63. Rocarla

Amadis

Mitglied
Rocarla saß in dem ihr zugewiesenen Zimmer – ihrem Gefängnis – auf dem Bett und brütete vor sich hin. Sie hatte ein fürchterlich schlechtes Gewissen, dass sie ihre Freunde in eine solche Lage gebracht hatte. Sie wollte ihnen sagen, sie sollten ohne sie weiterziehen, sie hier zurück und ihrer gerechten Strafe überlassen. Allein, sie hatte keine Möglichkeit, Kontakt zu ihren Kameraden aufzunehmen.
So erging sie sich in Selbstvorwürfen. Oft schon hatte sie diese Zeit bereut, als sie mit ihrem „Bruder“ umhergezogen war und die einfache Landbevölkerung ihrer Ersparnisse beraubt hatte. Es wäre einfach gewesen, es auf den schlechten Einfluss von Sunak zu schieben – der natürlich nicht ihr Bruder war, sondern ein Junge, den sie in den Straßen von Mor'ssang kennen gelernt hatte. Dort, in der früheren Festungsstadt im Westen, war sie als Waisenkind aufgewachsen, hatte sich von frühester Kindheit an mit Diebstählen und betteln durch ein tristes Dasein geschlagen. Später war sie dann zusammen mit Sunak bei einem kleinen Wanderzirkus gelandet, wo sie das Jonglieren und allerlei andere Tricks gelernt hatten, Taschendiebstahl inklusive. Sunak hatte von Beginn an ständig Ärger gemacht: Prügeleien, Streit und Diebstähle bei den Kollegen vom Zirkus. Das hatte schließlich dazu geführt, dass man ihn mit Schimpf und Schande davon gejagt hatte. Rocarla bot man an zu bleiben, aber sie war jung und Sunak war für sie der einzige Mensch, der so etwas wie eine Familie darstellte. So begleitete sie den jungen Mann. Sie streunten durch das Land, unterhielten die Menschen in den Dörfern, die für die kleine Abwechslung dankbar waren, mit ihren Kunststücken. Sie stahlen und betrogen, wo es ihnen gerade notwendig erschien. Allerdings hatte Rocarla immer ein schlechtes Gefühl dabei, während Sunak es zu genießen schien, jede gelungene Spitzbüberei mit einem breiten Grinsen quittierte. Irgendwann kam es, wie es hatte kommen müssen: Sie gerieten an die falschen „Opfer“. Sunak bestahl eine Gruppe von wandernden Zimmerleuten. Nachdem sie diese am Abend mit Jonglieren und Kartentricks unterhalten hatten, was ihnen ein Abendessen am Feuer der Männer eingebracht hatte, schlich sich Sunak des Nachts in das Lager und wurde beim Stehlen ertappt. Die rauen Gesellen machten nicht viel Aufhebens und knüpften den sich heftig wehrenden Dieb am nächstbesten Baum auf. Rocarla hatte das Glück, sich in die Büsche schlagen zu können, bevor ihr Ähnliches widerfuhr. Das war acht Monate, bevor sie sich Sundasch, Werla und Jor'ass anschloss.
Die Gedanken der jungen Frau kehrten in die Gegenwart zurück. Würde es ihr so ergehen wie damals Sunak? Sie hoffte es nicht, hatte aber auch nicht vor, sich wieder aus der Verantwortung zu stehlen. Rocarla war ein anderer Mensch, als dieses Mädchen von vor sechs Jahren. Die Gesellschaft der Schauspieler hatte ihr gut getan, ihre Persönlichkeit geformt, oder, wie Sundasch sagen würde: das hervorgebracht, was schon immer in ihr geschlummert hatte. Rocarla liebte den alten Zauberer wie den Großvater, den sie nie hatte. Sie trank etwas Wasser aus einem Krug, den man ihr zusammen mit etwas hellem Brot auf den kleinen Tisch am Fenster gestellt hatte. Das Fenster selbst war von außen mit einem Fensterladen gesichert, der sich – Rocarla hatte das schon geprüft, fast automatisch, obwohl sie nicht vorhatte zu fliehen – von innen nicht öffnen ließ. So herrschte im Raum nur ein Dämmerlicht. Trotzdem hatte Rocarla schon weitaus schlimmere Gefängniszellen gesehen, wenn sie auch nie in einer hatte einsitzen müssen.
Sie ließ sich auf das leidlich bequeme Bett sinken und war trotz der finsteren und von Angst geprägten Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, nach kurzer Zeit eingeschlafen.
