Mrs. Sorgenvoll
Mitglied
Nicht nur mein Alltag dreht sich um das Kontrollieren meiner Herd-Backofen-Kombination und die Beobachtung der Polizei, sondern auch das Arbeiten mit Berta ist jedes Mal ein echtes Abenteuer. Dabei identifiziert sie "bekannte" Ängste, hat aber die Macht, diese so aufzubauschen, dass sie sich eigentlich schon in neue Ängste verwandeln. Oder sie bemerkt wirklich neue Ängste. Hätte Forrest Gump eine Angststörung gehabt, hätte er seinen weltberühmten Satz wahrscheinlich geändert in: "Das Leben ist wie eine Pralinenschachtel – du weißt nie, welche Angstpraline du bekommst."
Eine essenzielle Sorge von Berta ist die ewige Angst davor, eine Vollkatastrophe auszulösen und im allerschlimmsten Fall – bezogen auf die Arbeit – dafür verantwortlich zu sein, dass ein Patient stirbt. Was jetzt in einem einzigen Satz steht, ist in meinem Kopf eine riesige (wirre) Gedankenkette mit tausend "Was wäre, wenn…?"-Fragen, sehr vielen Formulierungen im Konjunktiv II und einer übersteigerten Verantwortlichkeit für das Handeln anderer. Auch hier möchte ich Sie nicht enttäuschen, deshalb versuche ich, einen beispielhaften Frühdienst zu schildern. Sagen wir, es ist Montag (mein Lieblingstag). Lehnen Sie sich also zurück und genießen Sie einen typischen Frühdienst – so harmonisch, wie er nicht einmal annähernd in irgendeiner Arztserie der öffentlich-rechtlichen Sender dargestellt wurde. Film ab:
Bei der Übergabe im Dienstzimmer schreibe ich mir zu jedem Patienten die wichtigsten Infos vom Nachtdienst mit (bis hierhin normal), markiere mir wichtige Hinweise wie Allergien oder Unverträglichkeiten bei den Patienten in meinem Bereich (bis hierhin auch noch sehr normal) – und dann geht es los. Erst einmal die vorbereiteten Medikamente auf den Pflegewagen stellen. Hier wird es schon etwas herausfordernder: Medikamente werden nach dem Vier-Augen-Prinzip gerichtet. Das bedeutet, der Spätdienst stellt sie bereit, der Nachtdienst kontrolliert, und ich im Frühdienst verteile sie. Die jeweiligen Kollegen unterschreiben für ihre Schritte, und eigentlich wäre es meine Aufgabe, den Medikamentenblister von Frau X auch an Frau X zu übergeben.
Ich möchte kurz einhaken: Die Medikamente werden in einer meist blauen Plastikschachtel mit vier Fächern an die Patienten verteilt, es steht der Name, die sogenannte Patientenidentifikationsnummer sowie das Geburtsdatum von jedem Patienten drauf. In der Theorie ist das super einfach – ich kann den Blister nehmen, noch einmal kurz die Medikamente mit der Anordnung abgleichen und mir denken: Kollege Y aus dem Spätdienst hat unterschrieben, dass er gerichtet hat, Kollegin X aus dem Nachtdienst hat kontrolliert, und ich verteile sie nur noch. Selbst wenn ein Fehler passiert sein sollte (Betonung auf "sollte"), bin ich nicht allein schuld – und man wird auch nicht sofort sterben, wenn man eine falsche Tablette nimmt. Überhaupt: Wer sagt, dass überhaupt ein Fehler passiert ist? Krankenhäuser funktionieren nicht nach dem Zufallsprinzip, und gerade bei Medikamenten gibt es klare Abläufe.
Berta allerdings denkt: "Was, wenn die Kollegin im Nachtdienst total übermüdet war und einfach abgezeichnet hat, ohne wirklich zu kontrollieren? Was, wenn sich die Medikation kurzfristig geändert hat und diese eine Tablette immer noch im Blister ist? Was, wenn das der völlig falsche Blister für diese Patientin ist? Wie viele Jahre Freiheitsstrafe bekommt man eigentlich für Fahrlässigkeit beim Medikamentenverteilen?"
