Der Feldherr wird seinem Schicksal nicht entfliehen.
Er wird sich ihm stellen in der letzten Schlacht.
(Buch der Prophezeiung)
Als Jolene erwachte, sah sie direkt vor sich ein schmutziges, bärtiges Gesicht. Sie fuhr hoch und versuchte zurückzuweichen, erkannte aber, dass sie mit dem Rücken an einem Baumstamm lehnte. Baumstamm?... Sie verfolgte den verwirrenden Gedanken nicht weiter.
„Fass mich nicht an, du verdammter Penner!“, fuhr sie den Fremden an, der sich erschrocken aus seiner knienden Haltung aufrichtete. Er war recht groß und breitschultrig, trug Kleidung von undefinierbarer Art und Farbe. Jolene stellte fest, dass sie selbst noch immer ihr kleines Pelzjäckchen, die engen Jeans und die Stiefel mit den hohen Absätzen trug.
„Wer ... oder was ... bist du?“, fragte der Mann verstört.
„Hast du mich hierher gebracht?“, erkundigte sich Jolene, ohne auf seine Frage einzugehen. In ihr kämpften Zorn, Angst und Verunsicherung um die Vorherrschaft.
„Nein, du hast hier gelegen und ich habe dich gefunden.“
Jolene schaute sich um. Wald ... soweit sie sehen konnte.
„Der Central-Park“, murmelte sie. „Jemand muss mich in den Central-Park gebracht haben.“ Sie richtete sich auf. Ihr Kopf dröhnte, als hätte sie das Dreckzeug angenommen, das Harmon ihr angeboten hatte. Wie lange war das her? Außerdem ... war es warm! Eben noch hatte ihr der schneidend kalte Wind und der Regen zugesetzt ... und jetzt ... Wärme!?
„Hast du die Uhrzeit?“, erkundigte sie sich bei dem Mann, der wohl sein Lager im Park hatte. Viel Hoffnung hatte sie nicht, dass er ihre Frage würde beantworten können. Woher sollte ein Penner eine Uhr haben.
„Was ist ... eine Uhrzeit?“, fragte der Mann.
„Das ist ja noch schlimmer als ich dachte“, murmelte Jolene. „Welcher Tag ist heute?“, wandte sie sich dann wieder an den Fremden.
„Was meinst du mit ... welcher Tag?“ Jolene zweifelte langsam daran, dass sie überhaupt etwas Vernünftiges aus ihm heraus bekommen würde. Sie verdrehte die Augen.
„Na, der letzte Tag, an den ich mich erinnere, war der siebte November. Welcher Tag ist heute? Vielleicht der achte oder schon der neunte?“ Sie schaute ihn durchdringend an. Der Mann schien verwirrt.
„Ich weiß nicht, wovon du redest. Vor etwa zehn Tagen war der Erntedanktag in Torfing. Das ist immer der letzte Tag im dritten Jahresviertel. Genauer weiß ich es nicht.“
Jetzt war es an Jolene, verwirrt auszusehen.
„Wovon redest du da? Torfing?“ Sie schüttelte den Kopf.
„Kennst du Torfing nicht? Die Stadt liegt fünfzehn Meilen von hier an der großen Handelsstraße nach Windenhalt.“
Jolene lehnte sich an den Baum und versuchte sich zu sammeln. Sie schaute sich intensiver um. Was sie sah, trug nicht dazu bei, ihre Verwirrung zu mindern. Im Gegenteil. Es war nicht nur sehr warm für einen Novembertag. Nein! Die Natur um sie herum sah aus wie im Frühling. Die Bäume trugen frisches Grün, überall standen blühende Blumen. Jolene war ein Großstadtkind und hatte von Pflanzen wenig Ahnung. Trotzdem schien es ihr, dass die Flora, die sie umgab, recht fremdartig war. Die Äußerungen des fremden Mannes und ihre eigenen Beobachtungen ließen nur einen logischen Schluss zu: Sie befand sich nicht mehr in New York!
