Abstand

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lietzensee

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Henry blickte von seinem Zettel in den Einkaufswagen und zurück auf den Zettel. Er hatte alles Wichtige bekommen und würde das Haus diese Woche nicht mehr verlassen müssen. Geübt überschlug er den Gesamtpreis. Dann faltete er den Zettel zwei mal zusammen und steckte ihn in seine Hemdtasche.
Über den drei Kassen hingen handgeschriebene Schilder: Sicherheitsabstand anderthalb Meter. Das war kein Problem. Er schätzte die Entfernung und positionierte seinen Wagen. Ein Problem war hingegen, dass die Meisten in der Schlange Masken trugen. Die verdeckten Mund und Nase, ließen nur die Augen frei und machten die Gesichter zu leeren Flächen. Henry hatte sich in Gegenwart von Masken immer unwohl gefühlt. Beim Fasching im Dorfhaus hatte er als Kind mal aus dem Saal rennen müssen, um sich zu übergeben.
Nach dem Bezahlen räumte er die Einkäufe eilig in seine Tasche, schwere Sachen zuunterst, Flaschen aufrecht stehend und den Karton mit Eiern ganz oben auf. Um Henry herum drängten sich immer mehr Masken. Nur weg hier. Er riss die Tasche an sich, zog den Gurt über die Schulter und fühlte, wie etwas unter seiner Achsel hervor glitt. Die Eier! Um den Schreck zu überwinden, brauchte er drei tiefe Atemzüge.
In diesem Moment hatte sich eine Frau schon reflexhaft nach dem Karton gebückt. Sie trug eine mit Blumen bemalte Maske. Über den Saum blickten zwei groß geschminkte Augen hinweg und ihre Haare waren zu einem blauen Scheitel gekämmt. Sie starrten einander an. Unschlüssig hielt die Frau den Karton in ihrer Hand. Schließlich streckte sie den Arm weit aus, wandte ihr Gesicht ab, beugte sich nach vorne und gab Henry so mit dem größtmöglichen Abstand den Karton zurück. Er drehte ihn prüfend in der Hand. „Danke“, sagte er und und starrte die Frau an.
„Bitte“, sie rieb sich ihre Hände mit Alkohol ein. Da er seinen Blick nicht abwandte, fragte sie noch: „Kennen wir uns?“
Henry verzog seine Lippen. Von jemanden der sein Gesicht verhüllte, war das eine ausgesprochen unhöfliche Frage. Er schob den Eierkarton in eine sichere Ecke seiner Tasche und trat durch die automatischen Türen. Bei unhöflichen Leuten fielen ihm leider nie die richtigen Worte ein. Dann bemerkte er auf dem Parkplatz, dass die Frau neben ihm ging. Sie hielt genau eine Parklücke Abstand. „Warum folgen sie mir?“
„Ich folge ihnen nicht.“
„Sie laufen in die selbe Richtung wie ich mit der selben Geschwindigkeit.“
„Ich trage meine Einkäufe zum Auto.“
In Bezug auf das Internet war Henry immer misstrauisch gewesen. Es gab dort viele Lügen und Versprechen die nicht eingehalten wurden. Ständig musste man auf der Hut sein. Darum hatte er erst spät entdeckt, dass das Internet neben Pornographie noch andere Möglichkeiten bot. Tatsächlich konnte man im Netz Bekanntschaften schließen. Man konnte Fragen stellen, ohne selbst sofort antworten zu müssen und was andere nicht erfahren sollten, musste man nicht preisgeben. Darum hatte er sich im Netz getraut, Frauen anzusprechen. Das ging leichter als gedacht. Aber welche Verbindung konnte das zum normalen Leben haben? Henry blieb stehen. Er rückte seinen Hemdkragen zurecht und sah ihr in das maskierte Gesicht. „Um ihre Frage zu beantworten, ja wir kennen uns.“ Er erinnerte sich genau an ihr Profilbild auf der Webseite, an den gefärbten Scheitel und die merkwürdige Art, ihre Augen zu schminken. Dieses Bild hatte er minutenlang studiert und dann vergrößert, um es auf Spuren von Bildmanipulationen zu prüfen. Sie hatten einander drei Nachrichten geschrieben. Dass sie im selben Viertel wohnten, war dabei aber nie zur Sprache gekommen. „Auf grossstadtflirt.de heiße ich Charlottenboy.
