Gegen Mittag machten sie sich wieder auf den Weg. Wedekind fühlte sich leidlich erholt. Er hatte das Gefühl, dass er sich langsam an diese Art des Reisens gewöhnte, daran, auf dem harten Boden zu schlafen und die Zeit dazwischen fast ausschließlich auf dem Rücken seiner Stute zu verbringen. Latar hatte sicherlich einen gehörigen Anteil daran, dass sich ihr Reiter nicht mehr so unwohl fühlte, wie noch vor einigen Tagen.
Wie schon an den vorherigen Tagen strahlte die Sonne von einem Himmel, der wie blank geputzt wirkte. Dabei war es aber nicht unangenehm heiß, sondern wie in einem immerwährenden Frühling.
Sie kamen jetzt gut voran und gegen Abend erreichte die Gruppe eine kleine Ortschaft, die aus etwa zwei Dutzend einfachen Holzhäusern bestand, die sich beiderseits der Straße aneinander reihten.
Menschen waren nicht zu sehen, nur in einigen eingezäunten Bereichen gab es unterschiedliche Tiere. Einige Pferde, aber hauptsächlich Bantas, Schweine und die merkwürdig anmutenden Tiere, die wie eine Kombination aus Schwein, Rind und Hirsch aussahen. Solche Tiere hatte Wedekind bei der Groldfähre zum ersten Mal gesehen.
„Wie heißen diese Tiere?“, erkundigte er sich bei Harbon, der neben ihm ritt.
„Das sind Tralden. Sehr vielseitige Tiere. Man kann sie zum Ziehen von Wagen einsetzen, ihr Fleisch essen und die Milch der weiblichen Tiere ist sehr nahrhaft. Das Fleisch schmeckt besser als das von Bantas und ist weniger fett als das von Schweinen.“
Gorman hatte sein Pferd angehalten, neben sich Martis, der ihm wie ein Schatten folgte. Der Fürst wartete, bis Harbon und die anderen zu ihm aufgeschlossen hatten. Sie befanden sich jetzt etwa in der Mitte der kleinen Ortschaft, wo es einen freien Platz von etwa fünfzig Metern Durchmesser gab.
„Keine Menschenseele zu sehen, Zauberer“, brummte Gorman. „Das gefällt mir nicht.“ Seine Hand lag auf dem Schwertgriff.
Harbon zuckte die Achseln.
„Ich habe schon im Apaethon gelauscht, aber magische Aktivitäten kann ich nicht spüren. Wir sollten trotzdem vorsichtig sein.“
Er gab den anderen einen Wink, von ihren Tieren abzusteigen. Elden trat neben den Zauberer. Auch er hielt den Griff seines Schwerts umfasst.
„Ich habe ein verdammt ungutes Gefühl an diesem Ort“, meinte er und schaute sich misstrauisch um.
Harbon nickte.
„Ich weiß, was du meinst.“ Er überlegte. „Wir teilen uns auf. Jeweils zwei zusammen schauen sich hier etwas um. Aber seid bitte vorsichtig und geht kein Risiko ein!“
Wedekind gesellte sich zu Harbon, während Elden und Jolene sowie Gorman und Martis die anderen Gruppen bildeten.
Wedekind überquerte mit dem Zauberer den Platz. Sie blieben vor einem der Häuser stehen. Das Haus war eher eine Blockhütte, hatte eine Tür und zwei Fenster zur Straße hinaus. Allerdings war es nicht möglich, durch die Fenster nach drinnen zu schauen, da diese mit etwas verhängt waren, das den Blick versperrte. Harbon gebot Wedekind mit einem Wink, zurückzubleiben und näherte sich vorsichtig der Tür. Er schlug mit der Faust gegen die dicken Balken.
„Hallo, ist jemand zuhause?“ Seine Stimme durchschnitt die Stille und Wedekind erschrak regelrecht, obwohl der Zauberer nicht sehr laut gerufen hatte.
Sie warteten eine Weile, aber im Haus rührte sich nichts. Harbon schaute Wedekind an und hob vielsagend die Augenbrauen. Dann zog er sein Schwert und auch Wedekind nahm seine Waffe in die Hand. Harbon drückte gegen die Tür, die mit einem Knarren ein Stück aufschwang, ehe sie verharrte.
Er spähte durch die entstandene Öffnung nach drinnen, konnte aber nicht viel erkennen, da es im Haus fast dunkel war. Lediglich durch die Türöffnung fiel das letzte Licht des Tages hinein, beleuchtete aber nur einen kleinen Teil des dahinter liegenden Raums. Der Zauberer griff in seinen Beutel und brachte den Syrill zum Vorschein. Er murmelte einen Zauberspruch, vollführte einige Gesten mit der Hand, was den magischen Stein dazu bewegte, größer zu werden und langsam durch die Türöffnung nach drinnen zu schweben. Dann begann der Syrill zu leuchten. Harbon bedeutete Wedekind, ihm zu folgen.