„Toto, ich glaube, wir befinden uns nicht mehr in Kansas“, murmelte sie. Dann riss sie sich zusammen. „Wie ist dein Name?“, erkundigte sie sich. Sie hatte gelernt, sich schnell mit neuen Situationen abzufinden und das Beste daraus zu machen.
„Rafag“, stellte sich der Fremde vor.
„Ich bin Jolene.“ Sie schaute Rafag fragend an. „Was machst du hier im Wald, Rafag?“
„Wir haben unser Lager in der Nähe“, erklärte er und deutete mit dem Daumen nach hinten. „Ich war zur Jagd unterwegs.“ Erst jetzt sah Jolene, dass er einen Bogen über der Schulter und einen Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken trug. An seiner Seite hing zudem ein kurzes Schwert.
‚Das ist garantiert nicht New York’, dachte Jolene.
„Wer ist wir?“, fragte sie weiter.
„Wir sind eine Gruppe von ... Männern ... die hier im Wald leben. Unser Anführer ist Elden.“ Er schaute Jolene an, als müsse sie diesen Namen schon einmal gehört haben.
„Kannst du mich zu diesem ... Elden bringen?“, wollte Jolene wissen.
Rafag schien zu überlegen.
„Bist du eine Zauberin?“, fragte er nach einer Weile.
Jolene lachte.
„So mancher Mann hat das zwar behauptet, aber ... nein, das bin ich sicher nicht!“
Rafag nickte.
„Das ist gut!“, konstatierte er. „Aber“, er zögerte. „woher kommst du? Ich habe noch nie einen Menschen mit deiner Hautfarbe gesehen. Du gebrauchst merkwürdige Worte und stellst seltsame Fragen.“ Er schaute sie an wie ein Fabelwesen.
„Eine gute Frage“, gab Jolene zu. „Ich kann dir das noch nicht erklären. Dafür weiß ich noch zu wenig. Ich weiß noch nicht einmal, wo ich hier bin.“
„Unser Land heißt Trimandar“, erklärte Rafag. „Und dieser Wald wird überall nur der Alte Wald genannt.“
„Dann lass uns zu Elden gehen“, forderte Jolene ihn auf.
Rafag nickte. Er hatte offenbar ein einfaches Gemüt, aber Jolene mochte ihn.
„Folge mir. Ich denke, ich kann dir trauen.“
Er wandte sich um und ging davon ohne sich umzudrehen. Jolene beeilte sich, ihm zu folgen. Sie marschierten etwa fünfzehn Minuten durch dichtes, wegloses Gestrüpp, bevor sie eine kleine Lichtung erreichten. Einige kleine, notdürftig errichtete Hütten lehnten sich an den Rand des Waldes, als versuchten sie, dadurch ihren Einsturz zu vermeiden. Zwischen den Hütten bewegte sich eine Reihe von Männern und auch einige wenige Frauen, die innehielten, als sie Rafags Ankunft bemerkten – und vor allem die Ankunft der merkwürdigen Fremden, die er mitbrachte.
Ein beinahe zwei Meter großer Mann kam auf die Ankömmlinge zu und blieb vor Rafag stehen. Er war schlank, hatte aber breite Schultern und ein ebenmäßiges, bartloses Gesicht. Sein dunkelbraunes, glattes Haar reichte bis in den Nacken. Auf der rechten Wange prangte die Narbe einer unzureichend behandelten Wunde, was seinem guten Aussehen aber keinen Abbruch tat, fand Jolene. Er trug ein Leinenhemd, darüber eine lederne Weste und seine langen Beine steckten in einer ebenfalls aus Leder gefertigten Hose, die scheinbar nahtlos in weiche, Mokassin ähnliche Stiefel überging. Insgesamt war er viel gepflegter, als Jolene das nach der Begegnung mit Rafag erwartet hatte. In ihm hätte man auch ohne Hinweise auf den ersten Blick den Anführer erkannt.
