5. Kapitel - Anne Sinclair

Black Pearl

Mitglied
V. Anne Sinclair


Aus den Flammen züngeln Blitze
Blitze längst vergess’ner Liebe
Schlagen schwarz gemalt in Tinte
Zeilenweise neue Triebe
Sehend werden Herzensblinde
Mahnend steht das Wort im Blut
Neu erwacht, was löngst vergessen
Neu wird alte Zeit vermessen
Neu aus längst verglimmter Glut -

Dunkle Wesen schleichen näher
Wo viel Schatten, da viel Licht
Wer von welchem der Vertreter
Scheut den Irrtum manchmal nicht.

Heute grüßt dich Anne Sinclair -
Doch auch sie stellt dir die Frage:

Wer ist wer?


Sie schnupperte. Red Eye war schon da gewesen. Und sicher schon dabei, seinem Daddy Bericht zu erstatten. Daddylein dürfte also abgelenkt genug sein, um sich ungestört umsehen zu können.
Sie legte die Hand auf das Fenster, es klickte, und schon war sie hinein geschlüpft. Sie legte sich bäuchlings auf das Bett und drückte ihre Nase tief in das Kopfkissen. Sog Melloys Körpergeruch ein. Bis sie ihn so deutlich wahrnahm, dass sie ihn vom Whiskeyaroma und dem Duft der Bettwäsche unterscheiden und nicht mehr vergessen würde. Red Eye erforschte jeden neuen Mann im Spiel, also blieb ihr nichts anderes übrig, als dasselbe zu tun. In der Hoffnung, vor Red Eye und seiner Sippe eine Lösung zu finden. Und vor allem: eine andere.
Die von Red Eye war einfach: ihre Vernichtung.

Nun, so einfach denn doch nicht, denn bisher war ihm und seiner Sippe das schließlich noch nicht gelungen – und das ärgerte Daddylein enorm. Und Red Eyes Frist lief zu Halloween ab. Dann würde Daddy die Sache selbst in die Hand nehmen. Und davor graute es ihr.
Wenn sie jemanden mehr fürchtete als Red Eye, dann seinen Vater, Vadis der Große, das Oberhaupt der ganzen Sippe. Sie hatte so ihre Zweifel, dass sie gegen ihn bestehen konnte, wusste noch nicht einmal, wozu er alles fähig war – denn bisher hatte er keinen Finger gekrümmt, um Red Eye zu helfen. Daddy war der Meinung, Red Eye solle selbst die Suppe auslöffeln, die er eingebrockt hatte. Und wehe, er versagte.

Nicht, dass Red Eye ihr das freiwillig erzählt hätte. Aber sie hatte gut geübt. Inzwischen konnte sie schon fast eine Stunde in seinen Geist eindringen, bevor er es bemerkte. Und sein Geist hatte ihr ohne Probleme genügend Informationen geliefert, denn er dachte an fast nichts anderes. Doch sie hütete sich, in seinen Geist einzudringen, wenn er zu seinem Vater ging, sie war nicht sicher, ob Daddy es nicht bemerken würde. Daher zog sie sich immer sofort zurück, sobald sie spürte, dass jemand anderes sich zu Red Eyes Geist Zugang zu verschaffen begann. Sie hatte keine Ahnung, ob Red Eyes Vater in ihren Geist eindringen konnte, ohne dass sie es bemerkte - entweder war dem so, oder er hatte es noch nie versucht, bisher hatte sie jedenfalls noch nie einen Zugriffsversuch durch ihn gespürt. Daher konnte es gut sein, dass er alles wusste, was sie wusste, nur noch nichts unternahm. Früher oder später würde er also eventuell wissen, dass sie gerade Melloy nachspürte, aber sie hoffte, er hielt die Frist ein und warnte Red Eye nicht vor. Oder hielt seine Aufmerksamkeit im Moment gerade zu sehr auf Red Eyes Bericht gerichtet, so dass er es erst erfahren würde, wenn sie längst schon wieder weg war.

Sie stand auf und schloss das Fenster. Dann legte sie eine Visitenkarte auf den Nachttisch und verließ das Zimmer, das Türschloss bereitete dabei nicht mehr Probleme als das Fenster. Sie ließ es sich wieder abschließen, als die Tür hinter ihr zu fiel. Dann betrat sie Nakes Zimmer und sah sich um.
Über dem kleinen Tisch an der Wand gegenüber vom Bett hatte Nakes ein großes Papierband angepinnt, auf dem Fotos klebten, Notizen standen und eine Skizze gezeichnet war in Form eines Verbindungsnetzes der Opfer mit ihrem sozialen Umfeld und möglichen Verbindungen unter den Opfern. Überschrieben war die Skizze mit nur einem Wort in großen Lettern: ENDE

Sie starrte verwirrt darauf. Irgendetwas regte sich in ihr, doch es blieb unterhalb der Schwelle ihres Geistes und damit unbegriffen.
Was sollte dieses Wort? Eine Art Zielsetzung? Dem ganzen ein Ende zu bereiten? Nun, das war auch ihr Ziel.
Dann fiel ihr Blick auf ein bestimmtes Foto, in ihr rumorte etwas unangenehm, sie schritt wie magnetisiert näher an das Foto heran: es war die Aufnahme von einem Wort, das anscheinend mit roter Farbe an eine Zimmerwand gemalt worden war:
ENDE
Oder mit Blut... fuhr es ihr durch den Kopf.
Das Foto war datiert auf die letzte Nacht ihres Trankes. Daneben waren noch mehr Fotos, die das gleiche Wort abbildeten, alle datiert auf Nächte, in denen sie getrunken hatte.
Sie wurde immer blasser, als sie Foto für Foto betrachtete. Das älteste war von der Nacht ihres ersten Trankes. Sie konnte sich nicht erinnern, sie hatte das nicht getan! Doch es war ihre Handschrift. Sie starrte auf die Fotos. Wusste Red Eye davon? Warum hatte sie nie etwas davon in seinem Geist bemerkt? Konnte er doch etwas vor ihr verbergen? Hatte sie ihn letztendlich doch unterschätzt? Und wusste ER davon?? Wenn ja, dann war es wirklich kein Wunder, dass sie gejagt wurde. Denn das war eine eindeutige Spur zu ihr, und Vampire hinterließen keine Spuren, sorgten dafür, dass die Polizei niemals ein Verbrechen hinter dem Tod durch ihren Biss vermuteten. Und sie stand hier und betrachtete die Informationssammlung, die sie als Serienkiller auswies...