Langsam schob der Zauberer die Tür weiter auf, was diese mit einem lauten Knarren quittierte. Wedekind ließ zischend die Luft entweichen, die er unwillkürlich angehalten hatte. Er schaute sich um, aber niemand reagierte auf das Geräusch. Im Schein des Syrill konnten sie jetzt erkennen, dass das Haus lediglich einen Raum beherbergte. Wedekind schätzte, dass er etwa sieben Meter breit und fünf Meter tief war. Rechts sah der Antiquar einen grob behauenen, hölzernen Tisch und vier Stühle. Auf dem Tisch standen Teller und Becher und auf den Tellern konnte er Reste von Nahrung erkennen. Es hatte den Anschein, als wären die Bewohner während des Essens einfach aufgestanden und hinaus gegangen.
An der der Tür gegenüber liegenden Wand gab es einen großen Schrank, eine Art Sideboard, auf dem zwei große Schüsseln standen, sowie einen Herd, neben dem Holzscheite aufgestapelt waren.
Links von der Tür sah er ein großes und ein kleines Bett und an einer Schnur, die kurz unter der etwa zweieinhalb Meter hohen Decke gespannt war, hing eine Art Vorhang. Dieser diente wohl dazu, den Schlafbereich vom übrigen Raum abzutrennen, war aber jetzt zur Seite geschoben. Niemand befand sich im Haus.
Harbon blieb neben dem Tisch stehen und berührte die Nahrungsreste mit dem Finger.
„Kalt“, brummte er. „Das sieht mir nach einem eiligen Aufbruch aus.“ Er schaute Wedekind ernst an. „Stellt sich die Frage, was die Bewohner veranlasst hat, ihr Haus so überstürzt zu verlassen.“
„Das kenne ich aus einer Menge Horrorfilme“, brummte Wedekind und ignorierte den fragenden Blick des Zauberers. „Diese Geschichten gingen meistens nicht gut aus.“
Harbon nickte.
„Mir gefällt das auch ganz und gar nicht.“
Sie verließen das Haus und Harbon fing den Syrill wieder ein. Er nickte in Richtung der nächsten Blockhütte.
„Schauen wir, wie es dort aussieht.“
„Wenn du mich fragst, können wir uns das sparen, Zauberer“, murmelte der Antiquar. „Ich wette, das ist wieder irgendeine Teufelei von unserer Lieblingsfreundin Verline.“
Harbon ging nicht darauf ein und näherte sich dem nächsten Haus. Wedekind warf über den kleinen Platz hinweg einen Blick zu Elden, der gerade mit Jolene aus einem der anderen Gebäude kam. Der hochgewachsene Mann hob die Schultern und schüttelte den Kopf. Wedekind nickte bestätigend, dann folgte er Harbon.
Der Zauberer hatte die Tür bereits geöffnet und der Syrill schwebte in das Haus. Sie sahen sich kurz um. Auch hier war kein Mensch zu sehen. Sonst bot sich ihnen derselbe Anblick, wie in der anderen Hütte.
„Hier gibt es nichts zu finden“, meinte Harbon.
Er ging in Richtung Tür. In diesem Moment hörten Sie von draußen einen lauten Ausruf, den sie nicht verstehen konnten, dann einen Fluch.
„Das war Gorman!“
Harbon begann zu laufen, steckte den Syrill in seinen Beutel und fasst das Schwert fester. Wedekind folgte ihm mit zusammen gebissenen Zähnen.
Der Anblick, der sich ihm auf dem Dorfplatz bot, war dazu angetan, das Blut in seinen Adern gefrieren zu lassen.
Mitten auf dem Platz standen Gorman und Martis. Beide hielten ihre Schwerter in den Händen. Sie waren umzingelt von mindestens drei Dutzend Gestalten, die auf den ersten Blick wie Menschen aussahen, sich aber … nicht so anfühlten. Wedekind fiel kein anderes Wort dafür ein. Harbon fluchte.
„Drollinge!“
Er stürmte nach vorn und packte sein Schwert mit beiden Händen. Auf der anderen Seite des Platzes erblickte Wedekind jetzt Elden und Jolene, die mit gezogenen Waffen heran gestürmt kamen.
Die Angreifer trugen Alltagsgegenstände, die sie wie Waffen führten: Mistgabeln, Äxte, Sensen, einfache Messer. Es handelte sich um Männer und Frauen und, wie Wedekind mit besonderem Grauen feststellte, auch um einige Kinder.