„Ist das deine Jagdbeute, Rafag?“, erkundigte er sich spöttisch und musterte Jolene. Rafag trat von einem Bein auf das andere.
„Nein, Elden, ich fand sie im Wald und dachte ...“
Elden unterbrach ihn.
„Du hast also gedacht“, spottete er. „Und weil du gedacht hast, haben wir nichts zu essen.“ Entgegen seiner Worte schien er nicht ernstlich böse zu sein. Offenbar bereitete es ihm Freude, den etwas langsamen Rafag auf die Schippe zu nehmen.
„Ist schon gut, ich gehe wieder auf die Jagd“, beteuerte Rafag geknickt.
„Tu das, guter Rafag, und bring uns diesmal etwas mit, an dem mehr Fleisch ist!“
Rafag trollte sich in den Wald und Elden wandte sich an Jolene.
„Nun zu dir.“ Er musterte sie erneut. „Kannst du mir erklären, was du im Alten Wald zu suchen hast? Hat man dir nicht gesagt, dass es hier gefährlich ist? Man erzählt sich sogar, hier gäbe es Räuber!“ Bei den umstehenden Männern, die zuvor ebenso wie die wenigen Frauen die Köpfe zusammengesteckt hatten, kam Gelächter auf.
„Mein Name ist Jolene“, stellte sie sich vor und versuchte, gelassen zu wirken. In Wirklichkeit war sie über die raue Gesellschaft ziemlich beunruhigt.
„Jolene, aha!“ Elden hob die Augenbrauen und ging gemessenen Schrittes um Jolene herum, wobei er sie von allen Seiten musterte. „Ein fremdartiger Name. Das ist seltsame Kleidung, die du trägst ... Jolene. Und diese Haut ...“ Er strich mit dem Handrücken über ihre Wange. Jolene schlug die Hand beiseite und schaute ihn trotzig an.
Er lächelte nur.
„Oh, die kleine Wildbramme fährt ihre Krallen aus.“ Wieder lachten die Männer.
„Würdest du mir verraten, woher du kommst, Jolene?“ Seine Stimme war zuckersüß, aber Jolene war sicher, dass eine falsche Antwort nicht ohne Konsequenzen für ihre eigene Gesundheit bleiben würde.
„New York, Vereinigte Staaten von Amerika!“ Sie schaute Elden in die tiefgründigen blaugrauen Augen.
„Nie davon gehört!“, behauptete der. Er schaute in die Runde. „Kennt von euch jemand Ju Jock ... oder diese Vereinigten Staaten von wasauchimmer?“ Gelächter und Kopfschütteln waren die Antwort.
Jolene verbiss einen Fluch.
‚Ich stecke noch tiefer in der Scheiße, als ich dachte’, schoss es ihr durch den Kopf.
„Und wie bist du hierher gekommen aus diesem ... Ju Jock?“
„New York“, verbesserte Jolene. „Ich habe keine Ahnung! Ich war in New York, wurde ohnmächtig ... und wachte hier wieder auf ... wo auch immer das sein mag.“ Sie versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen.
Elden schien nachzudenken. Dabei fiel sein Blick auf Jolenes linke Hand. Der große Mann erstarrte. Dann machte er einen langen Schritt und griff nach Jolenes Arm. Erschrocken versuchte sie, ihm den Arm zu entwinden, aber sein Griff war unerbittlich.
„Woher hast du den Ring?“, fragte er scharf und hob ihre Hand nach oben.
Jolene war verwirrt.
„Ich ... das ... ist ein Familienerbstück“, stammelte sie. „Er gehörte meinem Großvater, und ich bekam ihn, nachdem er gestorben war.“
Sie sah erschrocken, dass der Kreis der Männer enger geworden war. Alle schauten mit großen Augen ihren Ring an. Sie hatte das Erbstück nie als etwas Besonderes empfunden. Ein simpler, silberner Siegelring mit einem Halbedelstein. Das Siegel hatte immer das Familienwappen gezeigt aber Jolene stellte erstaunt fest, dass dort jetzt ein Wolfskopf abgebildet war.
