird personifiziert - "wispern", "aufgeregt" - wir haben auch die "aufgeregte Langsamkeit", ein Gegensatzpaar. "Versteckt" ist eine menschliche Sicht, denn es wächst einfach.
Zwischen Krokussen
Erfand sich ein Gedanke.
Schnee schmolz ihn davon.
Hier haben wir eine weitergehende Personifizierung mit einem abstrakten Bild "erfand sich ein Gedanke". Du erklärst es, statt es zu zeigen.
Dem Hummelgebrumm
Sich sehnsüchtig darbietend.
Lockende Blüten
Auch hier die Personifizierung. Es ist wie eine Metapher. Die lockende Blüte als Symbol der Fruchtbarkeit, des Werbens.
Heckenbraunellen
In scheuer Annäherung.
Er fliegt hinterher.
Hier haben wir tatsächlich ein Bild, ohne Interpretation. "Scheu" ist hier nicht eine Eigenschaft der Vögel im abstrakten Sinn, sondern beim Liebesspiel.
In Trippelschritten
Hin zu ihr und her zu rück.
Halbwüchsiger Spatz
Auch hier haben wir ein Bild, ohne zusätzliche Interpretation.
Ich denke, in Bezug auf ein Naturbild sind die beiden letzten "echte" Haiku.
Aber: gemessen an unserer eigenen Lyrikkultur und -Tradition ist für mich das erste am spannendsten.
---
Ich bin nicht so ein Experte auf dem Gebiet des Haiku, wie Bernd, aber ich lerne stets dazu, habe auch viele Übersetzungen aus dem Japanischen gelesen.
Zumindest in den Übersetzungen wird es oft nicht so streng behandelt, dass nur "reine" Naturbilder zulässig sind.
Oft sind das aber die spannendsten, weil zugleich fremd wirkend und vertraut.