„Das ist wie in Friedhof der Kuscheltiere“, murmelte er.
Dann sah er, wie Harbon dem ersten Drolling, einem kräftigen Mann, der ihn nicht kommen sah und gar nicht merkte, wie ihm geschah, mit einem fürchterlichen Hieb den Kopf vom Rumpf trennte.
„Ihr müsst ihnen die Köpfe abschlagen!“, brüllte der Zauberer, „Nur so könnt ihr sie aufhalten. Nehmt keine Rücksicht, das sind keine Menschen mehr – auch die Kinder nicht!“
Die Drollinge hatten inzwischen gemerkt, dass ihnen von unerwarteter Seite Gefahr drohte, und wandten sich den neuen Angreifern zu. Sie waren mindestens in sechsfacher Überzahl, wenn sie auch nicht so gut bewaffnet waren, wie Wedekind und seine Freunde.
Einen kurzen Moment sah Wedekind Gorman und beobachtete für eine Sekunde oder zwei, wie sich der Fürst wie ein Tänzer mit seinem Schwert zwischen den im Vergleich dazu plump wirkenden Gestalten der ehemaligen Dorfbewohner bewegte. Dieser Moment hätte den Antiquar fast das Leben gekostet, denn er hatte nicht bemerkt, dass sich ihm eine Frau mit einem langen Messer näherte. Erst im letzten Moment nahm er eine Bewegung wahr und warf sich herum. Das Messer, das eigentlich auf seinen Rücken gerichtet war, drang an seinem Oberarm durch die Jacke und schnitt durch seine Haut, drang aber zum Glück nicht tief ein. Der Schmerz machte Wedekind hellwach. Er wirbelte herum und schlug mit dem Schwert nach der Frau, traf den Arm, mit dem sie das Messer gegen ihn geführt hatte. Es drang kurz über dem Handgelenk ein. Der Hieb war nicht stark genug, den Arm zu durchtrennen, aber das Messer wurde der Frau aus der Hand geschlagen. In ihrem Unterarm klaffte eine Wunde, die bis auf den Knochen reichte. Wedekind sah verwundert, dass kein Tropfen Blut hervortrat. Trotzdem gab die Frau keinen Laut von sich. Ihr Gesicht war hassverzerrt und sie bückte sich, um das Messer mit der anderen Hand wieder aufzuheben. Wedekind packte das Schwert mit beiden Händen und ließ es von oben auf den Nacken der Frau krachen. Mit einem hässlichen Geräusch durchtrennte die scharfe Klinge den Hals des Untoten. Der Kopf rollte über den Boden. Schlaff fiel der Körper der Frau zu Boden.
Wedekind war von Grauen geschüttelt und kämpfte mit der Übelkeit. Aber ihm war klar, dass er es sich nicht erlauben konnte, in seiner Aufmerksamkeit nachzulassen. Er löste sich von dem Anblick des Körpers, der begonnen hatte, sich aufzulösen. Harbon erschlug gerade ein etwa achtjähriges Kind – nein, kein Kind, einen Drolling, der im Körper eines Kindes steckte, das musste sich der Antiquar immer wieder vor Augen führen. Er schüttelte den Gedanken ab, denn ein drahtiger, kleiner Mann griff ihn mit einer Sense an. Wedekind wich zur Seite aus. Der Mann war mit dem langstieligen Erntegerät ziemlich unbeweglich und taumelte vom eigenen Schwung getragen an Wedekind vorbei. Der Antiquar hieb mit dem Schwert nach dem Rücken des Drollings, verfehlte ihn aber. Er blieb mit Mühe auf den Beinen. Wedekind bereitete sich auf den nächsten Angriff vor, als Harbon plötzlich einen lauten Fluch ausstieß.
„Das reicht jetzt!“ Der Zauberer klang wütend. Er murmelte einige Worte. Im nächsten Moment zerplatzte der Schädel des Mannes, der Wedekind gerade wieder angreifen wollte. Auch die Köpfe von vier anderen Drollingen, die sich in der Nähe des Zauberers aufhielten, wurden förmlich zerrissen. Ihre Körper erschlafften und sanken zu Boden. Das verschaffte Wedekind die Gelegenheit, sich umzuschauen. Seine Freunde waren noch alle auf den Beinen. Martis hatte eine blutende Wunde am linken Oberarm. Von den Drollingen waren noch etwa ein gutes Dutzend übrig geblieben, aber Harbon hatte vor, das schnell zu ändern. Wieder drang ein Zauberspruch aus dem Mund des Zauberers, diesmal lauter und die Köpfe von sechs Drollingen zerstoben. Die übrigen wandten sich demjenigen Angreifer zu, von dem ihnen die meiste Gefahr drohte, und stürzten sich auf Harbon. Gorman fing eine kräftige Frau, die ein kleines Beil schwang, mit einem Schwerthieb gegen den Oberkörper ab, drehte sich und enthauptete sie in einer einzigen fließenden Bewegung. Elden stellte sich einem großgewachsenen Mann in den Weg. Der Waldläufer brauchte nur einen Hieb mit seinem langen Schwert, um den Kopf des Drollings vom Körper zu trennen. Die übrigen drei Untoten erledigte Harbon mit einem erneuten Zauberspruch.
