7. Am Vorabend des Brotes

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Rokwe

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7. Am Vorabend des Brotes

Zuerst wollte ich etwas schaffen, aber ich scheiterte.
Dann wollte ich nur noch entdecken, und ich fand.

Diese zwei Sätze genügen, um mit wenigen Worten mein Leben zu beschreiben. Die Erkenntnis, daß ich zwar nicht schaffen, aber doch zumindest entdecken konnte, war vielleicht die grundlegendste, die ich je gemacht habe. Es war nun nicht mehr deprimierend, daß ich nicht schöpferisch tätig werden konnte, nein, es war gut so, so mußte es sein, so war es sogar tröstlich. Ich begriff mich allmählich als Teilstück, das als eines von vielen in einen grösseren Zusammenhang eingebunden ist, nicht mehr nur als einen isolierten Einzelgänger, der krampfhaft versucht, aus sich heraus ein Gegenüber zu erzwingen. Die Welt lag mir nicht gegenüber, nein, ich war in ihr. Allein der Gedanke daran, etwas erschaffen zu wollen, erschien mir nun lächerlich und vermessen, ja gefährlich. Sich jedoch mit Hilfe der Kunst zu Wort zu melden, auf die Welt zu antworten und dadurch die Menschheit einen kleinen Schritt weiter aus ihrer globalen Stummheit herauszuführen, war eine Idee, die sich in mir festsetzte und mich nicht mehr losließ. Voller Begeisterung besuchte ich einige Museen ein zweites Mal und sah diesmal alles aus einem völlig anderen Blickwinkel als zuerst. Ein bestimmtes Bild mit religiösem Inhalt war nun nicht mehr eine kontextlose, unverständliche Sakral-Emanation des Künstlers, sondern ein optisches Argument in einem jahrhundertewährenden, theologischen Streit – oder der naive, liebevolle Ausdruck einer unschuldigen Volksfrömmigkeit. Es war nun Teil eines Ganzen, Buchstabe in einem wohlklingenden Wort, Wort in einem geheimnisvollen Text, Text im Buch des Lebens. Es war ein Glied am Körper der Kunst- und Geistesgeschichte; angekündigt, ermöglicht und provoziert durch tausend Ereignisse, die ihm vorausgingen; vergöttert, verflucht und ignoriert durch tausend kritische Blicke, die jünger waren als das Bild und es streiften. Ein anderes Bild begriff ich nun eindeutig als ein „ja“ zu irgendeiner offenen Frage; wieder ein anderes schien etwas abstreiten zu wollen, schien ein „nein“ zu sein, das aber für die Nachwelt selbst wieder als ein Fragezeichen fungierte. Ein drittes stand offenbar im Mittelpunkt einer Diskussion, wollte sich arrogant im Glanze seiner Schlagkraft sonnen, während benachbarte Bilder nur durch ihre Präsenz stummen Beifall murmelten oder in kalter Verachtung schwiegen. Am meisten setzten mich aber jene Gemälde in Erstaunen, die nicht bewußt zu kommunizieren schienen, sondern einfach nur da waren. Hier ein unbekanntes Mädchen, dort eine geheimnisvolle Blume, schließlich eine menschliche Hand, die nichts berührte und doch streichelte – sie stellten einfach nur dar, spielten, waren einfach, hatten keine Rechtfertigung nötig, ignorierten alle denkbaren Querverweise, setzten der Verbissenheit aller Logik und Kausalität einen heiteren, sinnlosen Sonnenstrahl entgegen, quittierten jede hineininterpretierte Kontextualität mit einem autistischen Kinderlied ...
Jedes Bild war ein Medium, ein „Mittelding“, das je nach Epoche, Technik, Motiv oder Absichten des Künstlers unterschiedlich verstanden werden konnte. Während das eine den Betrachter durch eine filternde Brille sehen ließ und ihm eine bereinigte Scheinwelt zeigte, fungierte ein anderes als Vorhang und zeigte ihm bewußt nicht alles, was da ist; ein drittes diente als Lupe und machte ihn auf ein kleines Detail aufmerksam, während das vierte ein unbarmherziger Spiegel war und den Betrachter mit sich selbst konfrontierte. Grundsätzlich waren die Kunstwerke an sich nichts Eigentliches – sie waren nur das Mittel, um sich dem Eigentlichen zu nähern. Sie kreisten wie düstere Vögel um einen uralten Turm, der Geheimnisse in sich barg; sie kreisten um etwas Unfaßbares, um etwas Unsagbares, sie schienen es einkreisen zu wollen, um es sichtbar zu machen; sie