Sie erwachte, als die Tür geöffnet wurde, und schwere Männerstiefel in den Raum polterten. Es war inzwischen völlig dunkel im Zimmer, aber der vorderste der Männer – sie erkannte den Sohn des Thijs – trug eine Laterne, die gelblichen Schein verbreitete. Der Gang vor der Tür war hell erleuchtet, so dass die Gestalten der Männer lange Schatten in das Zimmer warfen.
„Steh auf!“, forderte der junge Mann mit der Laterne sie auf. Sie erhob sich und strich ihre Kleider glatt. Neben dem Mann mit der Laterne stand der Büttel, den sie am Abend kurz gesehen hatte, als er in ihre Unterkunft gekommen war und die Sicherheit des Zimmers überprüft hatte. Rocarla ging nach draußen, wo sie bereits von drei weiteren Männern in Empfang genommen wurde. Die beiden anderen folgten ihr und schlossen die Tür.
Der Raum, in dem der Gemeinderat zusammengetreten war, befand sich im anderen Flügel des Gebäudes. Es schien sich um den Speisesaal des Gasthauses zu handeln. Jetzt waren die Tische an die Wände gerückt und im Raum standen etwa drei Dutzend Stühle, die bis auf einige wenige besetzt waren. Von der Decke hingen eine Reihe von Öllampen, die den Raum in ausreichendes Licht tauchten. Das Gemurmel, das im Saal geherrscht hatte, ebbte kurz ab, als Rocarla mit ihren Bewachern eintrat, nur um gleich darauf in höherer Lautstärke wieder einzusetzen. Die junge Frau hörte wütende Stimmen, Beschimpfungen. Sie sah erleichtert ihre Freunde, die in der hinteren Stuhlreihe Platz genommen hatten. Sundasch zwinkerte ihr beruhigend zu.
Vor der Wand, die der Tür, durch die sie gekommen waren, genau gegenüber lag, waren drei Tische nebeneinander aufgestellt und bildeten so eine lange Tafel. Auf den Tischen verteilten sich einige brennende Kerzen in metallenen Ständern. Dahinter standen sechs Männer, unter ihnen der Thijs. Man führte Rocarla zu einem Stuhl, der einzeln in der Raummitte gegenüber den Würdenträgern aufgestellt war, und forderte sie auf, sich zu setzen. Der Büttel nahm neben ihr Aufstellung, während der Sohn des Thijs die Lampe löschte, die er getragen hatte, und sie in einer Ecke abstellte. Anschließend gesellte er sich zu den anderen Mitgliedern des Gemeinderats. Alle bis auf den Thijs setzten sich.
Der kräftige Mann trug einen dunkelgrünen mit gelben und roten Stickereien versehenen Umhang, der wohl das Zeichen seines Amtes war. Jetzt hob er beide Arme und wartete, bis im Saal Ruhe eingekehrt war.
„Ich eröffne unsere heutige Gemeinderatssitzung, die von mir einberufen wurde, um zu beraten, wie mit dieser jungen Frau zu verfahren ist.“ Er machte eine Pause und deutete auf Rocarla, wobei nichts Theatralisches in seinem Auftreten war. Es schien ihm im Gegenteil eher unangenehm zu sein. „Ihr wird vorgeworfen“, fuhr er dann fort, „zusammen mit einem Komplizen vor sechs Jahren die Gemeindekasse und damit unser aller Geld gestohlen zu haben.“
Wieder erhöhte sich der Geräuschpegel im Saal, was der Thijs einige Momente duldete, bevor er erneut die Arme hob. Als es wieder ruhiger war, fuhr er fort.
„Ich möchte an euch appellieren, liebe Mitbürger, dies nicht als ein Spektakel oder Schauspiel zu sehen. Ich stehe hier nicht gern in dieser Funktion vor euch, dafür kennt ihr mich.“ Wieder legte er eine Pause ein. Rocarla glaubte ihm. Der Thijs strahlte Integrität aus, was die Schuldgefühle der jungen Frau nicht eben geringer machte.
„Aber wir müssen hier einen Beschluss fassen, was zu geschehen hat. Es geht nicht darum, Rache zu nehmen, für etwas, das so lange her ist. Vielmehr geht es um Gerechtigkeit im Sinne aller.“
Aufgebrachte Rufe wurden laut, aber auch zustimmendes Gemurmel. Rocarla rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her.
