abschiedsgesang (sonettexperiment)

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Walther

Mitglied
abschiedsgesang


du trittst aus einem dunkel an das licht
& weißt das bist du nicht
das kannst du niemals sein
du machst dich kleiner kleiner noch als klein

du formst dich um und um
& redest dich um alles legst dich krumm
entkleidest dich bis auf den letzten kern
gelitten zeigst du gern

weil das geschenk war deine umverwandlung
das außen das ein innen
zu sein schien schwebend in der fremden handlung

doch konntest du gewinnen
so ohne den der dich erst ganz gemacht
er musste zu früh gehn dir blieb die nacht
 

Walther

Mitglied
abschiedsgesang


du trittst aus einem dunkel an das licht
& weißt das bist du nicht
das kannst du niemals sein
du machst dich kleiner kleiner noch als klein

du formst dich um und um
& redest dich um alles legst dich krumm
entkleidest dich bis auf den letzten kern
gelitten zeigst du gern

denn das geschenk war deine umverwandlung
das außen das ein innen
zu sein schien schwebend in der fremden handlung

doch konntest du gewinnen
so ohne den der dich erst ganz gemacht
er musste zu früh gehn dir blieb die nacht
 

Walther

Mitglied
abschiedsgesang


du trittst aus einem dunkel an das licht
& weißt das bist du nicht
das kannst du niemals sein
du machst dich kleiner kleiner noch als klein

du formst dich um und um
& redest dich um alles legst dich krumm
entkleidest dich bis auf den letzten kern
gelitten zeigst du gern

denn das geschenk war deine umverwandlung
das außen das ein innen
zu sein schien schwebend in der fremden handlung

doch konntest du gewinnen
so ohne den der dich erst ganz gemacht
er musste zu früh gehn dir blieb die nacht

memento mori zum tode von susanne lothar
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Wir haben ein Gedicht mit jeweils drei Haupthebungen pro Vers und einer sehr unterschiedlichen Anzahl an Senkungen.
Es bekommt hierdurch einen besonderen Klang. Die Länge der Silben ist nicht gleichförmig, es ist nicht rein akzentgebunden.
Unterschiedliche Versfüße wechseln ab.

"Früh gehn" kann zwei Bedeutungen haben.
1. Nach dem Treffen in der Nacht früh am Morgen gehen.
2. früh sterben.

Beides hat seine Berechtigung - aber je nach Lesart erhält man ein völlig anderes Gedicht.
 

Walther

Mitglied
Hi Bernd,

danke für deinen eintrag. ich habe mal das silbenbild druntergelegt:
du trittst aus einem dunkel an das licht
xXxXxXxXxX
& weißt das bist du nicht
xXxXxX
das kannst du niemals sein
xXxXxX
du machst dich kleiner kleiner noch als klein
xXxXxXxXxX

du formst dich um und um
xXxXxX
& redest dich um alles legst dich krumm
xXxXxXxXxX
entkleidest dich bis auf den letzten kern
xXxXxXxXxX
gelitten zeigst du gern
xXxXxX

denn das geschenk war deine umverwandlung
xXxXxXxXxXx
das außen das ein innen
xXxXxXx
zu sein schien schwebend in der fremden handlung
xXxXxXxXxXx

doch konntest du gewinnen
xXxXxXx
so ohne den der dich erst ganz gemacht
xXxXxXxXxX
er musste zu früh gehn dir blieb die nacht
xXxXxXxXxX
ich freue mich auf weitere gedanken zu diesem text.

lg w.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo, Walter,
eine interessante Diskussion, und ich freue mich sehr, dass Du darauf eingehst. Ich weiß, dass man es so lesen kann, wie Du es dargestellt hast - und nach Opitz muss man es sogar so lesen.
Ich ziehe aber eine andere Rhythmik vor (aber abhängig vom Werk):

du trittst aus einem dunkel an das licht
xXxxxXxxxX
& weißt das bist du nicht
xXXxxX (oder auch xXXXXX - dann wäre aber ein Einfluss auf ander Verse vorhanden, die erste oder auch Deine Betonung sind hier auch möglich.)
das kannst du niemals sein
xXxXxX
du machst dich kleiner kleiner noch als klein
xxxXxXxxxX