Ein weiteres Foto zog ihren Blick auf sich. Ein blondes Mädchen mit schräg stehenden, blauen Augen war darauf abgebildet, Vanessa Müller stand neben dem Abzug... und daneben hing eine Vermisstenanzeige. Der sich darauf beziehende Artikel der D.T. Times war ein paar Tage nach ihrer Erweckung veröffentlicht worden. Das erste Mal seit ihrer Erweckung dachte sie an ihre Eltern. Waren sie befragt worden? Hielten sie sie möglicherweise längst für tot? Oder gar für eine Psychopathin?? Eigentlich konnte es ihr egal sein, es wunderte sie, dass sie überhaupt eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatten. Aber es beunruhigte sie, dass die Polizei ihre Eltern befragt hatte, was wussten sie inzwischen schon alles über sie – beziehungsweise über ihr vorheriges Leben? Sie selbst konnte sich nur an weniges erinnern. Es gefiel ihr nicht, dass sie wahrscheinlich mehr wussten, als sie selbst. Sie betrachtete die anderen Artikel. Sie wurden von Woche zu Woche immer kleiner, doch dann kam wieder ein größerer Artikel.

Vermisste aus dem Dark River gefischt
Tragischer Unfalltod oder Selbstmord eines Liebespärchens?


Dark Town. Am Samstag, den ?? fand die Suche der seit Monaten vermissten Vanessa M. ein trauriges Ende. Nach Aussage der örtlichen Polizei fand man Vanessa M.’s verbrannte Leiche im Auto ihres Freundes Frank D., das Taucher der Polizei gestern aus dem Dark River bargen. Auch Frank D., der Fahrer des Wagens, ist wahrscheinlich in den Flammen gestorben. Die Polizei vermutet Alkohol als Unfallursache, da mehrere leere Scotchflaschen im Wagen gefunden wurden. Das Auto müsse von der Fahrbahn abgekommen, gegen ein Brückenpfeiler gestoßen und dann Feuer gefangen haben, kurz darauf sei es von der Brücke in den Dark River gestürzt, so die Aussage der Polizei zum Unfallhergang. Weder die Eltern von Vanessa M. und Frank D., noch die Polizei gaben einen Kommentar zu der Frage ab, warum Frank D. Vanessa M.’s Verschwinden vor ein paar Monaten bis zum Unfalltag gedeckt hatte, und warum sie davon nichts bemerkt hatten. Es war ihnen bekannt, dass Frank und Vanessa ein Paar gewesen waren und das Vanessa M. schon öfter von zu Hause ausgerissen war, doch bisher war sie immer nach ein paar Tagen heimgekehrt. Frank D. hatte sich wahrscheinlich trotz der Verzweiflung von Vanessa M.’s Eltern zur Loyalität gegenüber seiner Freundin verpflichtet gefühlt. Ob der Tod der Liebenden wirklich ein Unfall oder möglicherweise romantisch motivierter Selbstmord war, bleibt noch zu klären.​


Frank.

Warum hatte sie sich bisher noch nicht einmal an Frank gedacht? War das Red Eyes Einfluss zu verdanken? Hatte Red Eye ihren Tod inszeniert, damit die Polizei aufhörte, sie zu suchen? Und hatte er Frank umgebracht, den einzigen Menschen, dem im Gegensatz zu ihrer Familie tatsächlich daran gelegen gewesen war, sie zu finden? Und welches arme Mädchen hatte nun an ihrer Statt sterben müssen?? Zwei Menschen waren tot – und sie war schuld. Frank war tot. Sie riss sich zusammen, nicht zu weinen. Es war eine Sache, dass Menschen starben, weil sie trinken musste – aber es war etwas völlig anderes, wenn sie sterben mussten, um ihre, Black Pearls, Existenz zu vertuschen. Und es war etwas bedeutend anderes, wenn einer davon jemand war, denn sie geliebt hatte. Die Erinnerung sprang wie ein mit Blitz geschossenes Foto vor ihre Augen, Frank, der sie umschlungen hielt, ein letztes Mal... sie spürte seinen warmen, schlanken und doch kräftigen Körper an ihrem, roch seinen Duft, hörte sein Flüstern:
„Heute Nacht, Van, heute Nacht wird alles anders – und diesmal für immer... sei pünktlich, und nimm nur das Nötigste mit... lass dir nichts anmerken... wir schaffen das, ich liebe dich, Van, zusammen schaffen wir alles“, dann hatte er sie geküsst, sein Kuss war wie ein Versprechen gewesen, dass er niemals brechen würde... dann hatten sie sich getrennt.

Sie war auf dem Weg nach Hause einen Umweg durch kleine Seitenstrassen gelaufen, damit sie möglichst wenig Menschen über den Weg lief – und in einer der Seitenstrassen hatte Red Eye schon auf sie gewartet... Red Eye. Der sie zu dem gemacht hatte, was sie war, eine untote Serienkillerin, die die ganze Stadt und sogar den, den sie geliebt hatte, ins Unglück gestürzt hatte... Wie sie Red Eye dafür hasste! Doch sie bemühte sich, auch das zu unterdrücken, starke Gefühle könnten die Aufmerksamkeit anderer erwecken...

Sie wünschte sich ihre Gefühllosigkeit zurück, die sie unter Red Eyes Bann noch gehabt hatte. Als allein nach dem Trinken die Gefühle sie überrollt hatten - schlimm genug. Doch seit der Bann von ihr abgefallen war, fühlte sie sich komplett gespalten – die Visionen waren öfter gekommen, Gefühle kamen und gingen wie sie wollten, manchmal nur wie ein schwaches Echo von derjenigen, die sie einmal gewesen war, doch manchmal auch so intensiv, dass sie es kaum ertrug, umso stärker, je länger der letzte Trank her war. Es kostete sie große Willenskraft, trotzdem wenigstens eine Woche ohne Trank durchzuhalten. Sie hatte es länger versucht, doch mit zunehmendem Blutmangel nahm auch ihre Willenskraft ab, ihr fehlte einfach die Energie, den Hunger noch länger zu ertragen.
Sie hatte auch schon überlegt, sich einfach fangen und töten zu lassen, die Stadt wäre von der schwarzen Regenpest und ihren Folgen erlöst und die Meute zufrieden. Aber immer, wenn sie darüber nachdachte, hatte sich in ihr ein großer Widerwille geregt. Erst hatte sie es für den animalisch verstärkten Überlebenstrieb gehalten, doch inzwischen ahnte sie, dass etwas anderes dahinter steckte – etwas oder jemand wollte, dass sie als Untote weiterlebte, sie spürte, dass sie nicht den einfachen Weg gehen durfte, es hatte einen Sinn, dass es sie gab, es war ihr nur noch nicht klar, welchen. Und das trieb sie weiter, eine andere Lösung zu finden als ihren Tod – und das wiederum war vielleicht der Sinn. Sie hoffte, dass sie ihr Gefühl nicht trog, dass es nicht eine Folge des wenn auch abgeschwächten Banns oder doch nur ihr Überlebensinstinkt war.
Denn dann hatte sie grundlos so viele Leben auf dem Gewissen. Nein, sie hatte das Gefühl, dass eine Lösung zu finden nicht nur wichtig für ihr seltsames Leben und für diese Stadt war – es war wichtig für alle – Menschen wie Vampire –, dass sie einen anderen Weg fand, dessen war sie sich irgendwie sicher.