„Man sollte sie aufknüpfen“, brummte jemand hinter ihr. Sie drehte sich um und erkannte den kleinen Rembar, der sie auf der Straße identifiziert hatte. Unangenehm berührt wandte sie sich wieder nach vorn.
Der Thijs fixierte den kleinen Mann.
„Hier wird niemand aufgeknüpft, Rembar. Wenn du solche Aussprüche nicht unterlässt, wirst du den Saal verlassen. Ich dulde es nicht, dass die Menschen aufgehetzt werden.“ Sein Ton war hart und bestimmt. Der Büttel, ein breitschultriger, grobschlächtiger Mann, bedachte Rembar mit einem finsteren Blick, als wolle er den Worten des Thijs zusätzliches Gewicht verleihen.
Herdal sprach weiter.
„Nun, da das geklärt ist“ Sein Blick richtete sich noch einmal auf Rembar, „wende ich mich an die Gemeinderäte. Gibt es Vorschläge?“
Ein kleiner alter Mann mit weißem, struppigem Bart und dünnem Haupthaar erhob sich von seinem Stuhl.
„Ja, Dornas?“, erteilte der Thijs ihm das Wort.
„Werte Ratsmitglieder, werte Bürger.“ Seine Stimmung war leise aber klar verständlich. Es kehrte Ruhe ein und Rocarla hatte den Eindruck, dass der alte Dornas großen Respekt unter seinen Mitbürgern genoss. „Wir richten hier über ein ernstzunehmendes Delikt. Aber wir sollten auch berücksichtigen, dass die Tat schon lange zurück liegt und dass diese junge Frau damals eigentlich noch ein Kind war.“ Er räusperte sich. „Erinnert ihr euch noch an eure Jugend?“ Er schaute Rembar herausfordernd an. „Habt ihr keine Dinge getan, die ihr später bereut habt? Dinge, die junge Menschen eben tun, weil ihnen die Wertmaßstäbe und die Erfahrung noch fehlen? Schaut euch diese junge Frau an. Ich zumindest kann erkennen, dass sie ihre Tat bereut, dass sie sich schämt und auch, dass sie bereit ist, dafür gerade zu stehen.“
„Ach ja?“, murmelte Rembar so leise, dass es nur die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung hören konnten. Zu denen gehörte allerdings auch der Büttel, der sich zu dem kleinen Mann umwandte und ihm mit einer eindeutigen Geste zu verstehen gab, dass er weitere Einwürfe nicht dulden würde. Rocarla hörte Rembar unwillig schnaufen, aber er enthielt sich einer erneuten Äußerung.
Dornas fuhr derweil fort.
„Wir sollten auf jeden Fall hören, was die Beschuldigte selbst dazu zu sagen hat.“
Rocarla wurde es plötzlich heiß, als sich alle Augen auf sie richteten. Dann wanderten die Blicke zum Thijs, der offenbar die Entscheidung über den Vorschlag des alten Gemeinderats zu treffen hatte. Herdal überlegte kurz, dann nickte er.
„Das ist ein guter Vorschlag, Dornas.“ Er schaute Rocarla streng an. „Dann lass hören, was du zu deiner Entlastung zu sagen hast.“
In Rocarlas Kopf überschlugen sich die Gedanken, während sie sich langsam erhob. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen, nicht einmal, wohin sie schauen sollte. Sie räusperte sich.
„Ich möchte hier keine Ausreden vorbringen … nichts abstreiten … ich bin dessen ich hier angeklagt werde schuldig und ich bin bereit, die Strafe, die mir durch die Bürger dieses Ortes auferlegt wird, zu akzeptieren, wie auch immer diese aussieht … ich schäme mich sehr, für das, was wir damals getan haben.“
Damit setzte sie sich wieder. Im Saal war es ruhig geworden. Einer der Gemeinderäte, ein Mann in mittleren Jahren, dunkelhaarig, schlank und hochgewachsen, erhob sich.
„Das waren gute Worte. Trotzdem muss eine solche Tat bestraft oder wenigstens wieder gut gemacht werden. Wenn ihr mich fragt ...“ Er schaute in die Runde. „... sollten wir sie dem Bezirksrichter in Mor'skar überantworten, der dann befinden wird, was geschehen soll. Wir sind Gemeinderäte, keine Richter.“
Zustimmendes Gemurmel kam auf, das von Herdal durch erneutes Heben seiner Arme unterbunden wurde.