wollten es in die Offenbarung zwingen, waren der verzweifelte und gleichzeitig geniale Ausdruck menschlicher Neugier und eines unersättlichen Sehnens – ja, wenn ich all diese Bilder so betrachtete, verstand ich, daß die Künstler auf der Suche gewesen waren, manches gefunden und manches verfehlt hatten, und daß all ihr „Schaffen“ schlicht und einfach das Zeugnis ihres Suchens, ihres Findens, ihres Menschseins war ... Was aber war nun mit dem Mädchen, der Blume, der streichelnden Hand? Kreisten auch sie um einen uralten Turm, oder waren sie Fixsterne, die einfach nur da waren und schön sein wollten? Nicht alle Fragen konnte ich klären, vieles blieb geheimnisvoll.
Ein zweites Mal verließ ich nun mit veränderter Kunst-, also auch Weltsicht die Ausstellungsräume, und wieder schwieg ich angesichts der Großartigkeit meiner neuen Entdeckungen. Meine Eltern mögen zwar bemerkt haben, daß ich unerklärlicherweise freiwillig ins Museum ging – welche abenteuerlichen Entdeckungsreisen ich dabei aber unternahm, ahnten sie nicht. Selbst wieder künstlerisch ans Werk zu gehen, war für mich weiterhin passé, zumindest was die Malerei anbelangte, denn ich hatte ja festgestellt, daß ich nicht begabt genug war, und an dieser banalen, aber unbezweifelbaren Tatsache ließ sich wohl nichts ändern. Wenn ich aber selbst nicht malte – was sollte ich dann tun? Denn daß ich etwas tun wollte, stand für mich außer Frage; ich hoffte, daß meine untätige Passivität für immer der Vergangenheit angehörte. Welche Rolle könnte ich wohl in der kosmischen Diskussion spielen, die in der Sprache der Kunst und überall dort, wo der menschliche Geist am Werk war, abgehalten wurde? War mir nur der Status eines Zuhörers und Betrachters zugedacht, oder durfte ich vielleicht auch einmal eine Frage stellen? Konnte ich irgendwie, beispielsweise mit Hilfe einer künstlerischen Begabung, von der ich jetzt noch nichts ahnte, einen Zwischenruf wagen, der noch einige Generationen nachhallen würde – oder war mein Leben nichts weiter als der kurze, zaghafte Applaus aus der Masse, der angesichts des bombastischen Fortissimo eines berühmten Solisten ungehört erstirbt?
Monate verstrichen; ich grübelte viel, konnte aber zu keinen weiteren Erkenntnissen gelangen. Ich war in einer Sackgasse angelangt. In mir war ein Potential vorhanden, das ich zwar unterschwellig spürte, aber noch nicht konkret benennen konnte; es schlummerten verborgene Energien in mir, die nur darauf warteten, aktiviert zu werden. Ich war eine kritische Masse, die auf ihren Auslöser wartete. Viele Stunden, ja Tage verbrachte ich damit, trübsinnig herumzusitzen oder im Park spazierenzugehen. Oft dachte ich an jene wundervolle, begeisternde Welt der Kunst, erinnerte mich an all das, was ich in ihr erkannt hatte, wußte aber gleichzeitig, daß ich kein gleichberechtigter Teil dieser Welt war und wohl nie in ihr Innerstes vordringen würde. So wandte ich mich notgedrungen von ihr ab, ganz langsam und wehmütig, aber mit bitterer Entschlossenheit, und sie verblaßte, ließ mich los und machte mich frei für das, was kommen sollte. Meine Euphorie erstarb, ich wurde leer, kehrte mich nach innen und sammelte Kräfte, die nicht nach außen drangen. In mir staute sich etwas an; es hatte keinen Namen, war in mir gefangen, schrie immer lauter nach einem Ventil und wartete auf den Moment der erleichternden Eruption. Wann dieser Moment kam, war nur eine Frage der Zeit.
Die Flamme, die mich schließlich zur Explosion brachte, flackerte an einem für die Welt recht unbedeutenden Tag auf, der auch für mich zunächst uninteressant und langweilig verlief, aber plötzlich folgenschwer über mich hereinbrach. Es war der Tag, an dem ich zum ersten Mal bewußt sah, daß meine Eltern Brot wegwarfen. Als ich am Küchentisch sitzend miterleben mußte, wie ein halber Laib Brot, der wohl schlimmstenfalls altbacken und etwas hart gewesen sein dürfte, aber in keinster Weise wirklich ungenießbar war, in den Mülleimer plumpste, geschah etwas mit mir.
 



 
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