8. Birgit

molly

Mitglied
7. Birgit

Gerade, als er den letzten Bissen in den Mund schob, streckte ein Mädchen den Kopf zur Tür herein. Sie war größer als Christian.
„Komm zu uns“, sagte der Vater.
„Ist das eine Einladung?" fragte das Mädchen zurück.
„Klar“, lachte der Vater, „oder fürchtest du dich vor uns?"
"Ne“, sagte das Mädchen und machte die Tür weit auf. Sie hüpfte zum Tisch und dabei wippte ihr blonder Pferdeschwanz hin und her. Sie zog sich einen Stuhl heran, setzte sich rittlings darauf und betrachtete Christian. Der hatte auf einmal keinen Appetit mehr. Er konnte es nicht leiden, wenn ihm jemand beim Essen zusah. Er schob den Teller zurück und beugte sich über seine Milchtasse. Das Mädchen sprach seinen Namen knallhart aus, als sie sagte: „Du also bist Kris!
„Klar, und wer bist du?"
„Birgit! Ich wohne in dem neuen Haus gegenüber.“
Nun erkundigte sich Vater, wann Birgit mit ihrer Familie dort eingezogen sei. Sie spreizte Daumen und Zeigefinger weit auseinander und sagte:
„Seit ich so groß bin, wohnen wir da.“ Dann deutete sie mit dem Zeigefinger auf Christians Vater, senkte die Stimme und sagte: „Meine Mama kennt dich!“
„Wie heißt sie denn?" wollte der Vater wissen.
„Mit Vornamen Silke und Nachname Schulze!"
Der Vater schlug mit der Hand auf den Tisch und sagte: "Ja, natürlich, die Silke. Gris, das war auch eine Freundin von deiner Mutter!“ Birgit blinzelte Christian zu und fragte: „willst du mein Freund sein, jetzt in den Ferien?"
Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet und starrte sie mit offenem Munde an. Wenn er geahnt hätte, was ihn mit Birgit alles erwartete, wäre er sicher sofort einverstanden gewesen. So aber zögerte er.
„Willst du oder willst du nicht?" fragte sie noch einmal. Hilfesuchend schaute er zu Vater, doch dieser zuckte nur mit den Schultern.
„Ich weiß nicht, ich habe noch nie mit einem Mädchen gespielt“, stammelte er. Birgit warf den Kopf zurück, stand auf und stellte den Stuhl mit einem harten Ruck an den Tisch.
„Na, denn eben nicht!" sagte sie und rannte zur Tür.
„Warte, warte doch“, rief Christian hinterher. Augenblicklich kehrte sie zum Tisch zurück.
„Warum bist du denn gleich so wütend? Ich kenne dich doch gar nicht und kenn auch deine Spiele nicht.“
„Das lass nur meine Sorge sein. Am liebsten spiele ich verstecken!"
„Und ich Fußball!" seufzte Christian leise.
„Au fein“, sagte Birgit, „das macht mir auch Spaß!“ Birgit war so ganz anders als alle Mädchen, die er kannte. Seine Klassenkameradinnen streckten in der Hofpause tuschelnd die Köpfe zusammen, tauschten Albumbilder und Aufkleber. Die beiden Mädchen, die bei ihm in der Straße wohnten, liefen Rollschuh, hüpften Seil oder spazierten mit ihren Puppenwagen den Gehweg auf und ab. Aber er hatte noch keine beim Fußballspiel gesehen, und er kannte auch ihre anderen Spiele nicht. Er sagte: „Ich spiele immer mit meinem Freund Stefan. Hast du hier keine Freundin?“
„Jede Menge“, sagte Birgit, „aber die wohnen alle in der Stadt, wo auch meine Schule ist. Hier im Dorf ist Hille meine Freundin. Sie hat leider nicht oft Zeit zum Spielen!“
„Hille!“, rief Christian verwundert aus, „die ist doch schon alt, eine richtige Frau!"
„Na und wenn schon“, erwiderte Birgit und warf den Kopf zurück. „Jedenfalls ist sie hier meine allerbeste Freundin! Doch jetzt komm mit, ich zeige dir die Gegend!"