„Darf ich sprechen, Euer Ehren?“
Die Stimme Sundaschs schnitt förmlich durch die eingetretene Stille. Rocarla drehte sich überrascht um und sah, dass der alte Zauberer aufgestanden war.
Der Thijs schaute seine Ratskollegen fragend an, dann nickte er.
„Kommt bitte nach vorn, damit Euch alle sehen können“, forderte er Sundasch auf.
Der Zauberer ging durch die Stuhlreihen nach vorn und stellte sich so hin, dass er sowohl die Gemeinderäte, als auch die Zuschauer im Saal sehen konnte.
„Vielen Dank für diese Möglichkeit.“ Er lächelte. „Ich möchte Euch über diese junge Frau berichten. Als ich Rocarla vor über vier Jahren kennenlernte, war sie ein Kind der Straße. Sie war wild und hatte ein Temperament, das ihr nicht selten Probleme bereitete. Sie war immer auf sich selbst gestellt, musste um zu überleben Dinge tun, die sich die meisten von euch nicht vorstellen können, die ihr für Unrecht halten würdet, oder zumindest für abstoßend. Das trifft sicher in vielen Fällen zu. Das war die Rocarla von damals: ein Kind, das zu überleben versucht. Wir haben sie bei uns aufgenommen, weil sie einige Dinge konnte, die wir für unsere Darbietungen als nützlich erachteten und nicht zuletzt, weil sie mit ihrem hübschen, jungen Gesicht eine nette Abwechslung zu uns alten, hässlichen Kerlen darstellte und wir uns dadurch mehr Einnahmen versprachen.“ Rocarla hörte Werla hinter sich protestieren und musste unwillkürlich lächeln. Sundasch zwinkerte ihr zu. „Am Anfang war es schwierig. Sie war widerspenstig und aufsässig, ließ sich nichts sagen und tat nur, was ihr genehm war. Mehr als einmal hat nicht viel gefehlt, und mein Freund Werla hätte sie davon gejagt. Aber damals schon konnte ich mehr in ihr erkennen, eine innere Güte, die sie nur nicht an die Oberfläche kommen ließ, um keine Schwäche zu zeigen. Denn das wäre bei ihrer bisherigen Lebensweise sehr gefährlich gewesen. Wer auf der Straße Schwäche zeigt, lebt nicht lange.“ Er machte eine kleine Pause. „Mit der Zeit kam dann ihre wirkliche Natur immer mehr zum Vorschein. Sie öffnete sich, wir wurden Freunde, fast Familie.“ Er lächelte Rocarla an. „Ihr Temperament hat sie immer noch, und ich kann Euch sagen, dass es so manch lautstarke Auseinandersetzung gibt. Sie hat ein freches Mundwerk und ist vorlaut, aber die junge Frau, die hier vor Euch sitzt, ist nicht mehr das Mädchen, das Euch vor sechs Jahren bestohlen hat. Sie ist eine Frau geworden und sie ist ein guter Mensch. In meinem Alter hat man gelernt, Menschen einzuschätzen.“ Er schaute den alten Dornas an und erntete ein Lächeln gefolgt von einem Nicken. „Ich kann Euch nur um Milde bitten, aber auch wir als ihre Freunde und Familie werden selbstverständlich Euer Urteil akzeptieren, wie immer es auch ausfallen mag. Was wir als ihre Freunde tun können, das geschehene Unrecht zu vergelten, werden wir tun.“
Sundasch nickte den Gemeinderäten zu und schaute in die Gesichter der anwesenden Bürger.
„Wohl gesprochen!“ Herdal schaute in die Runde und sah so manches Kopfnicken und beifällige Blicke. „Nun obliegt es uns, alles abzuwägen. Ich möchte euch alle bitten, draußen zu warten, bis wir beraten haben.“
Der Büttel trat neben Rocarla und bedeutete ihr aufzustehen. Dann begleitete er sie nach draußen, wo sie sich in einer Ecke zu ihren Freunden gesellten. Sie legte Sundasch die Hand auf den Arm und küsste ihn auf die Wange. Der alte Zauberer lächelte, schwieg aber.
So standen sie eine Weile wortlos beisammen. Die Dorfbewohner hatten sich etwas abgesondert und unterhielten sich. Immer wieder gingen die Augen der Menschen zu den Schauspielern hinüber, einige zornig, andere hatten sogar ein Lächeln für sie übrig.