Sie fühlte sich plötzlich unruhig, es wurde Zeit, zu verschwinden. Sie betrachtete noch einmal genau die mit Hinweisen gepflasterte Wand, um sie sich gut einzuprägen, dann entschwand sie durchs Fenster und über die Dächer in die Nacht.

Wenige Sekunden später trat Nakes ein. Die Flügel seiner wulstigen Nase bebten, tief sog er die Luft durch seine geblähten Nasenlöcher ein. Er sprang zum Fenster, riss es auf und ließ einen langen Blick über die Dächer schweifen. Dann schloss er es wieder und kramte unter dem Bett herum, schließlich fand er, was er suchte. Er zog den kleinen roten Kinderkoffer unter dem Bett hervor und öffnete ihn. Seine große haarige Hand griff sich den kleinen Stoffpanther, er drückte seine Nase tief hinein und schnüffelte konzentriert. Mit einem hässlichen Grinsen ließ er ihn wieder in den Koffer fallen, dann verschloss er den Koffer wieder und schob ihn unter das Bett zurück. Er trat an die bepinnte Wand heran und betrachtete Vanessas Foto.

„Dummes Mädchen“, murmelte er, „dummes kleines Mädchen.“

Dann grub er tief in seiner Hosentasche herum, förderte ein paar schwarze, miteinander verklebte Drops hervor und stopfte sie sich in den Mund. Kauend und kichernd verließ er das Zimmer und klopfte bei Melloy an. Auf sein brummeliges „Herein“ trat er ein. Melloy saß mit gerunzelter Stirn auf der Bettkante und starrte in sein Notizheft.

„Wie siehts aus Chef - Brainstorm?“

„Hmmm“, machte Melloy, „ich glaub, ich muss das Gespräch erst mal sacken lassen – der Typ war ziemlich seltsam... ich glaub, ich brauch erst mal ne Dusche für’n klaren Kopf, komm am besten in einer halben Stunde wieder – und bring Whiskey mit, wenn bei dir in der Zimmerbar noch welcher ist.“

„Klar Chef, bis gleich, Chef...“

Er schloss die Tür wieder und ging in sein Zimmer zurück. Seine Nase zuckte befriedigt. Sie war auch bei Melloy im Zimmer gewesen. Er warf sich seine letzten Drops in den Rachen und sich selbst aufs Bett, von da aus starrte er etwa eine halbe Stunde – beziehungsweise bis er die Dusche nebenan schon eine Weile nicht mehr laufen hörte - auf das beklebte Papierband über dem Tisch. Dann griff er sich die noch unberührte Whiskeyflasche seiner Zimmerbar und machte sich auf den Weg zu Melloy, auch wenn er eigentlich schon alles wusste, was es zu wissen gab.

Seltsamer Kauz, der Sheriff, dachte Melloy, während er das warme Wasser auf der Haut genoss. Wären die wässrig blauen Augen des Sheriffs nicht eiskalt gewesen, hätte man ihn mit seiner rundlichen Figur, den feisten roten Backen und dem blonden Strubbelhaar für ein Riesenbaby halten können – gut, auch der mächtige, sorgfältig gezwirbelte Schnäuzer passte nicht ganz ins Bild. Und das dünne hohe Stimmchen, das aus seinem dicklippigen Mund fiepste, wirkte zum immensen Körpervolumen ebenfalls extrem konträr. Es war daher für sein Ohr ganz angenehm gewesen, dass der Sheriff anscheinend kein großer Redner war – dieses schrille Fiepsstimmchen quietschte weitaus schrecklicher in den Ohren als Nakes Gezischel.

Der Sheriff hatte ihm knapp die Ereignisse und wichtigsten Daten seit dem ersten Fall, der zur Serie gezählt wurde, zusammengefasst, Informationen, die er schon längst von Nakes bekommen hatte. Seiner Frage nach den Blut- und DNA-Proben war der Sheriff ausgewichen, erst nachdem er penetrant nachgebohrt hatte, versicherte der Sheriff, er würde sie nachreichen, sie seien gerade noch im Labor, um sie mit den aktuellen Daten des letzten Falls abzugleichen, wenn das erledigt sei, könne er sie sich abholen.

Melloy glaubte ihm kein Wort.

Die Augen des Sheriffs verrieten ihm nicht die Lüge - in ihnen schien sich gar nichts zu bewegen, egal, was er sagte - aber die tiefere Röte seines speckigen Babyfaces. Irgendetwas war da faul. Wieso wollte man ihm nicht die Ergebnisse der Blutproben und DNA-Analysen geben? Hatte der Sheriff vielleicht doch einen Verdächtigen, wollte diesen aber noch unter dem Deckel halten? Vielleicht, weil derjenige eine bekannte Persönlichkeit war? Er hatte schon oft erlebt, dass mit solcherlei hinter dem Berg gehalten wurde, bis man sich sicher war, dass es nicht nur Spekulation blieb – damit ja nicht zu früh die Presse davon Wind bekam und die Anwälte desjenigen genug Zeit hatten, sich eine Strategie zu überlegen, wie derjenige wieder aus dem Schlamassel rauszuhauen war – meist mit viel Geld oder einem Sündenbock an der Stelle des Schuldigen – oder beidem.