du formst dich um und um
xXxXxX
& redest dich um alles legst dich krumm
xXxxxXxxxX
entkleidest dich bis auf den letzten kern
xXxxxxxXxX
gelitten zeigst du gern
xXxXxX

denn das geschenk war deine umverwandlung
xXxxxXxXxxx
das außen das ein innen
xXxXxXx (oder: xXxxxXx)
zu sein schien schwebend in der fremden handlung
xxxXxxxXxXx

doch konntest du gewinnen
xXxXxXx (oder: xxxXxXx)
so ohne den der dich erst ganz gemacht
xxxXxXxXxx
er musste zu früh gehn dir blieb die nacht
xXxxxXxxxxX
Nicht dargestellt habe ich die jeweiligen Nebenbetonungen. Auch die Verkürzungen habe ich nicht dargestellt.

Diese Betonungsart ist eine Alternative, in Einzelfällen gibt es auch andere Möglichkeiten.

Bei der "jambischen" und rein akzentuierenden Betonung wirkt es "leiernder", sie ist aber möglich und wohl auch korrekt und kann auch deklamierend gelesen werden.

Mein Vorschlag beruht auf einem gleichzeitigen Geschwindigkeitwechsel, von dem ich nicht genau weiß, wie ich ihn notieren soll.

zu sein schien schwebend in der fremden handlung
(xxxX)(xxxXx)(Xx)

Wenn ich es richtig verstehe, liest Du es monopodisch und ich dipodisch, wobei ich die Definition aus dem 19. Jahrhundert verwende, später wurde es sehr vereinfacht und "dipodisch" bedeutete nur noch "zwei Versfüße".

Ich habe das Konzept "mono- bzw. dipodisch" aber jetzt erst kennengelernt und bin nicht völlig sicher damit. Es erklärt mir aber, warum ich solche Verse oft anders gelesen habe, als andere, wobei aber eine andere Art der Dynamik entsteht.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die Reimform aabb ccdd in den Quartetten hat auch Friederike Kempner in ihrem "Sonett" verwendet. http://gedichte.xbib.de/Kempner_gedicht_Sonett.htm

Insgesamt ist sie in Sonetten eher selten. Hier passt sie aber.
In "klassischen" Sonetten wird sie von einigen Dichtern und in Verslehren aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts ausgeschlossen.
 

Walther

Mitglied
Lb. Bernd

zuerst eine paar überlegungen zum formalen, der architektur des texts. ich habe mir einige gedanken gemacht, als ich dieses sonett entwickelte. so wollte ich das umgreifende der reime in den beiden ersten strophen erhalten, ohne die reimform beibehalten müssen. das ist mit der konstuktion 5-3-3-5 3-5-5-3 (hier: hebungen) gelungen, obwohl das reimschema aabb ccdd ist.

auch in den terzetten habe ich in mit 5-3-5 3-5-5 das umgreifen und die moral von der geschicht sauber abgesetzt. das reimschema ist hier efe-fgg. ebenfalls habe ich mit den männlichen und den weiblichen kadenzen einen weiteren, die verse und ihre inhalte verstärkenden inhalt effekt in die konstuktion eingefügt.

zum zweiten: ich halte deine sichtweise für durchaus kompatibel mit der meinen, ist doch neben der rhythmik beim vortrag zusätzlich ein dramatisches element (gestik/mimik, lautstärke etc.) vorhanden. mit diesem kann - die rhythmik ist kontrapunktisch zu sehen - der sprachfluß und die sinngebende interpretation in ihn hineingebracht werden, um ihn lebendiger zu gestalten.

der vorleser eines gedichts ist als sprecher umso besser, je mehr er bzw. sie über ein rhetorisches bis schauspielerisch-kommödiantisches talent verfügen. wir erinnern uns an dieser stelle an die verwandschaft des gedichts mit dem lied (lyra). der minnesang war faktisch immer musikalisch unterlegt und das gedicht wohl eher libretto.

lg w.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Gut ist, dass ich Memento Mori als Variante erkannt habe, an die Schauspielerin habe ich aber nicht gedacht. Wenn man es weiß, passt aber alles.