Dann öffnete sich die Tür und der Sohn des Thijs trat heraus. Rocarlas Herz tat einen Sprung und in ihrem Hals bildete sich ein Klos. Tränen traten ihr in die Augen.
„Bitte tretet wieder ein. Wir sind soweit“, verkündete der junge Mann mit einem Gesichtsausdruck, der keinen Rückschluss auf die Art der Entscheidung zuließ.
Nachdem alle wieder ihre Plätze eingenommen hatten, erhob sich Herdal und hob die Arme. Sofort kehrte gespannte Ruhe ein.
„Es war nicht leicht, uns auf eine gemeinsame Entscheidung zu einigen. Daher haben wir einen Kompromiss gemacht, der hoffentlich allen gerecht wird.“ Er ließ den Blick durch den Saal wandern, bis er auf Rocarla verharrte. „Wir sind uns alle einig, dass es sich um eine verwerfliche Tat handelte. Wir haben aber alle Aspekte bedacht: Deine damalige Jugend, die Tatsache, dass du deine Tat offenbar bereust, die Worte deines Freundes.“ Er deutete in Richtung des Zauberers. „Wir sind uns auch sehr wohl bewusst“, ein verschmitztes Lächeln glitt über sein Gesicht, „dass Ihr, Herr Zauberer, durchaus in der Lage gewesen wäret, unsere Entscheidung mit Euren Fähigkeiten zu beeinflussen. Ja ja, ich habe das am Abend sehr wohl bemerkt und die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Euer überraschtes Gesicht gibt mir recht. Wir sind zwar einfache Leute, aber wir sind nicht dumm und ungebildet. Die Tatsache, dass Ihr darauf verzichtet habt, spricht für Euch.“ Er lächelte offen. „Nun aber zu unserer Entscheidung: Tatsache ist, dass unserem Dorf damals erheblicher Schaden entstanden ist, und dass wir über ein Jahr brauchten, diesen wieder gutzumachen. Daher wurde beschlossen, dass wir der Beschuldigten die Möglichkeit geben, ihre Schuld zu tilgen, indem sie die Hälfte des entwendeten Betrags zurückzahlt.“
Rocarla erschrak. Soviel Geld hatte sie seither nie mehr besessen. Hinter ihr lachte Rembar hämisch auf, und sie hörte, dass Werla einen derben Fluch ausstieß. Der Thijs fuhr fort.
„Ist sie dazu nicht in der Lage, wird sie der Gerichtsbarkeit des Bezirksrichters in Mor'skar überantwortet. So lautet unser Beschluss.“
Im Saal wurde es laut. Die Menschen diskutierten ober das soeben Gehörte.
Rocarla war auf ihrem Stuhl zusammen gesunken. Plötzlich hörte sie an ihrem rechten Ohr eine leise Stimme.
„Da kannst du dich freuen, Miststück.“ Das war Rembar. „Der Bezirksrichter ist nicht als sonderlich großzügig bekannt.“ Er kicherte.
Der Büttel packte den kleinen Mann am Arm und verfrachtete ihn zurück auf seinen Stuhl. Fluchend ließ Rembar es über sich ergehen.
Der Lärm im Saal ebbte langsam ab.
„Ihr habt mich überrascht, Euer Ehren, das muss ich zugeben“, hörte die junge Frau dann die Stimme des Zauberers. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass Ihr mich als Zauberer erkennt und ich muss euch alle bitten, das möglichst für euch zu behalten. Es sei denn, ihr seid Sympathisanten der Feste.“
Welche Feste gemeint war, war allen im Raum klar. So mancher Fluch wurde laut, der Verline und ihren Schergen galt. Sundasch fuhr fort.
„Euer Urteil ist gerecht und weise. Gebt mir bitte einige Minuten.“
Rocarla drehte sich überrascht um und sah gerade noch, wie Sundaschs hochgewachsene Gestalt durch die Tür nach draußen verschwand. Sie warf Jor'ass einen fragenden Blick zu, aber dieser zuckte nur die Achseln.
Kurze Zeit später kehrte der Zauberer zurück. In seiner Hand trug er einen ledernen Beutel. Er durchquerte den Saal und blieb vor dem Tisch gegenüber des Thijs stehen.
„Um welchen Betrag handelt es sich, Thijs?“, erkundigte sich der Zauberer.
„Nun, in der Gemeindekasse war damals der Gegenwert von etwa acht Goldforint. Also reden über vier Goldforint.“ Er schaute Sundasch neugierig an.