All das hatte sich in maximal drei oder vier Minuten abgespielt. Die Angreifer hatten keinen Laut von sich gegeben, was den Angriff besonders gespenstisch gemacht hatte – neben der für Wedekind nach wie vor erschreckenden Tatsache, dass einige der Drollinge von Kindern Besitz ergriffen hatten.
Die Gefährten schauten sich misstrauisch nach allen Seiten um, aber es schien keine weitere Gefahr zu drohen.
Ekel ergriff Wedekind, als er sah, wie sich die Körper der ehemaligen Dorfbewohner in atemberaubender Geschwindigkeit auflösten. Dabei verströmten sie einen Gestank, der dazu führte, dass Wedekind den Brechreiz nicht mehr kontrollieren konnte. Er wandte sich ab und übergab sich. Harbon trat neben ihn.
„Lass mich deinen Arm anschauen, Wedekind.“
Der Antiquar richtete sich auf, wischte sich mit dem Ärmel seiner ohnehin ruinierten Jacke über den Mund und zog das Kleidungsstück dann aus. Harbon suchte in seinem Beutel und brachte eine Flasche hervor. Mit einem nassen Lappen reinigte er die Wunde, brachte dann einige Kräuter aus den unergründlichen Tiefen seines Beutels zum Vorschein, die er in Wasser tauchte und auf der Wunde verteilte. Dann verband er Wedekinds Arm.
Der Antiquar nickte dankbar und Harbon wandte sich Martis zu, um dessen Wunde zu behandeln. Die anderen waren glücklicherweise mit dem Schrecken davon gekommen.
Wedekind gesellte sich zu Elden und Jolene.
„Du hast dich großartig geschlagen“, meinte der Waldläufer gerade und lächelte die dunkelhäutige Frau an. „Dein Tai-irgendwas macht sich bezahlt.“ Er grinste.
„Ja, das hat mir schon oft geholfen.“ Sie schaute Wedekind an. „Bist du in Ordnung? Schmerzen?“
Der Antiquar schüttelte den Kopf.
„Halb so wild“, meinte er und brachte ein Lächeln zustande. „Viel schlimmer waren die Kinder.“ Er schüttelte sich.
Jolene nickte.
„Ja, das war grauenvoll. Diese Verline schreckt vor nichts zurück.“
Elden verzog das Gesicht.
„Wir müssen mit allem rechnen. Verline wird alles aufbieten, um an der Macht zu bleiben. Ich fürchte, das hier“, er machte eine umfassende Geste, „ist erst der Anfang.“
Wedekind stellte sich lieber nicht vor, was noch alles auf ihn und die anderen zukommen würde.
Harbon hatte inzwischen Martis verarztet.
„Wir müssen uns noch ein Lager für die Nacht suchen“, meinte er. „Ich nehme nicht an, dass ihr viel Lust verspürt, in einem der Häuser zu schlafen.“
Wedekind lief es eiskalt über den Rücken.
„Nein, ich zumindest nicht.“ Er schaute in die Runde und sah überall Kopfschütteln.
Gorman sah zum Himmel.
„Viel Zeit haben wir nicht mehr. Erinnert ihr euch an den kleinen Bach, den wir etwa eine Meile vor dem Dorf überquert haben? Da gibt es sicher einen Platz, der für eine Übernachtung taugt.“
Harbon nickte.
„Das ist wohl die beste Lösung. Wir wissen nicht, ob wir in der anderen Richtung wieder etwas finden, wo wir die Pferde tränken können.“
Damit war es beschlossen. Als Wedekind auf sein Pferd stieg, warf er noch einmal einen Blick auf den Dorfplatz. Der Anger lag still da und es gab kaum ein Zeichen von dem, was hier vor wenigen Minuten geschehen war. Die überall umher liegenden Gerätschaften, die in den Händen der Drollinge zu Waffen geworden waren, konnte man in der Dämmerung kaum sehen. Die Überreste der Körper waren längst verschwunden, in den Boden gesickert.