Das ließ Christian sich nicht zweimal sagen, er folgte Birgit sofort nach draußen. Nur noch einzelne kleine Pfützen erinnerten an den großen Regen vom vergangenen Tag.
„Da springen wir rüber, aber nicht hineintreten, folge mir!" befahl Birgit. Viel lieber wäre Christian durch die Wasserlachen gestapft, aber er hatte beschlossen, vorerst Birgits Spiele mit zu machen. Hüpfend und springend führte sie ihn zu einem Nebengebäude. Es war ein Fachwerkhaus, wie die Gastwirtschaft vom Großvater. Aber zwischen den Balken war die Mauer nicht weiß gestrichen, sondern bestand aus roten Backsteinen. Am besten gefielen Christian die Giebelbalken, die in zwei geschnitzten Pferdeköpfen mündeten. Es sah aus, als säßen zwei Steckenpferde auf dem Dachfirst, und jedes schaute in eine andere Richtung. Birgit erklärte ihm, dass in dieser Gegend die meisten Bauernhäuser, Scheunen und Ställe so aussähen.
Sie standen nun vor einem großen Holztor, und in diesem Tor war noch eine kleine Tür, die Birgit öffnete. Sie zog Christian ins Gebäude und flüsterte: „Komm, ich zeige dir den Fuhrpark.“
Sie ließ die Tür einen Spalt breit offen und als sich Christian an die Dämmerung gewöhnt hatte, erkannte er einen großen Wagen und eine offene Kutsche. Birgit stieg auf die Wagendeichsel des größten Wagens und kletterte auf die Bank. Sie streckte Christian die Hände entgegen und zog ihn zu sich.
„Hier sitzt immer der Kutscher", flüsterte sie.
„Und wer ist das?“ erkundigte sich Christian.
„Dein Großvater oder der olle Henning natürlich, solange sie einkaufen, können wir uns die Wagen in aller Ruhe anschauen!“ Sie verließ den Kutschbock und kletterte ins Wageninnere. Christian folgte ihr zögernd. Nun saßen sie sich auf den langen Holzbänken gegenüber und Christian stützte seine Ellenbogen auf den Tisch in der Mitte.
„Für was sind denn die vielen Löcher in der Tischplatte?" fragte er. Birgit beugte sich unter die Bank, holte eine Bierflasche hervor und diese stellte sie in ein Loch.
„Wenn die Leute mit dem Wagen durch die Heide rollen, stellen sie ihre Getränke da rein, dann kippen die Flaschen nicht um.
Komm, wir setzen uns mal in die offene Kutsche!" Birgit kletterte voraus, doch sie kam sogleich wieder zurück. Sie deutete mit der Hand auf die Bank und zischte: "Versteck dich sofort!"
Christian gehorchte wortlos, auch er hatte die Stimmen gehört, die immer deutlicher wurden. Christian erkannte Großvater tiefe Stimme. Er fragte: "Na nu, Henning, warum steht denn die Tür offen?" „Keine Ahnung, Chef“, antwortete die andere Stimme, „vielleicht war das die kleine Birgit, die spielt hier sehr gerne!" Der Großvater sagte: „Das werde ich ihr bei der nächsten Gelegenheit strengstens verbieten. Sie hat hier nichts zu suchen, könnte sich an den Wagen verletzen, und dann hätten wir nichts als Ärger mit der Mutter!“
Er ging einige Schritte in das Gebäude und rief: „Ist da jemand?“
Christian wäre am liebsten unter der Bank hervorgekrochen. Aber Birgit schüttelte wie wild den Kopf und legte den Finger auf den Mund.
„Schließ die Tür ab, Henning“, sagte der Großvater.
Jetzt war es stockfinster im Raum. Christian spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken kroch. Warum nur hatte er sich nicht gemeldet, als der Großvater rief. Und nun war er eingesperrt, wer weiß wie lange. Vielleicht würden der Vater und der Großvater ihn bald suchen und hier finden. Bei diesem Gedanken spürte er sein heißes Gesicht. Und jetzt lachte Birgit auch noch.
„Hör schon auf", grollte Christian, „vielleicht müssen wir den ganzen Tag hier bleiben!"
„Ach Quatsch", schnaubte Birgit, „ich hab dir doch gesagt, dass ich gerne Verstecken spiele. Ich kenne mich hier doch aus. Aber weißt du, was mich ärgert?" „Was denn?" fragte Christian zurück.
„Dass der Henning "kleine Birgit" gesagt hat und dabei bin ich schon bald zehn Jahre. Warte!" Birgit stieg vom Planwagen. Sie tastete sich an der Kutsche vorbei und dann hörte Christian keinen Laut mehr.
„Bist du noch da?" rief er und ärgerte sich, weil seine Stimme so zitterte.
„Nur keine Bange", rief Birgit zurück.
Christian starrte angestrengt in die Dunkelheit. Langweilig würde es ihm sicher nicht werden, das wusste er jetzt schon. Irgendwo knackte und quietschte es. Dann traf ihn ein greller Lichtstrahl. Birgit hatte die Hintertür geöffnet und Christian eilte zu ihr. Sie schmetterte die Tür wieder zu und sagte: „Die ist immer offen, jedenfalls fast immer!"
Sie rannten um das Gebäude. Als sie auf der Vorderseite ankamen, stand der Großvater beim Auto und hob einen Korb aus dem Kofferraum.
„Langsam jetzt“, befahl Birgit und gemächlich schlenderten sie zu ihm.
„Morgen“, sagte Christian leise. Der Großvater erwiderte den Gruß und bat die Kinder, beim Ausladen mit zu helfen. Birgit und Christian trugen Käse in die Vorratskammer, brachten die Heidelbeeren in den Kühlkeller und schleppten zusammen einen Spankorb mit Bohnen in die Küche. Dort fragte Frau Kruse, ob sie beim Tisch decken helfen wollten. Nachmittags war eine Gruppe mit dem Planwagen unterwegs und anschließend würden die Leute im Gasthof Kaffee trinken und Butterkuchen essen.
„Das schaffen wir alleine“, entschied Birgit. „Für wie viel Leute sollen wir decken?"
"In Ordnung", sagte Frau Kruse, „bis 35 könnt ihr ja sicher schon zählen!" Sie ließ die Kinder allein und die beiden stapelten das Geschirr auf den Servierwagen. Sie hatten schon drei Tische gedeckt als der Großvater den Raum betrat. Er setzte sich auf den Stuhl und sagte: „Ich verbiete euch, ein für alle Mal, dass ihr in meinem Fuhrpark spielt. Auf den Planwagen habt ihr nichts zu suchen. Ihr könntet herunter fallen und euch verletzen." Er machte eine Pause, runzelte er seine Stirn und fragte ernst: "Klar?“ Birgit zwinkerte Christian zu und beide nickten eifrig.
Birgit verabschiedete sich und Christian fragte den Großvater: "Nimmst du mich mit in die Heide?" Der schüttelte den Kopf. „Nicht, solange dein Vater da ist, du möchtest sicher noch ein paar Stunden mit ihm verbringen.“
Da hatte der Großvater zweifellos Recht.
 



 
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