„Wie lange ist der Ring in Eurer Familie?“, erkundigte sich Elden. Jolene bemerkte erstaunt den Wechsel in der Anrede.
„Mein Großvater erzählte immer, der Ring sei sehr alt. Seine Urahnen hätten ihn schon aus der Alten Welt mitgebracht, als sie einwanderten.“ Sie zuckte die Schultern um anzudeuten, dass sie nichts Genaues wusste.
Elden nickte nachdenklich. Dann ließ er ihren Arm los. Jolene rieb sich das schmerzende Handgelenk.
„Wir bitten Euch um Verzeihung, Herrin!“ Zu Ihrer Überraschung verbeugten sich die Männer vor ihr. „Wir sind einfache Menschen und haben nicht sofort erkannt, mit wem wir es zu tun haben.“ Er bot ihr den Arm und führte sie in Richtung des Feuers, während seine Männer beinahe ehrfürchtiges Geleit boten.
Jolene war vollkommen verblüfft.
„Entschuldige“, wandte sie sich an Elden. „Was hat das alles zu bedeuten?“
„Bitte, nehmt Platz!“ Elden deutete auf einen quer liegenden Baumstamm, den man an der Oberseite abgeflacht und so zu einer Art Bank gemacht hatte. Jolene setzte sich. Die Männer machten es sich rundum am Boden bequem, starrten die exotische Frau aber weiterhin mit großen Augen an.
„Ihr wisst nicht, was der Ring bedeutet?“, erkundigte sich Elden.
Jolene verneinte.
„Dann lasst mich euch die Legende vom Alten Geschlecht erzählen.“ Und Jolene hörte die gleiche Geschichte, die ein Mann namens Wedekind Braun fast zur gleichen Zeit aus dem Mund eines Zauberers namens Harbon zu hören bekam...
Er wird sich ihm stellen in der letzten Schlacht.
(Buch der Prophezeiung)
Als Jolene erwachte, sah sie direkt vor sich ein schmutziges, bärtiges Gesicht. Sie fuhr hoch und versuchte zurückzuweichen, erkannte aber, dass sie mit dem Rücken an einem Baumstamm lehnte. Baumstamm?... Sie verfolgte den verwirrenden Gedanken nicht weiter.
„Fass mich nicht an, du verdammter Penner!“, fuhr sie den Fremden an, der sich erschrocken aus seiner knienden Haltung aufrichtete. Er war recht groß und breitschultrig, trug Kleidung von undefinierbarer Art und Farbe. Jolene stellte fest, dass sie selbst noch immer ihr kleines Pelzjäckchen, die engen Jeans und die Stiefel mit den hohen Absätzen trug.
„Wer ... oder was ... bist du?“, fragte der Mann verstört.
„Hast du mich hierher gebracht?“, erkundigte sich Jolene, ohne auf seine Frage einzugehen. In ihr kämpften Zorn, Angst und Verunsicherung um die Vorherrschaft.
„Nein, du hast hier gelegen und ich habe dich gefunden.“
Jolene schaute sich um. Wald ... soweit sie sehen konnte.
„Der Central-Park“, murmelte sie. „Jemand muss mich in den Central-Park gebracht haben.“ Sie richtete sich auf. Ihr Kopf dröhnte, als hätte sie das Dreckzeug angenommen, das Harmon ihr angeboten hatte. Wie lange war das her? Außerdem ... war es warm! Eben noch hatte ihr der schneidend kalte Wind und der Regen zugesetzt ... und jetzt ... Wärme!?
„Hast du die Uhrzeit?“, erkundigte sie sich bei dem Mann, der wohl sein Lager im Park hatte. Viel Hoffnung hatte sie nicht, dass er ihre Frage würde beantworten können. Woher sollte ein Penner eine Uhr haben.