Noch einmal schlich sich das Grauen in Harbons Bewusstsein und seine Nackenhaare sträubten sich. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er in dieser Nacht viel würde schlafen können.
Mit einem Seufzer drückte er seiner Stute die Fersen in die Seite und folgte seinen Kameraden, die bereits einige Dutzend Meter zurückgelegt hatten.
Wie schon an den vorherigen Tagen strahlte die Sonne von einem Himmel, der wie blank geputzt wirkte. Dabei war es aber nicht unangenehm heiß, sondern wie in einem immerwährenden Frühling.
Sie kamen jetzt gut voran und gegen Abend erreichte die Gruppe eine kleine Ortschaft, die aus etwa zwei Dutzend einfachen Holzhäusern bestand, die sich beiderseits der Straße aneinander reihten.
Menschen waren nicht zu sehen, nur in einigen eingezäunten Bereichen gab es unterschiedliche Tiere. Einige Pferde, aber hauptsächlich Bantas, Schweine und die merkwürdig anmutenden Tiere, die wie eine Kombination aus Schwein, Rind und Hirsch aussahen. Solche Tiere hatte Wedekind bei der Groldfähre zum ersten Mal gesehen.
„Wie heißen diese Tiere?“, erkundigte er sich bei Harbon, der neben ihm ritt.
„Das sind Tralden. Sehr vielseitige Tiere. Man kann sie zum Ziehen von Wagen einsetzen, ihr Fleisch essen und die Milch der weiblichen Tiere ist sehr nahrhaft. Das Fleisch schmeckt besser als das von Bantas und ist weniger fett als das von Schweinen.“
Gorman hatte sein Pferd angehalten, neben sich Martis, der ihm wie ein Schatten folgte. Der Fürst wartete, bis Harbon und die anderen zu ihm aufgeschlossen hatten. Sie befanden sich jetzt etwa in der Mitte der kleinen Ortschaft, wo es einen freien Platz von etwa fünfzig Metern Durchmesser gab.
„Keine Menschenseele zu sehen, Zauberer“, brummte Gorman. „Das gefällt mir nicht.“ Seine Hand lag auf dem Schwertgriff.
Harbon zuckte die Achseln.
„Ich habe schon im Apaethon gelauscht, aber magische Aktivitäten kann ich nicht spüren. Wir sollten trotzdem vorsichtig sein.“
Er gab den anderen einen Wink, von ihren Tieren abzusteigen. Elden trat neben den Zauberer. Auch er hielt den Griff seines Schwerts umfasst.
„Ich habe ein verdammt ungutes Gefühl an diesem Ort“, meinte er und schaute sich misstrauisch um.
Harbon nickte.
„Ich weiß, was du meinst.“ Er überlegte. „Wir teilen uns auf. Jeweils zwei zusammen schauen sich hier etwas um. Aber seid bitte vorsichtig und geht kein Risiko ein!“
Wedekind gesellte sich zu Harbon, während Elden und Jolene sowie Gorman und Martis die anderen Gruppen bildeten.
Wedekind überquerte mit dem Zauberer den Platz. Sie blieben vor einem der Häuser stehen. Das Haus war eher eine Blockhütte, hatte eine Tür und zwei Fenster zur Straße hinaus. Allerdings war es nicht möglich, durch die Fenster nach drinnen zu schauen, da diese mit etwas verhängt waren, das den Blick versperrte. Harbon gebot Wedekind mit einem Wink, zurückzubleiben und näherte sich vorsichtig der Tür. Er schlug mit der Faust gegen die dicken Balken.
„Hallo, ist jemand zuhause?“ Seine Stimme durchschnitt die Stille und Wedekind erschrak regelrecht, obwohl der Zauberer nicht sehr laut gerufen hatte.
Sie warteten eine Weile, aber im Haus rührte sich nichts. Harbon schaute Wedekind an und hob vielsagend die Augenbrauen. Dann zog er sein Schwert und auch Wedekind nahm seine Waffe in die Hand. Harbon drückte gegen die Tür, die mit einem Knarren ein Stück aufschwang, ehe sie verharrte.
Er spähte durch die entstandene Öffnung nach drinnen, konnte aber nicht viel erkennen, da es im Haus fast dunkel war. Lediglich durch die Türöffnung fiel das letzte Licht des Tages hinein, beleuchtete aber nur einen kleinen Teil des dahinter liegenden Raums. Der Zauberer griff in seinen Beutel und brachte den Syrill zum Vorschein. Er murmelte einen Zauberspruch, vollführte einige Gesten mit der Hand, was den magischen Stein dazu bewegte, größer zu werden und langsam durch die Türöffnung nach drinnen zu schweben. Dann begann der Syrill zu leuchten. Harbon bedeutete Wedekind, ihm zu folgen.