„Oh“, sie lief mit Abstand neben ihm und blickte auf den Asphalt. „Ich erinnere mich nicht.“
Das hätte er sich denken können. Er war nur einer von vielen gewesen. Frauen bekamen im Internet immer Nachrichten von etlichen Männern gleichzeitig. Sie konnten auswählen wie in einem Süßwarenladen. Er dagegen musste dutzende Nachrichten schreiben, um überhaupt eine Antwort zu bekommen. Meist verloren dann Regina, Susi oder Anna-Katharina nach ein paar Sätzen wieder das Interesse. Dabei war die Seite für Männer kostenpflichtig. Er begann zu rechnen.
„Jetzt erinnere ich mich.“ Sie zupfte ihre Maske zurecht und sah auf ein Schild: Betreten und Verweilen auf diesem Spielplatz verboten! „Ich glaube du warst der Löwe.“
Er sah sie an.
„Du warst Sternzeichen Löwe. Ich bin ein typischer Stier.“ Sie zog ein Fläschchen aus der Jackentasche und desinfizierte sich noch einmal die Hände.
Durch die Maske konnte er nicht erkennen, ob sie über ihn lachte oder das ernst meinte. Die darauf gemalten Blümchen verunsicherten ihn noch mehr und er umklammerte den Riemen seiner Tasche. Er sollte ihr etwas antworten, etwas Treffendes. Er wollte Interesse zeigen, aber wenn sie darauf nicht einging, durfte er auch nicht als Idiot dastehen. Solche Worte waren viel einfacher zu finden, wenn man sie vorher in einer kleinen Datei vorformulierte. Dann konnte man sie kopieren und einfügen. Aber je länger er jetzt zögerte, desto idiotischer wirkte er. Da besann er sich auf einen einfachen Rat, den ihm einmal seine Mutter gegeben hatte. Er ging einen Schritt auf sie zu. „Soll ich ihre Einkäufe tragen?“
„Nein“, ihre Blümchenmaske begann unter aufgeregten Luftstößen zu flattern. „Nein! Bleiben sie mir gefälligst fern. Drei Meter Abstand mindestens!“
Sie bekam einen Gefühlsausbruch. Die Brüste begannen zu zittern und über dem Mundschutz fingen ihre Augen an zu glänzen. Diese Körperlichkeit machte Henry Angst. Er begann zu zählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, zählen beruhigte ihn, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf.
„Halt!“ schrie sie.
„Was?“ Motorradbremsen quietschten und er spürte einen Luftzug, der ihn gegen die Brust drückte. Plötzlich lag er auf dem Bordstein. Aus seiner Tasche floss gelber Dotter. Reflexhaft zog die Frau ihn auf die Füße. Er sah ihre geschminkten Augen ganz nah und sie küssten sich. Unter seinen Lippen wurde ihr Mundschutz feucht. Er schmeckte nach Putzmittel.
Danach hatte sie es sehr eilig, sich zu verabschieden. Gleich gegenüber hatte sie ihr Auto geparkt und aus Gründen des Infektionsschutzes konnte sie ihn darin nicht mitnehmen. Henry stellte die Tasche auf den Gehsteig und winkte. Er versuchte schnell zu überlegen. „Regina, ich will dich wiedersehen!“ Sie schloss die Wagentür und hinter der Maske konnte er keine Reaktion erkennen. Zuerst war er froh über die Worte, die er gefunden hatte. Sie waren einfach und sagten, was er fühlte. Dann aber kamen ihm Zweifel. War ihr Name wirklich Regina gewesen?
 



 
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