„Was ist ... eine Uhrzeit?“, fragte der Mann.
„Das ist ja noch schlimmer als ich dachte“, murmelte Jolene. „Welcher Tag ist heute?“, wandte sie sich dann wieder an den Fremden.
„Was meinst du mit ... welcher Tag?“ Jolene zweifelte langsam daran, dass sie überhaupt etwas Vernünftiges aus ihm heraus bekommen würde. Sie verdrehte die Augen.
„Na, der letzte Tag, an den ich mich erinnere, war der siebte November. Welcher Tag ist heute? Vielleicht der achte oder schon der neunte?“ Sie schaute ihn durchdringend an. Der Mann schien verwirrt.
„Ich weiß nicht, wovon du redest. Vor etwa zehn Tagen war der Erntedanktag in Torfing. Das ist immer der letzte Tag im dritten Jahresviertel. Genauer weiß ich es nicht.“
Jetzt war es an Jolene, verwirrt auszusehen.
„Wovon redest du da? Torfing?“ Sie schüttelte den Kopf.
„Kennst du Torfing nicht? Die Stadt liegt fünfzehn Meilen von hier an der großen Handelsstraße nach Windenhalt.“
Jolene lehnte sich an den Baum und versuchte sich zu sammeln. Sie schaute sich intensiver um. Was sie sah, trug nicht dazu bei, ihre Verwirrung zu mindern. Im Gegenteil. Es war nicht nur sehr warm für einen Novembertag. Nein! Die Natur um sie herum sah aus wie im Frühling. Die Bäume trugen frisches Grün, überall standen blühende Blumen. Jolene war ein Großstadtkind und hatte von Pflanzen wenig Ahnung. Trotzdem schien es ihr, dass die Flora, die sie umgab, recht fremdartig war. Die Äußerungen des fremden Mannes und ihre eigenen Beobachtungen ließen nur einen logischen Schluss zu: Sie befand sich nicht mehr in New York!
„Toto, ich glaube, wir befinden uns nicht mehr in Kansas“, murmelte sie. Dann riss sie sich zusammen. „Wie ist dein Name?“, erkundigte sie sich. Sie hatte gelernt, sich schnell mit neuen Situationen abzufinden und das Beste daraus zu machen.
„Rafag“, stellte sich der Fremde vor.
„Ich bin Jolene.“ Sie schaute Rafag fragend an. „Was machst du hier im Wald, Rafag?“
„Wir haben unser Lager in der Nähe“, erklärte er und deutete mit dem Daumen nach hinten. „Ich war zur Jagd unterwegs.“ Erst jetzt sah Jolene, dass er einen Bogen über der Schulter und einen Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken trug. An seiner Seite hing zudem ein kurzes Schwert.
‚Das ist garantiert nicht New York’, dachte Jolene.
„Wer ist wir?“, fragte sie weiter.
„Wir sind eine Gruppe von ... Männern ... die hier im Wald leben. Unser Anführer ist Elden.“ Er schaute Jolene an, als müsse sie diesen Namen schon einmal gehört haben.
„Kannst du mich zu diesem ... Elden bringen?“, wollte Jolene wissen.
Rafag schien zu überlegen.
„Bist du eine Zauberin?“, fragte er nach einer Weile.
Jolene lachte.
„So mancher Mann hat das zwar behauptet, aber ... nein, das bin ich sicher nicht!“
Rafag nickte.
„Das ist gut!“, konstatierte er. „Aber“, er zögerte. „woher kommst du? Ich habe noch nie einen Menschen mit deiner Hautfarbe gesehen. Du gebrauchst merkwürdige Worte und stellst seltsame Fragen.“ Er schaute sie an wie ein Fabelwesen.