Langsam schob der Zauberer die Tür weiter auf, was diese mit einem lauten Knarren quittierte. Wedekind ließ zischend die Luft entweichen, die er unwillkürlich angehalten hatte. Er schaute sich um, aber niemand reagierte auf das Geräusch. Im Schein des Syrill konnten sie jetzt erkennen, dass das Haus lediglich einen Raum beherbergte. Wedekind schätzte, dass er etwa sieben Meter breit und fünf Meter tief war. Rechts sah der Antiquar einen grob behauenen, hölzernen Tisch und vier Stühle. Auf dem Tisch standen Teller und Becher und auf den Tellern konnte er Reste von Nahrung erkennen. Es hatte den Anschein, als wären die Bewohner während des Essens einfach aufgestanden und hinaus gegangen.
An der der Tür gegenüber liegenden Wand gab es einen großen Schrank, eine Art Sideboard, auf dem zwei große Schüsseln standen, sowie einen Herd, neben dem Holzscheite aufgestapelt waren.
Links von der Tür sah er ein großes und ein kleines Bett und an einer Schnur, die kurz unter der etwa zweieinhalb Meter hohen Decke gespannt war, hing eine Art Vorhang. Dieser diente wohl dazu, den Schlafbereich vom übrigen Raum abzutrennen, war aber jetzt zur Seite geschoben. Niemand befand sich im Haus.
Harbon blieb neben dem Tisch stehen und berührte die Nahrungsreste mit dem Finger.
„Kalt“, brummte er. „Das sieht mir nach einem eiligen Aufbruch aus.“ Er schaute Wedekind ernst an. „Stellt sich die Frage, was die Bewohner veranlasst hat, ihr Haus so überstürzt zu verlassen.“
„Das kenne ich aus einer Menge Horrorfilme“, brummte Wedekind und ignorierte den fragenden Blick des Zauberers. „Diese Geschichten gingen meistens nicht gut aus.“
Harbon nickte.
„Mir gefällt das auch ganz und gar nicht.“
Sie verließen das Haus und Harbon fing den Syrill wieder ein. Er nickte in Richtung der nächsten Blockhütte.
„Schauen wir, wie es dort aussieht.“
„Wenn du mich fragst, können wir uns das sparen, Zauberer“, murmelte der Antiquar. „Ich wette, das ist wieder irgendeine Teufelei von unserer Lieblingsfreundin Verline.“
Harbon ging nicht darauf ein und näherte sich dem nächsten Haus. Wedekind warf über den kleinen Platz hinweg einen Blick zu Elden, der gerade mit Jolene aus einem der anderen Gebäude kam. Der hochgewachsene Mann hob die Schultern und schüttelte den Kopf. Wedekind nickte bestätigend, dann folgte er Harbon.
Der Zauberer hatte die Tür bereits geöffnet und der Syrill schwebte in das Haus. Sie sahen sich kurz um. Auch hier war kein Mensch zu sehen. Sonst bot sich ihnen derselbe Anblick, wie in der anderen Hütte.
„Hier gibt es nichts zu finden“, meinte Harbon.
Er ging in Richtung Tür. In diesem Moment hörten Sie von draußen einen lauten Ausruf, den sie nicht verstehen konnten, dann einen Fluch.
„Das war Gorman!“
Harbon begann zu laufen, steckte den Syrill in seinen Beutel und fasst das Schwert fester. Wedekind folgte ihm mit zusammen gebissenen Zähnen.
Der Anblick, der sich ihm auf dem Dorfplatz bot, war dazu angetan, das Blut in seinen Adern gefrieren zu lassen.
Mitten auf dem Platz standen Gorman und Martis. Beide hielten ihre Schwerter in den Händen. Sie waren umzingelt von mindestens drei Dutzend Gestalten, die auf den ersten Blick wie Menschen aussahen, sich aber … nicht so anfühlten. Wedekind fiel kein anderes Wort dafür ein. Harbon fluchte.
„Drollinge!“
Er stürmte nach vorn und packte sein Schwert mit beiden Händen. Auf der anderen Seite des Platzes erblickte Wedekind jetzt Elden und Jolene, die mit gezogenen Waffen heran gestürmt kamen.
Die Angreifer trugen Alltagsgegenstände, die sie wie Waffen führten: Mistgabeln, Äxte, Sensen, einfache Messer. Es handelte sich um Männer und Frauen und, wie Wedekind mit besonderem Grauen feststellte, auch um einige Kinder.
„Das ist wie in Friedhof der Kuscheltiere“, murmelte er.
Dann sah er, wie Harbon dem ersten Drolling, einem kräftigen Mann, der ihn nicht kommen sah und gar nicht merkte, wie ihm geschah, mit einem fürchterlichen Hieb den Kopf vom Rumpf trennte.