Wahrscheinlich hatte der Sheriff aber nur etwas gegen die Einmischung des FBI’s und wollte ihn da raus halten, womit er sein Ziel erreicht bzw. seinen Auftrag erfüllt hätte. Nakes hatte ihm gesagt, er sei nur nach Dark Town geschickt worden, um den Sheriff mit Fragen zu nerven, das FBI wolle das Engagement des Sheriffs dadurch ankurbeln - die örtlichen Stellen wurden meist aktiver, wenn das FBI ihnen einen Fall wegzuschnappen drohte. Von der Mordkommission hätte man auch schon lange nichts Neues mehr gehört – zudem hätte es im letzten Jahr in Dark Town auch erstaunlich viele Selbstmorde gegeben. Auch diesem Phänomen sollte er auf den Grund zu gehen.
Es ärgerte ihn, dass er sich das von Nakes anhören musste – sein Vorgesetzter hatte ihn mit wenigen Informationen abgespeist, als er den Fall erhalten hatte, aus Zeitmangel, da sie vor Ort an etwas Größerem dran seien, er würde alles weitere dann vor Ort erfahren. Und sein Chef wusste genau, dass er viel lieber zu dieser Sache mit hinzugezogen worden wäre, anstatt in irgendeinem düsteren Kaff einen Sheriff zu peitschen einen eventuellen Serienkiller zu jagen und irgendwelchen Selbstmorden nachzuspüren, die wahrscheinlich größtenteils auf die deprimierende Atmosphäre in Dark Town zurückzuführen sein würden...

Nun, er musste zugeben, dass ihn der Fall inzwischen mehr interessierte, normalerweise langweilten ihn Serienkiller – aber dieser hier schien vielversprechend zu sein und er hatte so das Gefühl, dass sich da tatsächlich etwas Spannendes zu entwickeln begann – zumindest, seit er die Visitenkarte auf seinem Nachttisch entdeckt hatte. Wer auch immer Anne Sinclair war, sie musste mit dem Fall zu tun haben. Seit langem hatte ihn nicht mehr der Kitzel der Gefahr angestachelt, und nun schien er ihm kräftig in den Hintern zu beißen – hoffentlich sah die Frau, die er treffen sollte, heiß und gefährlich aus. Seit langem fühlte er sich endlich wieder einmal hellwach.

Er stieg aus der Dusche, trocknete sich ab und versuchte sich dabei Anne Sinclair etwas genauer vorzustellen -
Ein lauter, schriller Angstschrei riss ihn aus seinen Gedanken, und als er herum fuhr, stürzte ein Schatten an seinem Fenster vorbei. Er warf sich hastig in seinen Mantel, knöpfte ihn flink zu, schnappte sich seine Waffe und stürzte aus dem Zimmer, wobei er fast mit Nakes zusammen stieß.

„Was ist hier los??“

„Chef, Chchef – ein Mädchen, sie ist gesprungen“, stammelte Nakes atemlos, „vom Dach – da war dies verängssstigte Zimmermädchen – sie hat mich abgefangen... sie hat mich aufs Dach geschickt, doch es war schon zu spät...“

„Ruf nen Krankenwagen – und den Sheriff...“

„Da kümmert sich schon das Mädchen drum – hoff ich...“

„Okay, okay, komm mit!“

Sie stürzten zum Aufzug und drückten auf den Knöpfen herum, da er zu lange auf sich warten ließ, rannten sie die Treppe hinunter.
Als sie unten ankamen und aus der Tür traten, hörten sie schon die Sirenen, der Hotelpage stand blass über das verkrümmt da liegende Mädchen gebeugt und hielt ihr ein Silbertablett vor den Mund, mit der anderen Hand fühlte er ihren Puls - er fuhr herum, als er Schritte hinter sich hörte.

„Können – können Sie erste Hilfe? Sie – sie ist tot, glaub ich – sie atmet nicht – kein Puls“, stotterte er mit vor Schreck starren Augen.

Melloy betrachtete die Blutlache, die sich um ihren Kopf herum ausbreitete.
Nakes packte den Jungen beim Arm und schliff ihn ins Hotel.

„Komm Junge, du kannst hier nichtsss mehr tun. Wir kümmern uns drum... und der Krankenwagen is sicher auch gleich da...“

Melloy fummelte einen Handschuh aus seiner Manteltasche und zog ihn über, dann durchsuchte er ihre Taschen. Er fand ihre Geldbörse und klappte sie auf.

Anne Sinclair, las er auf ihrem Ausweis, 19 Jahre alt. Er starrte verwirrt auf sie hinab. Das konnte doch nicht... Er zog die Visitenkarte heraus.
Da stand es in schön geschwungener Schrift.

Anne Sinclair. Darunter: Black Celebration, Dark Town Avenue 236, Mitternacht.

Er schüttelte traurig den Kopf. So ein junges Mädchen... Was hatte sie ihm sagen wollen? Der Fall wurde immer verrückter – und interessanter... schnell notierte er ihre Adresse und schob die Geldbörse in ihre Hosentasche zurück.

Der Krankenwagen bog um die Ecke. Er sprach kurz mit den Sanitätern, dann ging er ins Hotel zurück. Am Thresen stammelte die Rezeptionistin aufgeregt ins Telefon, sicher informierte sie gerade den Hoteldirektor. Seltsamerweise standen keine Schaulustigen in der Eingangshalle. Er warf einen Blick zurück. Die Sanitäter deckten gerade ein Tuch über die Leiche, ansonsten blieb die Straße menschenleer. Gut, es war später Abend, aber ein Tatort ohne auch nur eine vorbeikommende Person, die neugierig stehen blieb, irritierte ihn irgendwie.
Nakes kam auf ihn zu.

„Wo ist das Zimmermädchen?“ fragte er ihn.

„Keine Ahnung, Chef... hab sie schon gesssucht – aber sie ist weg...“

„Weißt du schon irgendetwas über sie?“

„Falscher Name – die Rezeptionistin kannte sie nich – niemand, der auf ihrer Beschreibung passen könnte, arbeitet hier.“

Er zog überrascht die Augenbrauen hoch.
„Ein verdächtiges Zimmermädchen also... mach von ihr ne Zeichnung -“

„Schon erledigt, Chef...“, er kramte in seinen Taschen herum und zog einen schon etwas zerknitterten Bogen Papier hervor.

Melloy betrachtete das schmale Gesicht mit den herrischen dunklen Augen und den schön geschwungenen Lippen, ein melancholischen Zug lag um ihre Mundwinkel, langes schwarzes Haar ließ ihr blasses Antlitz noch bleicher erscheinen. Nakes hat auch ihr Zimmermädchendress mitgezeichnet, auf dem Schild an der Tasche ihrer weißen Bluse las er: Anne Sinclair.

Anne Sinclair??
Nun begriff er gar nichts mehr.