„Eine gute Frage“, gab Jolene zu. „Ich kann dir das noch nicht erklären. Dafür weiß ich noch zu wenig. Ich weiß noch nicht einmal, wo ich hier bin.“
„Unser Land heißt Trimandar“, erklärte Rafag. „Und dieser Wald wird überall nur der Alte Wald genannt.“
„Dann lass uns zu Elden gehen“, forderte Jolene ihn auf.
Rafag nickte. Er hatte offenbar ein einfaches Gemüt, aber Jolene mochte ihn.
„Folge mir. Ich denke, ich kann dir trauen.“
Er wandte sich um und ging davon ohne sich umzudrehen. Jolene beeilte sich, ihm zu folgen. Sie marschierten etwa fünfzehn Minuten durch dichtes, wegloses Gestrüpp, bevor sie eine kleine Lichtung erreichten. Einige kleine, notdürftig errichtete Hütten lehnten sich an den Rand des Waldes, als versuchten sie, dadurch ihren Einsturz zu vermeiden. Zwischen den Hütten bewegte sich eine Reihe von Männern und auch einige wenige Frauen, die innehielten, als sie Rafags Ankunft bemerkten – und vor allem die Ankunft der merkwürdigen Fremden, die er mitbrachte.
Ein beinahe zwei Meter großer Mann kam auf die Ankömmlinge zu und blieb vor Rafag stehen. Er war schlank, hatte aber breite Schultern und ein ebenmäßiges, bartloses Gesicht. Sein dunkelbraunes, glattes Haar reichte bis in den Nacken. Auf der rechten Wange prangte die Narbe einer unzureichend behandelten Wunde, was seinem guten Aussehen aber keinen Abbruch tat, fand Jolene. Er trug ein Leinenhemd, darüber eine lederne Weste und seine langen Beine steckten in einer ebenfalls aus Leder gefertigten Hose, die scheinbar nahtlos in weiche, Mokassin ähnliche Stiefel überging. Insgesamt war er viel gepflegter, als Jolene das nach der Begegnung mit Rafag erwartet hatte. In ihm hätte man auch ohne Hinweise auf den ersten Blick den Anführer erkannt.
„Ist das deine Jagdbeute, Rafag?“, erkundigte er sich spöttisch und musterte Jolene. Rafag trat von einem Bein auf das andere.
„Nein, Elden, ich fand sie im Wald und dachte ...“
Elden unterbrach ihn.
„Du hast also gedacht“, spottete er. „Und weil du gedacht hast, haben wir nichts zu essen.“ Entgegen seiner Worte schien er nicht ernstlich böse zu sein. Offenbar bereitete es ihm Freude, den etwas langsamen Rafag auf die Schippe zu nehmen.
„Ist schon gut, ich gehe wieder auf die Jagd“, beteuerte Rafag geknickt.
„Tu das, guter Rafag, und bring uns diesmal etwas mit, an dem mehr Fleisch ist!“
Rafag trollte sich in den Wald und Elden wandte sich an Jolene.
„Nun zu dir.“ Er musterte sie erneut. „Kannst du mir erklären, was du im Alten Wald zu suchen hast? Hat man dir nicht gesagt, dass es hier gefährlich ist? Man erzählt sich sogar, hier gäbe es Räuber!“ Bei den umstehenden Männern, die zuvor ebenso wie die wenigen Frauen die Köpfe zusammengesteckt hatten, kam Gelächter auf.
„Mein Name ist Jolene“, stellte sie sich vor und versuchte, gelassen zu wirken. In Wirklichkeit war sie über die raue Gesellschaft ziemlich beunruhigt.
„Jolene, aha!“ Elden hob die Augenbrauen und ging gemessenen Schrittes um Jolene herum, wobei er sie von allen Seiten musterte. „Ein fremdartiger Name. Das ist seltsame Kleidung, die du trägst ... Jolene. Und diese Haut ...“ Er strich mit dem Handrücken über ihre Wange. Jolene schlug die Hand beiseite und schaute ihn trotzig an.
Er lächelte nur.
„Oh, die kleine Wildbramme fährt ihre Krallen aus.“ Wieder lachten die Männer.