„Ihr müsst ihnen die Köpfe abschlagen!“, brüllte der Zauberer, „Nur so könnt ihr sie aufhalten. Nehmt keine Rücksicht, das sind keine Menschen mehr – auch die Kinder nicht!“
Die Drollinge hatten inzwischen gemerkt, dass ihnen von unerwarteter Seite Gefahr drohte, und wandten sich den neuen Angreifern zu. Sie waren mindestens in sechsfacher Überzahl, wenn sie auch nicht so gut bewaffnet waren, wie Wedekind und seine Freunde.
Einen kurzen Moment sah Wedekind Gorman und beobachtete für eine Sekunde oder zwei, wie sich der Fürst wie ein Tänzer mit seinem Schwert zwischen den im Vergleich dazu plump wirkenden Gestalten der ehemaligen Dorfbewohner bewegte. Dieser Moment hätte den Antiquar fast das Leben gekostet, denn er hatte nicht bemerkt, dass sich ihm eine Frau mit einem langen Messer näherte. Erst im letzten Moment nahm er eine Bewegung wahr und warf sich herum. Das Messer, das eigentlich auf seinen Rücken gerichtet war, drang an seinem Oberarm durch die Jacke und schnitt durch seine Haut, drang aber zum Glück nicht tief ein. Der Schmerz machte Wedekind hellwach. Er wirbelte herum und schlug mit dem Schwert nach der Frau, traf den Arm, mit dem sie das Messer gegen ihn geführt hatte. Es drang kurz über dem Handgelenk ein. Der Hieb war nicht stark genug, den Arm zu durchtrennen, aber das Messer wurde der Frau aus der Hand geschlagen. In ihrem Unterarm klaffte eine Wunde, die bis auf den Knochen reichte. Wedekind sah verwundert, dass kein Tropfen Blut hervortrat. Trotzdem gab die Frau keinen Laut von sich. Ihr Gesicht war hassverzerrt und sie bückte sich, um das Messer mit der anderen Hand wieder aufzuheben. Wedekind packte das Schwert mit beiden Händen und ließ es von oben auf den Nacken der Frau krachen. Mit einem hässlichen Geräusch durchtrennte die scharfe Klinge den Hals des Untoten. Der Kopf rollte über den Boden. Schlaff fiel der Körper der Frau zu Boden.
Wedekind war von Grauen geschüttelt und kämpfte mit der Übelkeit. Aber ihm war klar, dass er es sich nicht erlauben konnte, in seiner Aufmerksamkeit nachzulassen. Er löste sich von dem Anblick des Körpers, der begonnen hatte, sich aufzulösen. Harbon erschlug gerade ein etwa achtjähriges Kind – nein, kein Kind, einen Drolling, der im Körper eines Kindes steckte, das musste sich der Antiquar immer wieder vor Augen führen. Er schüttelte den Gedanken ab, denn ein drahtiger, kleiner Mann griff ihn mit einer Sense an. Wedekind wich zur Seite aus. Der Mann war mit dem langstieligen Erntegerät ziemlich unbeweglich und taumelte vom eigenen Schwung getragen an Wedekind vorbei. Der Antiquar hieb mit dem Schwert nach dem Rücken des Drollings, verfehlte ihn aber. Er blieb mit Mühe auf den Beinen. Wedekind bereitete sich auf den nächsten Angriff vor, als Harbon plötzlich einen lauten Fluch ausstieß.
„Das reicht jetzt!“ Der Zauberer klang wütend. Er murmelte einige Worte. Im nächsten Moment zerplatzte der Schädel des Mannes, der Wedekind gerade wieder angreifen wollte. Auch die Köpfe von vier anderen Drollingen, die sich in der Nähe des Zauberers aufhielten, wurden förmlich zerrissen. Ihre Körper erschlafften und sanken zu Boden. Das verschaffte Wedekind die Gelegenheit, sich umzuschauen. Seine Freunde waren noch alle auf den Beinen. Martis hatte eine blutende Wunde am linken Oberarm. Von den Drollingen waren noch etwa ein gutes Dutzend übrig geblieben, aber Harbon hatte vor, das schnell zu ändern. Wieder drang ein Zauberspruch aus dem Mund des Zauberers, diesmal lauter und die Köpfe von sechs Drollingen zerstoben. Die übrigen wandten sich demjenigen Angreifer zu, von dem ihnen die meiste Gefahr drohte, und stürzten sich auf Harbon. Gorman fing eine kräftige Frau, die ein kleines Beil schwang, mit einem Schwerthieb gegen den Oberkörper ab, drehte sich und enthauptete sie in einer einzigen fließenden Bewegung. Elden stellte sich einem großgewachsenen Mann in den Weg. Der Waldläufer brauchte nur einen Hieb mit seinem langen Schwert, um den Kopf des Drollings vom Körper zu trennen. Die übrigen drei Untoten erledigte Harbon mit einem erneuten Zauberspruch.