Und jetzt muss ich Ihnen nicht weiter erklären, wie ich vor dieser armen Patientin stehe, die nicht nur im Krankenhaus liegt, sondern auch noch eine Pflegekraft erwischt hat, die unter Zwängen und Ängsten leidet und es nicht schafft, ihr den Blister einfach zu übergeben. Frau Sauer würde ruhig bleiben und vielleicht erkennen, dass in dieser Tätigkeit eine der häufigsten Fehlerquellen liegt und sich vielleicht nochmal den Namen der Patienten zum Datenabgleich geben lassen. Ich bin aber alleine mit Berta also kontrolliere ich bei jedem Patienten vor dem Austeilen noch einmal die Medikamente im Blister mit der ärztlichen Anordnung. Was für Patienten als "Sie sind ja wirklich sehr gewissenhaft" gilt, setzt mich unter enormen Zeitdruck, denn diese Art der Kontrolle ist im normalen Frühdienstablauf nicht vorgesehen. Jeder Dienst hat nämlich ein klares Tätigkeitsprofil, was ja auch Sinn ergibt – sonst würde alles drunter und drüber gehen. Wo Frau Sauer einfach rational denken und sich sagen würde, dass alles passt, es keinen Grund zur Panik gibt und man jetzt einfach diesen verdammten Blister übergibt, kontrolliere ich "gschwind" die Medikamente, bevor ich es endlich tue.
Nach dem ersten Verteilen der Medikamente geht es an die Körperpflege. Manche Patienten schaffen es alleine ins Bad, andere benötigen Unterstützung bei der Mobilisation, wieder andere müssen im Bett gewaschen werden. "Was genau kann hier Panik verursachen?" werden Sie jetzt noch naiv denken. Die Waschlotion! Ich kontrolliere tausendmal, ob es wirklich Waschlotion ist, die ich gerade ins Wasser gebe, oder ob es nicht doch – ausgelöst durch einen dummen Zufall – irgendein anderes Mittel ist. Auch hier unterstützt Berta, die offensichtlich sehr gerne Bild-Zeitung liest: "Was, wenn das gerade keine Waschlotion ist und der Patient deinetwegen einen fetten Hautausschlag bekommt? Dann steht morgen überall in der Zeitung: 'Pflegerin wäscht Patienten – dieser stirbt!' Ist in Deutschland gar kein Verlass mehr auf unsere Helden?"
Wenn ich mir den letzten Satz so durchlese, sollte Berta eigentlich einen Job in der Boulevardpresse annehmen. Ich muss nicht erwähnen, dass Frau Sauer nicht anwesend ist, um mir zu sagen, dass es wirklich absolut sicher Waschlotion ist.
Der Dienst ist noch lange nicht zu Ende, aber dieses Kapitel hätte tausend Seiten, wenn ich jetzt auf alle Ängste eingehen würde. Deshalb belasse ich es bei den genannten. Und jetzt überlegen Sie mal, was in meinem Kopf los ist, wenn am nächsten Tag doch ein Patient einen Hautausschlag hat oder auf ein verabreichtes Medikament allergisch reagiert.
Panikmodus aktiviert!
Frau Sauer würde jetzt ruhig sagen, dass es immer sein kann, dass neue Allergien entstehen. Sie wüsste auch, dass Patienten im Krankenhaus meist mehr Medikamente bekommen als zu Hause, die gerade in der Anfangszeit Wechselwirkungen verursachen können. Das ist unschön, aber ein normales Risiko. Außerdem ist der Patient nicht verstorben – und gegen Hautausschlag hilft Cortison.
Berta sieht das natürlich anders. Und so esse ich tagelang nichts, weil ich auch weit nach Feierabend mit Berta im Dialog bin. Nicht so gemütlich wie unter zwei Freundinnen bei einem Glas Wein, sondern eher wie ein Staatsanwalt, der mich zwingt, die Situation immer wieder durchzugehen: "Hast du wirklich das richtige Medikament gegeben? Vielleicht ist im Krankenhaus schon die Polizei und verhaftet dich morgen? Warum hast du nicht besser aufgepasst? Ich wusste, dass es das falsche Medikament war!"