„Würdest du mir verraten, woher du kommst, Jolene?“ Seine Stimme war zuckersüß, aber Jolene war sicher, dass eine falsche Antwort nicht ohne Konsequenzen für ihre eigene Gesundheit bleiben würde.
„New York, Vereinigte Staaten von Amerika!“ Sie schaute Elden in die tiefgründigen blaugrauen Augen.
„Nie davon gehört!“, behauptete der. Er schaute in die Runde. „Kennt von euch jemand Ju Jock ... oder diese Vereinigten Staaten von wasauchimmer?“ Gelächter und Kopfschütteln waren die Antwort.
Jolene verbiss einen Fluch.
‚Ich stecke noch tiefer in der Scheiße, als ich dachte’, schoss es ihr durch den Kopf.
„Und wie bist du hierher gekommen aus diesem ... Ju Jock?“
„New York“, verbesserte Jolene. „Ich habe keine Ahnung! Ich war in New York, wurde ohnmächtig ... und wachte hier wieder auf ... wo auch immer das sein mag.“ Sie versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen.
Elden schien nachzudenken. Dabei fiel sein Blick auf Jolenes linke Hand. Der große Mann erstarrte. Dann machte er einen langen Schritt und griff nach Jolenes Arm. Erschrocken versuchte sie, ihm den Arm zu entwinden, aber sein Griff war unerbittlich.
„Woher hast du den Ring?“, fragte er scharf und hob ihre Hand nach oben.
Jolene war verwirrt.
„Ich ... das ... ist ein Familienerbstück“, stammelte sie. „Er gehörte meinem Großvater, und ich bekam ihn, nachdem er gestorben war.“
Sie sah erschrocken, dass der Kreis der Männer enger geworden war. Alle schauten mit großen Augen ihren Ring an. Sie hatte das Erbstück nie als etwas Besonderes empfunden. Ein simpler, silberner Siegelring mit einem Halbedelstein. Das Siegel hatte immer das Familienwappen gezeigt aber Jolene stellte erstaunt fest, dass dort jetzt ein Wolfskopf abgebildet war.
„Wie lange ist der Ring in Eurer Familie?“, erkundigte sich Elden. Jolene bemerkte erstaunt den Wechsel in der Anrede.
„Mein Großvater erzählte immer, der Ring sei sehr alt. Seine Urahnen hätten ihn schon aus der Alten Welt mitgebracht, als sie einwanderten.“ Sie zuckte die Schultern um anzudeuten, dass sie nichts Genaues wusste.
Elden nickte nachdenklich. Dann ließ er ihren Arm los. Jolene rieb sich das schmerzende Handgelenk.
„Wir bitten Euch um Verzeihung, Herrin!“ Zu Ihrer Überraschung verbeugten sich die Männer vor ihr. „Wir sind einfache Menschen und haben nicht sofort erkannt, mit wem wir es zu tun haben.“ Er bot ihr den Arm und führte sie in Richtung des Feuers, während seine Männer beinahe ehrfürchtiges Geleit boten.
Jolene war vollkommen verblüfft.
„Entschuldige“, wandte sie sich an Elden. „Was hat das alles zu bedeuten?“
„Bitte, nehmt Platz!“ Elden deutete auf einen quer liegenden Baumstamm, den man an der Oberseite abgeflacht und so zu einer Art Bank gemacht hatte. Jolene setzte sich. Die Männer machten es sich rundum am Boden bequem, starrten die exotische Frau aber weiterhin mit großen Augen an.
„Ihr wisst nicht, was der Ring bedeutet?“, erkundigte sich Elden.
Jolene verneinte.
„Dann lasst mich euch die Legende vom Alten Geschlecht erzählen.“ Und Jolene hörte die gleiche Geschichte, die ein Mann namens Wedekind Braun fast zur gleichen Zeit aus dem Mund eines Zauberers namens Harbon zu hören bekam...