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Black Pearl

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V. Anne Sinclair


Aus den Flammen züngeln Blitze
Blitze längst vergess’ner Liebe
Schlagen schwarz gemalt in Tinte
Zeilenweise neue Triebe
Sehend werden Herzensblinde
Mahnend steht das Wort im Blut
Neu erwacht, was längst vergessen
Neu wird alte Zeit vermessen
Neu aus längst verglimmter Glut -

Dunkle Wesen schleichen näher
Wo viel Schatten, da viel Licht
Wer von welchem der Vertreter
Scheut den Irrtum manchmal nicht.

Heute grüßt dich Anne Sinclair -
Doch auch sie stellt dir die Frage:

Wer ist wer?


Sie schnupperte. Red Eye war schon da gewesen. Und sicher schon dabei, seinem Daddy Bericht zu erstatten. Daddylein dürfte also abgelenkt genug sein, um sich ungestört umsehen zu können.
Sie legte die Hand auf das Fenster, es klickte, und schon war sie hinein geschlüpft. Sie legte sich bäuchlings auf das Bett und drückte ihre Nase tief in das Kopfkissen. Sog Melloys Körpergeruch ein. Bis sie ihn so deutlich wahrnahm, dass sie ihn vom Whiskeyaroma und dem Duft der Bettwäsche unterscheiden und nicht mehr vergessen würde. Red Eye erforschte jeden neuen Mann im Spiel, also blieb ihr nichts anderes übrig, als dasselbe zu tun. In der Hoffnung, vor Red Eye und seiner Sippe eine Lösung zu finden. Und vor allem: eine andere.
Die von Red Eye war einfach: ihre Vernichtung.

Nun, so einfach denn doch nicht, denn bisher war ihm und seiner Sippe das schließlich noch nicht gelungen – und das ärgerte Daddylein enorm. Und Red Eyes Frist lief zu Halloween ab. Dann würde Daddy die Sache selbst in die Hand nehmen. Und davor graute es ihr.
Wenn sie jemanden mehr fürchtete als Red Eye, dann seinen Vater, Vadis der Große, das Oberhaupt der ganzen Sippe. Sie hatte so ihre Zweifel, dass sie gegen ihn bestehen konnte, wusste noch nicht einmal, wozu er alles fähig war – denn bisher hatte er keinen Finger gekrümmt, um Red Eye zu helfen. Daddy war der Meinung, Red Eye solle selbst die Suppe auslöffeln, die er eingebrockt hatte. Und wehe, er versagte.

Nicht, dass Red Eye ihr das freiwillig erzählt hätte. Aber sie hatte gut geübt. Inzwischen konnte sie schon fast eine Stunde in seinen Geist eindringen, bevor er es bemerkte. Und sein Geist hatte ihr ohne Probleme genügend Informationen geliefert, denn er dachte an fast nichts anderes. Doch sie hütete sich, in seinen Geist einzudringen, wenn er zu seinem Vater ging, sie war nicht sicher, ob Daddy es nicht bemerken würde. Daher zog sie sich immer sofort zurück, sobald sie spürte, dass jemand anderes sich zu Red Eyes Geist Zugang zu verschaffen begann. Sie hatte keine Ahnung, ob Red Eyes Vater in ihren Geist eindringen konnte, ohne dass sie es bemerkte - entweder war dem so, oder er hatte es noch nie versucht, bisher hatte sie jedenfalls noch nie einen Zugriffsversuch durch ihn gespürt. Daher konnte es gut sein, dass er alles wusste, was sie wusste, nur noch nichts unternahm. Früher oder später würde er also eventuell wissen, dass sie gerade Melloy nachspürte, aber sie hoffte, er hielt die Frist ein und warnte Red Eye nicht vor. Oder hielt seine Aufmerksamkeit im Moment gerade zu sehr auf Red Eyes Bericht gerichtet, so dass er es erst erfahren würde, wenn sie längst schon wieder weg war.

Sie stand auf und schloss das Fenster. Dann legte sie eine Visitenkarte auf den Nachttisch und verließ das Zimmer, das Türschloss bereitete dabei nicht mehr Probleme als das Fenster. Sie ließ es sich wieder abschließen, als die Tür hinter ihr zu fiel. Dann betrat sie Nakes Zimmer und sah sich um.
Über dem kleinen Tisch an der Wand gegenüber vom Bett hatte Nakes ein großes Papierband angepinnt, auf dem Fotos klebten, Notizen standen und eine Skizze gezeichnet war in Form eines Verbindungsnetzes der Opfer mit ihrem sozialen Umfeld und möglichen Verbindungen unter den Opfern. Überschrieben war die Skizze mit nur einem Wort in großen Lettern: ENDE

Sie starrte verwirrt darauf. Irgendetwas regte sich in ihr, doch es blieb unterhalb der Schwelle ihres Geistes und damit unbegriffen.
Was sollte dieses Wort? Eine Art Zielsetzung? Dem ganzen ein Ende zu bereiten? Nun, das war auch ihr Ziel.
Dann fiel ihr Blick auf ein bestimmtes Foto, in ihr rumorte etwas unangenehm, sie schritt wie magnetisiert näher an das Foto heran: es war die Aufnahme von einem Wort, das anscheinend mit roter Farbe an eine Zimmerwand gemalt worden war:
ENDE
Oder mit Blut... fuhr es ihr durch den Kopf.
Das Foto war datiert auf die letzte Nacht ihres Trankes. Daneben waren noch mehr Fotos, die das gleiche Wort abbildeten, alle datiert auf Nächte, in denen sie getrunken hatte.
Sie wurde immer blasser, als sie Foto für Foto betrachtete. Das älteste war von der Nacht ihres ersten Trankes. Sie konnte sich nicht erinnern, sie hatte das nicht getan! Doch es war ihre Handschrift. Sie starrte auf die Fotos. Wusste Red Eye davon? Warum hatte sie nie etwas davon in seinem Geist bemerkt? Konnte er doch etwas vor ihr verbergen? Hatte sie ihn letztendlich doch unterschätzt? Und wusste ER davon?? Wenn ja, dann war es wirklich kein Wunder, dass sie gejagt wurde. Denn das war eine eindeutige Spur zu ihr, und Vampire hinterließen keine Spuren, sorgten dafür, dass die Polizei niemals ein Verbrechen hinter dem Tod durch ihren Biss vermuteten. Und sie stand hier und betrachtete die Informationssammlung, die sie als Serienkiller auswies...