Dieser Zustand hält dann ein paar Tage an, bis Berta mir irgendwann eine neue Angst präsentiert. Aber das ist wirklich eine Geschichte für ein anderes Kapitel…
Eine essenzielle Sorge von Berta ist die ewige Angst davor, eine Vollkatastrophe auszulösen und im allerschlimmsten Fall – bezogen auf die Arbeit – dafür verantwortlich zu sein, dass ein Patient stirbt. Was jetzt in einem einzigen Satz steht, ist in meinem Kopf eine riesige (wirre) Gedankenkette mit tausend "Was wäre, wenn…?"-Fragen, sehr vielen Formulierungen im Konjunktiv II und einer übersteigerten Verantwortlichkeit für das Handeln anderer. Auch hier möchte ich Sie nicht enttäuschen, deshalb versuche ich, einen beispielhaften Frühdienst zu schildern. Sagen wir, es ist Montag (mein Lieblingstag). Lehnen Sie sich also zurück und genießen Sie einen typischen Frühdienst – so harmonisch, wie er nicht einmal annähernd in irgendeiner Arztserie der öffentlich-rechtlichen Sender dargestellt wurde. Film ab:
Bei der Übergabe im Dienstzimmer schreibe ich mir zu jedem Patienten die wichtigsten Infos vom Nachtdienst mit (bis hierhin normal), markiere mir wichtige Hinweise wie Allergien oder Unverträglichkeiten bei den Patienten in meinem Bereich (bis hierhin auch noch sehr normal) – und dann geht es los. Erst einmal die vorbereiteten Medikamente auf den Pflegewagen stellen. Hier wird es schon etwas herausfordernder: Medikamente werden nach dem Vier-Augen-Prinzip gerichtet. Das bedeutet, der Spätdienst stellt sie bereit, der Nachtdienst kontrolliert, und ich im Frühdienst verteile sie. Die jeweiligen Kollegen unterschreiben für ihre Schritte, und eigentlich wäre es meine Aufgabe, den Medikamentenblister von Frau X auch an Frau X zu übergeben.
Ich möchte kurz einhaken: Die Medikamente werden in einer meist blauen Plastikschachtel mit vier Fächern an die Patienten verteilt, es steht der Name, die sogenannte Patientenidentifikationsnummer sowie das Geburtsdatum von jedem Patienten drauf. In der Theorie ist das super einfach – ich kann den Blister nehmen, noch einmal kurz die Medikamente mit der Anordnung abgleichen und mir denken: Kollege Y aus dem Spätdienst hat unterschrieben, dass er gerichtet hat, Kollegin X aus dem Nachtdienst hat kontrolliert, und ich verteile sie nur noch. Selbst wenn ein Fehler passiert sein sollte (Betonung auf "sollte"), bin ich nicht allein schuld – und man wird auch nicht sofort sterben, wenn man eine falsche Tablette nimmt. Überhaupt: Wer sagt, dass überhaupt ein Fehler passiert ist? Krankenhäuser funktionieren nicht nach dem Zufallsprinzip, und gerade bei Medikamenten gibt es klare Abläufe.
Berta allerdings denkt: "Was, wenn die Kollegin im Nachtdienst total übermüdet war und einfach abgezeichnet hat, ohne wirklich zu kontrollieren? Was, wenn sich die Medikation kurzfristig geändert hat und diese eine Tablette immer noch im Blister ist? Was, wenn das der völlig falsche Blister für diese Patientin ist? Wie viele Jahre Freiheitsstrafe bekommt man eigentlich für Fahrlässigkeit beim Medikamentenverteilen?"