All das hatte sich in maximal drei oder vier Minuten abgespielt. Die Angreifer hatten keinen Laut von sich gegeben, was den Angriff besonders gespenstisch gemacht hatte – neben der für Wedekind nach wie vor erschreckenden Tatsache, dass einige der Drollinge von Kindern Besitz ergriffen hatten.
Die Gefährten schauten sich misstrauisch nach allen Seiten um, aber es schien keine weitere Gefahr zu drohen.
Ekel ergriff Wedekind, als er sah, wie sich die Körper der ehemaligen Dorfbewohner in atemberaubender Geschwindigkeit auflösten. Dabei verströmten sie einen Gestank, der dazu führte, dass Wedekind den Brechreiz nicht mehr kontrollieren konnte. Er wandte sich ab und übergab sich. Harbon trat neben ihn.
„Lass mich deinen Arm anschauen, Wedekind.“
Der Antiquar richtete sich auf, wischte sich mit dem Ärmel seiner ohnehin ruinierten Jacke über den Mund und zog das Kleidungsstück dann aus. Harbon suchte in seinem Beutel und brachte eine Flasche hervor. Mit einem nassen Lappen reinigte er die Wunde, brachte dann einige Kräuter aus den unergründlichen Tiefen seines Beutels zum Vorschein, die er in Wasser tauchte und auf der Wunde verteilte. Dann verband er Wedekinds Arm.
Der Antiquar nickte dankbar und Harbon wandte sich Martis zu, um dessen Wunde zu behandeln. Die anderen waren glücklicherweise mit dem Schrecken davon gekommen.
Wedekind gesellte sich zu Elden und Jolene.
„Du hast dich großartig geschlagen“, meinte der Waldläufer gerade und lächelte die dunkelhäutige Frau an. „Dein Tai-irgendwas macht sich bezahlt.“ Er grinste.
„Ja, das hat mir schon oft geholfen.“ Sie schaute Wedekind an. „Bist du in Ordnung? Schmerzen?“
Der Antiquar schüttelte den Kopf.
„Halb so wild“, meinte er und brachte ein Lächeln zustande. „Viel schlimmer waren die Kinder.“ Er schüttelte sich.
Jolene nickte.
„Ja, das war grauenvoll. Diese Verline schreckt vor nichts zurück.“
Elden verzog das Gesicht.
„Wir müssen mit allem rechnen. Verline wird alles aufbieten, um an der Macht zu bleiben. Ich fürchte, das hier“, er machte eine umfassende Geste, „ist erst der Anfang.“
Wedekind stellte sich lieber nicht vor, was noch alles auf ihn und die anderen zukommen würde.
Harbon hatte inzwischen Martis verarztet.
„Wir müssen uns noch ein Lager für die Nacht suchen“, meinte er. „Ich nehme nicht an, dass ihr viel Lust verspürt, in einem der Häuser zu schlafen.“
Wedekind lief es eiskalt über den Rücken.
„Nein, ich zumindest nicht.“ Er schaute in die Runde und sah überall Kopfschütteln.
Gorman sah zum Himmel.
„Viel Zeit haben wir nicht mehr. Erinnert ihr euch an den kleinen Bach, den wir etwa eine Meile vor dem Dorf überquert haben? Da gibt es sicher einen Platz, der für eine Übernachtung taugt.“
Harbon nickte.
„Das ist wohl die beste Lösung. Wir wissen nicht, ob wir in der anderen Richtung wieder etwas finden, wo wir die Pferde tränken können.“
Damit war es beschlossen. Als Wedekind auf sein Pferd stieg, warf er noch einmal einen Blick auf den Dorfplatz. Der Anger lag still da und es gab kaum ein Zeichen von dem, was hier vor wenigen Minuten geschehen war. Die überall umher liegenden Gerätschaften, die in den Händen der Drollinge zu Waffen geworden waren, konnte man in der Dämmerung kaum sehen. Die Überreste der Körper waren längst verschwunden, in den Boden gesickert.
Noch einmal schlich sich das Grauen in Harbons Bewusstsein und seine Nackenhaare sträubten sich. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er in dieser Nacht viel würde schlafen können.
Mit einem Seufzer drückte er seiner Stute die Fersen in die Seite und folgte seinen Kameraden, die bereits einige Dutzend Meter zurückgelegt hatten.