Zu den Vortragsmöglichkeiten:
Deine ist die "normale". Welche besser wirkt, hängt wohl tatsächlich vom konkreten Vortrag ab.

Früher unterschied man "Skandieren" und "Deklamieren". "Skandieren" ist die im eigentlichen Sinne leiernde Vortragsweise. "Deklamieren" weicht hiervon ab, indem die Bedeutungsakzente eine größere Bedeutung erhalten.
Meine Darstellung nähert sich mehr der Prosa-Rhythmik, sie beachtet den Unterschied zwischen Haupt- und Nebenakzent stärker.

Die Idee, das Umklammernde auf die Takte zu schieben, finde ich gut.
 
A

AchterZwerg

Gast
Ach, wie mich solche detailverliebten Duelle freuen!
Leider sind sie allzu selten geworden ...

Hallo Walther,
mir gefällt die vorgestellte Form mit ihren interessanten Enjambements gut. Einzig:
entkleidest dich bis auf den letzten kern
gelitten zeigst du gern
"Gelitten" passt nicht, wenn man es im Zusammenhang liest.
Vielleicht fände sich da etwas anderes?

entkleidest dich bis auf den letzten kern
[blue]die blöße zeigst du gern[/blue]
???

Herzliche Grüße
Heidrun
 

Walther

Mitglied
hallo bernd,

in der tat ist die vortragsart deklamieren und skandidieren sehr unterschiedlich. sicherlich sollte die wahl, welche zu nehmen sei, einen bezug zum text haben. dieser hier eignet sich eher weniger zum skandieren.

wenn man eine weile in einer form schreibt, neigt man dazu, sie in ihrer gestaltbarbeit auszuloten, ein wenig die form auf variationen zu untersuchen. das sujet dieses sonetts forderte einen neuen weg an. diesen habe ich ge(ver?)sucht.

danke für deine beachtung und das gespräch darüber. es hat mich sehr gefreut, daß sich jemand dafür interessiert.

lg w.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
"Skandieren" wird eigentlich nur verwendet, wenn man den Takt prüfen will, insbesondere, ob es Abweichungen gibt zwischen Versakzent und Wortakzent.

Deklamieren nähert sich der Alltagssprache, ist aber erheblich "gebundener" und überbetont den Ausdruck.

Heute wird auch darauf meist eher verzichtet und man nähert sich der Alltagssprache, was aber mit dem Charakter des Textes übereinstimmen sollte.


Was "gelitten" betrifft, ich hatte ebenfalls Schwierigkeiten, das Wort zu verstehen.

Ich interpretiere es als "Wenn es gelitten ist." (Wenn es die anderen zulassen.)

Kurzzeitig glitt "geglitten" durch meine Gedanken ...

Es ist an dieser Stelle etwas mystisch bzw. vage, erweckt den Eindruck der Altertümlichkeit.
 

HerbertH

Mitglied
Lieber Walther, lieber Bernd,

ich würde hier die Unterscheidung eher auf Metrum vs. Rhythmus anstatt auf mono- vs. dipodisch legen. Dem Metrum sind im Prinzip eher alle Längen gleich lang, alle Kürzen gleich kurz, alle Betonungen gleich schwer, ein Jambus immer xX etc. Bei der rhythmischen Betrachtungsweise ist das nicht notwendig so. So erklärt sich die unterschiedliche Zahl der Hebungen, die ihr zählt, zwanglos als rhythmisch bedingte starke Unterscheidungen von betont und nebenbetont bzw. unbetont. Metrisch sind die Nebenbetonungen zunächst eben auch Betonungen, rhythmisch aber so gut wie unbetont.