Ein weiteres Foto zog ihren Blick auf sich. Ein blondes Mädchen mit schräg stehenden, blauen Augen war darauf abgebildet, Vanessa Müller stand neben dem Abzug... und daneben hing eine Vermisstenanzeige. Der sich darauf beziehende Artikel der D.T. Times war ein paar Tage nach ihrer Erweckung veröffentlicht worden. Das erste Mal seit ihrer Erweckung dachte sie an ihre Eltern. Waren sie befragt worden? Hielten sie sie möglicherweise längst für tot? Oder gar für eine Psychopathin?? Eigentlich konnte es ihr egal sein, es wunderte sie, dass sie überhaupt eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatten. Aber es beunruhigte sie, dass die Polizei ihre Eltern befragt hatte, was wussten sie inzwischen schon alles über sie – beziehungsweise über ihr vorheriges Leben? Sie selbst konnte sich nur an weniges erinnern. Es gefiel ihr nicht, dass sie wahrscheinlich mehr wussten, als sie selbst. Sie betrachtete die anderen Artikel. Sie wurden von Woche zu Woche immer kleiner, doch dann kam wieder ein größerer Artikel.

Vermisste aus dem Dark River gefischt
Tragischer Unfalltod oder Selbstmord eines Liebespärchens?


Dark Town. Am Samstag, den ?? fand die Suche der seit Monaten vermissten Vanessa M. ein trauriges Ende. Nach Aussage der örtlichen Polizei fand man Vanessa M.’s verbrannte Leiche im Auto ihres Freundes Frank D., das Taucher der Polizei gestern aus dem Dark River bargen. Auch Frank D., der Fahrer des Wagens, ist wahrscheinlich in den Flammen gestorben. Die Polizei vermutet Alkohol als Unfallursache, da mehrere leere Scotchflaschen im Wagen gefunden wurden. Das Auto müsse von der Fahrbahn abgekommen, gegen ein Brückenpfeiler gestoßen und dann Feuer gefangen haben, kurz darauf sei es von der Brücke in den Dark River gestürzt, so die Aussage der Polizei zum Unfallhergang. Weder die Eltern von Vanessa M. und Frank D., noch die Polizei gaben einen Kommentar zu der Frage ab, warum Frank D. Vanessa M.’s Verschwinden vor ein paar Monaten bis zum Unfalltag gedeckt hatte, und warum sie davon nichts bemerkt hatten. Es war ihnen bekannt, dass Frank und Vanessa ein Paar gewesen waren und das Vanessa M. schon öfter von zu Hause ausgerissen war, doch bisher war sie immer nach ein paar Tagen heimgekehrt. Frank D. hatte sich wahrscheinlich trotz der Verzweiflung von Vanessa M.’s Eltern zur Loyalität gegenüber seiner Freundin verpflichtet gefühlt. Ob der Tod der Liebenden wirklich ein Unfall oder möglicherweise romantisch motivierter Selbstmord war, bleibt noch zu klären.​


Frank.

Warum hatte sie sich bisher noch nicht einmal an Frank gedacht? War das Red Eyes Einfluss zu verdanken? Hatte Red Eye ihren Tod inszeniert, damit die Polizei aufhörte, sie zu suchen? Und hatte er Frank umgebracht, den einzigen Menschen, dem im Gegensatz zu ihrer Familie tatsächlich daran gelegen gewesen war, sie zu finden? Und welches arme Mädchen hatte nun an ihrer Statt sterben müssen?? Zwei Menschen waren tot – und sie war schuld. Frank war tot. Sie riss sich zusammen, nicht zu weinen. Es war eine Sache, dass Menschen starben, weil sie trinken musste – aber es war etwas völlig anderes, wenn sie sterben mussten, um ihre, Black Pearls, Existenz zu vertuschen. Und es war etwas bedeutend anderes, wenn einer davon jemand war, denn sie geliebt hatte. Die Erinnerung sprang wie ein mit Blitz geschossenes Foto vor ihre Augen, Frank, der sie umschlungen hielt, ein letztes Mal... sie spürte seinen warmen, schlanken und doch kräftigen Körper an ihrem, roch seinen Duft, hörte sein Flüstern:
„Heute Nacht, Van, heute Nacht wird alles anders – und diesmal für immer... sei pünktlich, und nimm nur das Nötigste mit... lass dir nichts anmerken... wir schaffen das, ich liebe dich, Van, zusammen schaffen wir alles“, dann hatte er sie geküsst, sein Kuss war wie ein Versprechen gewesen, dass er niemals brechen würde... dann hatten sie sich getrennt.

Sie war auf dem Weg nach Hause einen Umweg durch kleine Seitenstrassen gelaufen, damit sie möglichst wenig Menschen über den Weg lief – und in einer der Seitenstrassen hatte Red Eye schon auf sie gewartet... Red Eye. Der sie zu dem gemacht hatte, was sie war, eine untote Serienkillerin, die die ganze Stadt und sogar den, den sie geliebt hatte, ins Unglück gestürzt hatte... Wie sie Red Eye dafür hasste! Doch sie bemühte sich, auch das zu unterdrücken, starke Gefühle könnten die Aufmerksamkeit anderer erwecken...

Sie wünschte sich ihre Gefühllosigkeit zurück, die sie unter Red Eyes Bann noch gehabt hatte. Als allein nach dem Trinken die Gefühle sie überrollt hatten - schlimm genug. Doch seit der Bann von ihr abgefallen war, fühlte sie sich komplett gespalten – die Visionen waren öfter gekommen, Gefühle kamen und gingen wie sie wollten, manchmal nur wie ein schwaches Echo von derjenigen, die sie einmal gewesen war, doch manchmal auch so intensiv, dass sie es kaum ertrug, umso stärker, je länger der letzte Trank her war. Es kostete sie große Willenskraft, trotzdem wenigstens eine Woche ohne Trank durchzuhalten. Sie hatte es länger versucht, doch mit zunehmendem Blutmangel nahm auch ihre Willenskraft ab, ihr fehlte einfach die Energie, den Hunger noch länger zu ertragen.
Sie hatte auch schon überlegt, sich einfach fangen und töten zu lassen, die Stadt wäre von der schwarzen Regenpest und ihren Folgen erlöst und die Meute zufrieden. Aber immer, wenn sie darüber nachdachte, hatte sich in ihr ein großer Widerwille geregt. Erst hatte sie es für den animalisch verstärkten Überlebenstrieb gehalten, doch inzwischen ahnte sie, dass etwas anderes dahinter steckte – etwas oder jemand wollte, dass sie als Untote weiterlebte, sie spürte, dass sie nicht den einfachen Weg gehen durfte, es hatte einen Sinn, dass es sie gab, es war ihr nur noch nicht klar, welchen. Und das trieb sie weiter, eine andere Lösung zu finden als ihren Tod – und das wiederum war vielleicht der Sinn. Sie hoffte, dass sie ihr Gefühl nicht trog, dass es nicht eine Folge des wenn auch abgeschwächten Banns oder doch nur ihr Überlebensinstinkt war.
Denn dann hatte sie grundlos so viele Leben auf dem Gewissen. Nein, sie hatte das Gefühl, dass eine Lösung zu finden nicht nur wichtig für ihr seltsames Leben und für diese Stadt war – es war wichtig für alle – Menschen wie Vampire –, dass sie einen anderen Weg fand, dessen war sie sich irgendwie sicher.