Und jetzt muss ich Ihnen nicht weiter erklären, wie ich vor dieser armen Patientin stehe, die nicht nur im Krankenhaus liegt, sondern auch noch eine Pflegekraft erwischt hat, die unter Zwängen und Ängsten leidet und es nicht schafft, ihr den Blister einfach zu übergeben. Frau Sauer würde ruhig bleiben und vielleicht erkennen, dass in dieser Tätigkeit eine der häufigsten Fehlerquellen liegt und sich vielleicht nochmal den Namen der Patienten zum Datenabgleich geben lassen. Ich bin aber alleine mit Berta also kontrolliere ich bei jedem Patienten vor dem Austeilen noch einmal die Medikamente im Blister mit der ärztlichen Anordnung. Was für Patienten als "Sie sind ja wirklich sehr gewissenhaft" gilt, setzt mich unter enormen Zeitdruck, denn diese Art der Kontrolle ist im normalen Frühdienstablauf nicht vorgesehen. Jeder Dienst hat nämlich ein klares Tätigkeitsprofil, was ja auch Sinn ergibt – sonst würde alles drunter und drüber gehen. Wo Frau Sauer einfach rational denken und sich sagen würde, dass alles passt, es keinen Grund zur Panik gibt und man jetzt einfach diesen verdammten Blister übergibt, kontrolliere ich "gschwind" die Medikamente, bevor ich es endlich tue.
Nach dem ersten Verteilen der Medikamente geht es an die Körperpflege. Manche Patienten schaffen es alleine ins Bad, andere benötigen Unterstützung bei der Mobilisation, wieder andere müssen im Bett gewaschen werden. "Was genau kann hier Panik verursachen?" werden Sie jetzt noch naiv denken. Die Waschlotion! Ich kontrolliere tausendmal, ob es wirklich Waschlotion ist, die ich gerade ins Wasser gebe, oder ob es nicht doch – ausgelöst durch einen dummen Zufall – irgendein anderes Mittel ist. Auch hier unterstützt Berta, die offensichtlich sehr gerne Bild-Zeitung liest: "Was, wenn das gerade keine Waschlotion ist und der Patient deinetwegen einen fetten Hautausschlag bekommt? Dann steht morgen überall in der Zeitung: 'Pflegerin wäscht Patienten – dieser stirbt!' Ist in Deutschland gar kein Verlass mehr auf unsere Helden?"
Wenn ich mir den letzten Satz so durchlese, sollte Berta eigentlich einen Job in der Boulevardpresse annehmen. Ich muss nicht erwähnen, dass Frau Sauer nicht anwesend ist, um mir zu sagen, dass es wirklich absolut sicher Waschlotion ist.
Der Dienst ist noch lange nicht zu Ende, aber dieses Kapitel hätte tausend Seiten, wenn ich jetzt auf alle Ängste eingehen würde. Deshalb belasse ich es bei den genannten. Und jetzt überlegen Sie mal, was in meinem Kopf los ist, wenn am nächsten Tag doch ein Patient einen Hautausschlag hat oder auf ein verabreichtes Medikament allergisch reagiert.
Panikmodus aktiviert!
Frau Sauer würde jetzt ruhig sagen, dass es immer sein kann, dass neue Allergien entstehen. Sie wüsste auch, dass Patienten im Krankenhaus meist mehr Medikamente bekommen als zu Hause, die gerade in der Anfangszeit Wechselwirkungen verursachen können. Das ist unschön, aber ein normales Risiko. Außerdem ist der Patient nicht verstorben – und gegen Hautausschlag hilft Cortison.
Berta sieht das natürlich anders. Und so esse ich tagelang nichts, weil ich auch weit nach Feierabend mit Berta im Dialog bin. Nicht so gemütlich wie unter zwei Freundinnen bei einem Glas Wein, sondern eher wie ein Staatsanwalt, der mich zwingt, die Situation immer wieder durchzugehen: "Hast du wirklich das richtige Medikament gegeben? Vielleicht ist im Krankenhaus schon die Polizei und verhaftet dich morgen? Warum hast du nicht besser aufgepasst? Ich wusste, dass es das falsche Medikament war!"
Dieser Zustand hält dann ein paar Tage an, bis Berta mir irgendwann eine neue Angst präsentiert. Aber das ist wirklich eine Geschichte für ein anderes Kapitel…