Das ist übrigens keine Sichtweise, die ich theoretisch mit Zitaten untermauern könnte, sondern nur die eines Praktikers. Vielleicht renne ich damit ja auch offene Türen ein, die mir als solche gar nicht bekannt sind, da ich poesie-theoretisch zu wenig Background habe ;)

Herzliche Grüße

Herbert
 

Walther

Mitglied
hi 8erzwerg,

danke für deinen eintrag. solche debatten sind eher selten, stimmt. :) das liegt daran, daß man sich nicht immer die zeit nehmen mag bzw. kann, die man vielleicht sollte/könnte.

susanne lothar hat gern rollen von frauen gespielt, die leiden. das erklärt den vers "gelitten zeigst du gern". zugleich litt sie selbst am leben, war schwermütig / kompliziert. ulrich mühe, der früh verstorbene, war ihr anker, ihre ruhigere, ausgeglichenere hälfte. das war wohl fast symbiotisch.

ich hoffe, das erklärt und liefert den schlüssel zum text, der wohl ein wenig zu verdichtet ist an dieser stelle.

lg w.

lb bernd,

ist diese erläuterung aus deiner sicht verständlich, was diesen vers anlangt? danke für deine kurze idee dazu.

in der tat liest man heute anders. das gegenwärtige deklamieren ist dem aktuellen sprachgefühl, den sprechgewohnheiten unterworfen. ich denke, auch unser rhythmusgefühl hat sich geändert. die musik und der einfluß fremder sprachen prägen die sprachmelodie, die aussprache un.

wer lernt heute schon noch deklamieren und rezitieren? wir lesen "leise", das mag für belletristik angehen, lyrik braucht aber das ausgesprochen werden. hier wird übrigens der vers libre an seine grenze geführt. er muß eigentlich auch vorgetragen noch wirken. welcher, hier abgedruckte, tut das?

lg w.

lb herbert,

natürlich sind wir hier alle übende und keine literaturwissenschaftler. aber das wissen ums detail kann den blick verstellen. ein linguist muß kein lyriker sein, aber es schadet dem dichter nicht, ein wenig über sein metier "wissenschaftlich" zu wissen.

das schwierige ist, die sprachwissenschaft vom sprachhandwerk zu unterscheiden. das eine und das andere sich keine gegensätze, aber auch nicht notwendig identisch.

in der tat bist du ein könner. und das ist hier entscheidend. ;)

lg w.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Lieber Walter, die Erklärung zu "gelitten" ist verständlich, nur ist die Bedeutung "gelitten"="leidend" heute kaum noch klar. "Gelitten= "ertragen sein" dringt eher in den Vordergrund.

--- Genau das Wort "rezitieren" fiel mir nicht ein. Es ist die natürlichere Aussprache gegenüber Deklamieren.
 

Walther

Mitglied
lb. bernd,

das schöne an der aktuellen formulierung ist, daß sie dreifaches in sich trägt, das selbst an sich leiden, das gern gelitten sein im sinne von gern gesehen sein, das leiden spielen. es ist an diesem text faktisch alles "geplant", er ist nicht einfach geworfen, er ist entworfen und umgesetzt worden.

ja, das "rezitieren", das auswendige vortragen, das kennen und können wir nicht mehr. das ist uns verloren gegangen, und es ist nicht gut, daß das so ist. nur verstehen tut man das retrograd; in der schule er.leidet man das.

lg w.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Es gibt Gedichte, bei denen man alles genau plant, andere sind intuitiv.
Aber ich sage oft Gedichte laut auf oder lese sie laut. Das habe ich schon als Kind (Hexenmeister) und Jugendlicher (Morgenstern, Heine) so gemacht.
Nächste Woche habe ich wieder eine Lesung, gemischt Eigenes und Fremdes.
Laut lesen zeigt die Feinheiten.

Gedichte sind mehrdeutig und nutzen bewusst die Mehrdeutigkeit.
Durch den direkten Bezug zur Schauspielerin hast Du es eindeutiger gestaltet.

An "gelitten" bin ich hängengeblieben, aber nicht sehr, da mich die Rezitation gefangen hat und ich die alternative Betonung erprobte.
 

Walther

Mitglied
lb. bernd,

auch an dieser stelle meinen dank für deine klugen hinweisen zu rhythmik, rezitation, deklamieren. deiner lesung wünsche ich viel erfolg, gerne darfst du auch ein gedicht von mir lesen, ich würde mich geehrt fühlen.

lg w.
 



 
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