Sie fühlte sich plötzlich unruhig, es wurde Zeit, zu verschwinden. Sie betrachtete noch einmal genau die mit Hinweisen gepflasterte Wand, um sie sich gut einzuprägen, dann entschwand sie durchs Fenster und über die Dächer in die Nacht.

Wenige Sekunden später trat Nakes ein. Die Flügel seiner wulstigen Nase bebten, tief sog er die Luft durch seine geblähten Nasenlöcher ein. Er sprang zum Fenster, riss es auf und ließ einen langen Blick über die Dächer schweifen. Dann schloss er es wieder und kramte unter dem Bett herum, schließlich fand er, was er suchte. Er zog den kleinen roten Kinderkoffer unter dem Bett hervor und öffnete ihn. Seine große haarige Hand griff sich den kleinen Stoffpanther, er drückte seine Nase tief hinein und schnüffelte konzentriert. Mit einem hässlichen Grinsen ließ er ihn wieder in den Koffer fallen, dann verschloss er den Koffer wieder und schob ihn unter das Bett zurück. Er trat an die bepinnte Wand heran und betrachtete Vanessas Foto.

„Dummes Mädchen“, murmelte er, „dummes kleines Mädchen.“

Dann grub er tief in seiner Hosentasche herum, förderte ein paar schwarze, miteinander verklebte Drops hervor und stopfte sie sich in den Mund. Kauend und kichernd verließ er das Zimmer und klopfte bei Melloy an. Auf sein brummeliges „Herein“ trat er ein. Melloy saß mit gerunzelter Stirn auf der Bettkante und starrte in sein Notizheft.

„Wie siehts aus Chef - Brainstorm?“

„Hmmm“, machte Melloy, „ich glaub, ich muss das Gespräch erst mal sacken lassen – der Typ war ziemlich seltsam... ich glaub, ich brauch erst mal ne Dusche für’n klaren Kopf, komm am besten in einer halben Stunde wieder – und bring Whiskey mit, wenn bei dir in der Zimmerbar noch welcher ist.“

„Klar Chef, bis gleich, Chef...“

Er schloss die Tür wieder und ging in sein Zimmer zurück. Seine Nase zuckte befriedigt. Sie war auch bei Melloy im Zimmer gewesen. Er warf sich seine letzten Drops in den Rachen und sich selbst aufs Bett, von da aus starrte er etwa eine halbe Stunde – beziehungsweise bis er die Dusche nebenan schon eine Weile nicht mehr laufen hörte - auf das beklebte Papierband über dem Tisch. Dann griff er sich die noch unberührte Whiskeyflasche seiner Zimmerbar und machte sich auf den Weg zu Melloy, auch wenn er eigentlich schon alles wusste, was es zu wissen gab.

Seltsamer Kauz, der Sheriff, dachte Melloy, während er das warme Wasser auf der Haut genoss. Wären die wässrig blauen Augen des Sheriffs nicht eiskalt gewesen, hätte man ihn mit seiner rundlichen Figur, den feisten roten Backen und dem blonden Strubbelhaar für ein Riesenbaby halten können – gut, auch der mächtige, sorgfältig gezwirbelte Schnäuzer passte nicht ganz ins Bild. Und das dünne hohe Stimmchen, das aus seinem dicklippigen Mund fiepste, wirkte zum immensen Körpervolumen ebenfalls extrem konträr. Es war daher für sein Ohr ganz angenehm gewesen, dass der Sheriff anscheinend kein großer Redner war – dieses schrille Fiepsstimmchen quietschte weitaus schrecklicher in den Ohren als Nakes Gezischel.

Der Sheriff hatte ihm knapp die Ereignisse und wichtigsten Daten seit dem ersten Fall, der zur Serie gezählt wurde, zusammengefasst, Informationen, die er schon längst von Nakes bekommen hatte. Seiner Frage nach den Blut- und DNA-Proben war der Sheriff ausgewichen, erst nachdem er penetrant nachgebohrt hatte, versicherte der Sheriff, er würde sie nachreichen, sie seien gerade noch im Labor, um sie mit den aktuellen Daten des letzten Falls abzugleichen, wenn das erledigt sei, könne er sie sich abholen.

Melloy glaubte ihm kein Wort.

Die Augen des Sheriffs verrieten ihm nicht die Lüge - in ihnen schien sich gar nichts zu bewegen, egal, was er sagte - aber die tiefere Röte seines speckigen Babyfaces. Irgendetwas war da faul. Wieso wollte man ihm nicht die Ergebnisse der Blutproben und DNA-Analysen geben? Hatte der Sheriff vielleicht doch einen Verdächtigen, wollte diesen aber noch unter dem Deckel halten? Vielleicht, weil derjenige eine bekannte Persönlichkeit war? Er hatte schon oft erlebt, dass mit solcherlei hinter dem Berg gehalten wurde, bis man sich sicher war, dass es nicht nur Spekulation blieb – damit ja nicht zu früh die Presse davon Wind bekam und die Anwälte desjenigen genug Zeit hatten, sich eine Strategie zu überlegen, wie derjenige wieder aus dem Schlamassel rauszuhauen war – meist mit viel Geld oder einem Sündenbock an der Stelle des Schuldigen – oder beidem.