Der Zauberer nickte, öffnete den Lederbeutel und griff hinein. Nachdem er eine Weile gesucht hatte, wobei das Klimpern von Münzen an die Ohren der Umstehenden drang, brachte er einige Münzen zum Vorschein. Er zählte vier davon ab und reichte sie dem Thijs. Schwindel erfasste Rocarla. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass der Zauberer soviel Geld besaß. Das war mehr, als ein Bauer in einem ganzen Jahr verdiente. Viel mehr. Auch Herdal hatte große Augen bekommen und starrte immer noch ungläubig auf die goldenen Münzen in seiner Hand. Dann zog er sie rasch zurück, als befürchte er, Sundasch könne es sich anders überlegen, und sein Geld zurückverlangen.
Es herrschte atemlose Stille im Saal. Dann stieß Rembar einen derben Fluch aus, woraufhin alle begannen, durcheinander zu reden. Sundasch stand hoch aufgerichtet und mit ausdruckslosem Gesicht da. Seine Augen wanderten zu Rocarla, die immer noch mit ihrer Fassung kämpfte. Ein kleines Lächeln stahl sich auf das Gesicht des Zauberers. Dann wandte er sich wieder an den Thijs.
„Ich denke, damit haben wir die Schuld beglichen und meine Freundin kann als freie Frau das Dorf verlassen.“ Der Thijs nickte, immer noch völlig perplex. „Sehr gut. Vielleicht würdet ihr uns aber in eurem sehr schönen Gasthaus noch Unterkunft für die Nacht gewähren. Wir sind sehr müde und bedürfen der Ruhe.“ Er hob die Stimme. „Wenn es euch recht ist, würde ich aber vorher gern noch alle Anwesenden zu einem Umtrunk einladen. Vielleicht hat der Gastwirt ja auch noch einen Braten, der für alle reicht.“
Nach diesen Worten verwandelte sich das allgemeine Durcheinanderreden in Jubel. Man klopfte dem Zauberer auf die Schulter und nach einer Weile wurden die Tische aufgestellt und der Gerichtssaal verwandelte sich wieder in eine Gaststube. Herdal hatte das Geld inzwischen weggeschlossen und trieb nun seine Söhne dazu an, möglichst schnell für Speise und Trank zu sorgen. Seine Frau, die Rocarla vorher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, trat hinter der Theke hervor und bekam von Herdal den Auftrag, einen Braten über das Feuer zu hängen.
Rocarla schaute sich um. Sie fühlte sich wie in einem Traum. Ihre Freunde waren inzwischen neben ihr und sie merkte, dass sie immer noch auf dem Stuhl saß, auf dem sie die Gemeinderatssitzung verfolgt hatte. Unsicher kam sie auf die Beine. Sie nahm ihre Umgebung wie durch einen Schleier wahr. Marc war da und umarmte sie. Dann waren die anderen Freunde an der Reihe. Zuletzt kam Sundasch zu ihr. Sie zog den alten Zauberer zur Seite.
„Bei allen Windgeistern, Sundasch!“ Ihre Stimme hörte sich für ihre eigenen Ohren fremd an. Sie klang rau und hohl. „Woher hast du nur so viel Geld?“
Der Zauberer lächelte.
„Wenn man solange lebt wie ich und nicht dazu kommt, etwas auszugeben, sammelt sich eben einiges an.“
Sie schaute argwöhnisch zu ihm auf.
„Du denkst doch nicht ernsthaft, dass ich dir das abkaufe, oder?“
Sundasch schüttelte den Kopf.
„Nein, du bist viel zu klug. Aber eine andere Erklärung wirst du von mir nicht hören.“
Sie musste lachen. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, umarmte den alten Mann und küsste ihn fest auf die Wange.
„Das kann ich nie mehr wieder gutmachen, Alterchen. Danke!“ Sie legte die Stirn in Falten. „Aber nicht dass du denkst, du könntest mich jetzt deswegen herumkommandieren!“
Sundasch lachte.
„Nein, auf die Idee würde ich nie kommen. Du lässt dich von niemandem kommandieren.“
Sie wandten sich der Theke zu, wo ihre Freunde inzwischen bereits die ersten Humpen Bier in den Händen hielten.
Nur einem war nicht zum Feiern zumute. In einer Ecke stand Rembar. Seine Augen funkelten hasserfüllt. Nach einer Weile wandte er sich brüsk ab und verließ eiligen Schrittes die Gaststätte. Niemand bemerkte, dass er fort war.
 



 
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