Wahrscheinlich hatte der Sheriff aber nur etwas gegen die Einmischung des FBI’s und wollte ihn da raus halten, womit er sein Ziel erreicht bzw. seinen Auftrag erfüllt hätte. Nakes hatte ihm gesagt, er sei nur nach Dark Town geschickt worden, um den Sheriff mit Fragen zu nerven, das FBI wolle das Engagement des Sheriffs dadurch ankurbeln - die örtlichen Stellen wurden meist aktiver, wenn das FBI ihnen einen Fall wegzuschnappen drohte. Von der Mordkommission hätte man auch schon lange nichts Neues mehr gehört – zudem hätte es im letzten Jahr in Dark Town auch erstaunlich viele Selbstmorde gegeben. Auch diesem Phänomen sollte er auf den Grund zu gehen.
Es ärgerte ihn, dass er sich das von Nakes anhören musste – sein Vorgesetzter hatte ihn mit wenigen Informationen abgespeist, als er den Fall erhalten hatte, aus Zeitmangel, da sie vor Ort an etwas Größerem dran seien, er würde alles weitere dann vor Ort erfahren. Und sein Chef wusste genau, dass er viel lieber zu dieser Sache mit hinzugezogen worden wäre, anstatt in irgendeinem düsteren Kaff einen Sheriff zu peitschen einen eventuellen Serienkiller zu jagen und irgendwelchen Selbstmorden nachzuspüren, die wahrscheinlich größtenteils auf die deprimierende Atmosphäre in Dark Town zurückzuführen sein würden...

Nun, er musste zugeben, dass ihn der Fall inzwischen mehr interessierte, normalerweise langweilten ihn Serienkiller – aber dieser hier schien vielversprechend zu sein und er hatte so das Gefühl, dass sich da tatsächlich etwas Spannendes zu entwickeln begann – zumindest, seit er die Visitenkarte auf seinem Nachttisch entdeckt hatte. Wer auch immer Anne Sinclair war, sie musste mit dem Fall zu tun haben. Seit langem hatte ihn nicht mehr der Kitzel der Gefahr angestachelt, und nun schien er ihm kräftig in den Hintern zu beißen – hoffentlich sah die Frau, die er treffen sollte, heiß und gefährlich aus. Seit langem fühlte er sich endlich wieder einmal hellwach.

Er stieg aus der Dusche, trocknete sich ab und versuchte sich dabei Anne Sinclair etwas genauer vorzustellen -
Ein lauter, schriller Angstschrei riss ihn aus seinen Gedanken, und als er herum fuhr, stürzte ein Schatten an seinem Fenster vorbei. Er warf sich hastig in seinen Mantel, knöpfte ihn flink zu, schnappte sich seine Waffe und stürzte aus dem Zimmer, wobei er fast mit Nakes zusammen stieß.

„Was ist hier los??“

„Chef, Chchef – ein Mädchen, sie ist gesprungen“, stammelte Nakes atemlos, „vom Dach – da war dies verängssstigte Zimmermädchen – sie hat mich abgefangen... sie hat mich aufs Dach geschickt, doch es war schon zu spät...“

„Ruf nen Krankenwagen – und den Sheriff...“

„Da kümmert sich schon das Mädchen drum – hoff ich...“

„Okay, okay, komm mit!“

Sie stürzten zum Aufzug und drückten auf den Knöpfen herum, da er zu lange auf sich warten ließ, rannten sie die Treppe hinunter.
Als sie unten ankamen und aus der Tür traten, hörten sie schon die Sirenen, der Hotelpage stand blass über das verkrümmt da liegende Mädchen gebeugt und hielt ihr ein Silbertablett vor den Mund, mit der anderen Hand fühlte er ihren Puls - er fuhr herum, als er Schritte hinter sich hörte.

„Können – können Sie erste Hilfe? Sie – sie ist tot, glaub ich – sie atmet nicht – kein Puls“, stotterte er mit vor Schreck starren Augen.

Melloy betrachtete die Blutlache, die sich um ihren Kopf herum ausbreitete.
Nakes packte den Jungen beim Arm und schliff ihn ins Hotel.

„Komm Junge, du kannst hier nichtsss mehr tun. Wir kümmern uns drum... und der Krankenwagen is sicher auch gleich da...“

Melloy fummelte einen Handschuh aus seiner Manteltasche und zog ihn über, dann durchsuchte er ihre Taschen. Er fand ihre Geldbörse und klappte sie auf.

Anne Sinclair, las er auf ihrem Ausweis, 19 Jahre alt. Er starrte verwirrt auf sie hinab. Das konnte doch nicht... Er zog die Visitenkarte heraus.
Da stand es in schön geschwungener Schrift.

Anne Sinclair. Darunter: Black Celebration, Dark Town Avenue 236, Mitternacht.

Er schüttelte traurig den Kopf. So ein junges Mädchen... Was hatte sie ihm sagen wollen? Der Fall wurde immer verrückter – und interessanter... schnell notierte er ihre Adresse und schob die Geldbörse in ihre Hosentasche zurück.

Der Krankenwagen bog um die Ecke. Er sprach kurz mit den Sanitätern, dann ging er ins Hotel zurück. Am Thresen stammelte die Rezeptionistin aufgeregt ins Telefon, sicher informierte sie gerade den Hoteldirektor. Seltsamerweise standen keine Schaulustigen in der Eingangshalle. Er warf einen Blick zurück. Die Sanitäter deckten gerade ein Tuch über die Leiche, ansonsten blieb die Straße menschenleer. Gut, es war später Abend, aber ein Tatort ohne auch nur eine vorbeikommende Person, die neugierig stehen blieb, irritierte ihn irgendwie.
Nakes kam auf ihn zu.

„Wo ist das Zimmermädchen?“ fragte er ihn.

„Keine Ahnung, Chef... hab sie schon gesssucht – aber sie ist weg...“

„Weißt du schon irgendetwas über sie?“

„Falscher Name – die Rezeptionistin kannte sie nich – niemand, der auf ihrer Beschreibung passen könnte, arbeitet hier.“

Er zog überrascht die Augenbrauen hoch.
„Ein verdächtiges Zimmermädchen also... mach von ihr ne Zeichnung -“

„Schon erledigt, Chef...“, er kramte in seinen Taschen herum und zog einen schon etwas zerknitterten Bogen Papier hervor.

Melloy betrachtete das schmale Gesicht mit den herrischen dunklen Augen und den schön geschwungenen Lippen, ein melancholischen Zug lag um ihre Mundwinkel, langes schwarzes Haar ließ ihr blasses Antlitz noch bleicher erscheinen. Nakes hat auch ihr Zimmermädchendress mitgezeichnet, auf dem Schild an der Tasche ihrer weißen Bluse las er: Anne Sinclair.

Anne Sinclair??
Nun begriff er gar nichts mehr.

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