Ach, Du dicke Lilly! - 1 – Die alte Jammer-Resi

Tessy

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Ach, Du dicke Lilly! - 1 – Die alte Jammer-Resi

© Tessy

Ich hätte es alles so belassen können wie es war. Aber Hand in Hand mit meinen Lieblingsfreundinnen namens Frustration, Langeweile und Neugier werde ich etwas auslösen, was mir eine Tür in eine andere Welt öffnet, in der alles anders ist als hier. Anders und glücklicherweise besser.

Nein, keine Angst - ich fliege nicht mit grünen Männchen durchs Weltall.

Aber mein Leben und auch das von vielen lieben Menschen um mich herum wird sich ändern. Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass fast jeder dabei etwas gewonnen hat. Die Zahl der Verlierer ist gering und mein Mitleid mit ihnen hält sich in Grenzen.

Meine Freundin glaubt ja an Elfen und Nymphen, die auf Geheiß von guten Feen ein großes Netz weben, auf dem wir Menschen von ihnen geleitet und geschützt einherwandeln, damit alles seine Bestimmung findet und sich zum Guten fügen kann. Das ist kompliziert und muss mit viel Aufwand in Balance gehalten werden, weil ja alles mit Allem in Verbindung steht. Fallen Menschen herunter, weil Trolle sie geärgert haben oder weil sie unachtsam waren, dann stellen die Nymphen und die Elfen sie wieder auf das Netz und versuchen, sie wieder auf ihren Weg zu bringen.

Wisst Ihr was, ich nehme das jetzt einfach einmal als Erklärung dafür, was mir in den letzten drei Jahren wiederfuhr.

Ich möchte meine Geschichte dort beginnen, wo ich damals glaubte, dass die Geschichte meines Lebens eigentlich schon zuende ist.

Ich heiße Therese Liliane und wurde immer Resi genannt. Aber dann habe ich beschlossen, mich 'Lilly' zu nennen, als Zeichen für den Schritt in meinen herbstlichen Lebensabschnitt.

Bei 'Lilly' denkt man an ein kleines tippelndes schmalhüftiges Wesen. Das bin ich nicht. Ich bin groß und kräftig. 'Die Seekuh' oder 'Das Elefantenküken' charakterisieren mein Erscheinungsbild - ein 54 Jahre altes und 1,77 Meter großes, gut 120 kg schweres, intensiv-pummeliges bayerisches Dorf-Vollweib mit breitem Hinterteil, für das man eine eigene Postleitzahl beantragen kann und kräftigen Oberschenkeln, auch schon mit Zellulitis Dellen. Meine Waden sind kräftig aber mit schlanken Fesseln. Mein Bauch zeigt Geweberisse und quillt wabbelnd über meinen fleischigen Unterbauch. Als Köchin könnte ich es als Berufsfigur titulieren aber neudeutsch sagt man dazu schlichtweg adipös.

Mein langes üppiges Pferde-Haar ist aufgrund einer Schilddrüsenerkrankung immer noch ziemlich dunkel. Aber ich bin ehrlich, ich helfe mit einem rötlichen Schimmer nach. Haare ohne Ende hieß es früher. Ich trage eine Brille mit starken Gläsern wie Glasbausteine. Kurzum, ich bin ein fettes, hässliches Entlein mit Watschelgang, das seine Massen mit wackelndem Hinterteil über den großen Zeh schiebt und nach dem sich auf der Straße niemand mehr umdreht.

Hätte ich mich nun immer brav an das gehalten, was meine Tochter Kati und mein Arzt mir vorgeschrieben haben, dann wäre vielleicht auch alles so geblieben wie es immer war.
Ich würde noch immer meinen Krankheiten frönen und einsam in dem kleinen Altenteil Häuschen meiner verstorbenen Eltern wohnen, am Staignweg 1, einer kleinen steilen Straße mit seinem alten holperigen Kopfsteinpflaster ausserhalb des kleinen Dorfes Achenweiler.

Rücken und Schulter würden mir immer noch wehtun. Mein Knie würden immer noch bei jedem Schritt wie 1000 Nadelstiche schmerzen. Mein Arzt hat mir ja 10 Gründe genannt, warum das so ist, aber genau weiß er es auch nicht. Vielleicht ist es auch rheumatisch oder sogar psychosomatisch. Dazu soll ich dann lieber einen Nervenarzt fragen. Am Besten erst einmal operieren und sehen, wie es dann ist und auch gleich das Hüftgelenk im Anschluss, hat er gesagt, der Arzt.

Ich würde immer noch eine Gehhilfe benötigen und Knie, Rücken und Schulter in meinem Alter schonen, wie mein Arzt gesagt hat. Wie eine alte Frau schleppe ich mich durchs Haus. Jede Bewegung schmerzt, als wolle mich mein Körper zur Ruhe zwingen und mir sagen, Therese, nun ist es langsam genug mit Dir.

Ich würde immer noch zweimal am Tag meinen Blutdruck und Blutzucker messen und die Werte in eine Liste eintragen. Langweilig, nicht wahr? Aber das kann schon zu einem wichtigen Ankerpunkt im Tagesablauf werden, an den man sich gewöhnt und den man dann auch nicht mehr missen möchte.

Ich würde immer noch Illustrierte lesen, Kreuzworträtsel lösen und fernsehen. Da kann ich zugucken, was bei anderen Leuten Aufregendes passiert, weil bei mir ja nichts mehr passiert. Ich soll ja auch jede Aufregung vermeiden. Also vermeide ich es, mich aufzuregen und gucke zu, wie sich andere Leute aufregen. Spannend, nicht wahr?

Meine Tochter Kati würde sich noch immer rührend um mich kümmern. Mindestens zweimal in der Woche kommt sie mit meiner Enkelin Luisa vorbei. Sie bringt mir Medikamente, fährt mich zum Arzt und erledigt meine Einkäufe. Sie überprüft meine Liste mit den Werten für Blutdruck und Blutzucker und wehe, wenn da mal ein zu hoher Wert steht oder ich vergessen habe, ihn einzutragen. Darum schummele ich manchmal, damit es keinen Ärger gibt. Aber bitte nichts verraten! Schließlich soll ich ja auch jede Aufregung vermeiden, hat der Arzt gesagt.

Kati würde mich immer noch morgens um acht Uhr anrufen, um sich nach meinem Befinden zu erkunden und ob ich etwas Besonderes brauche. Sie bestimmt, was eingekauft wird und kontrolliert, was ich im Kühlschrank habe. Und wehe, da ist das falsche Paket oder die falsche Dose drin. Dann bekomme ich aber etwas zu hören, das kann ich Euch sagen!

Sie bestimmt auch meinen Essensplan. Schnell- und Fertiggerichte sind angesagt, damit ich nicht so viel Arbeit habe. Bio-Saft und Wasser mit wenig Sprudel und keinen Kaffee mehr und kein Bier und keinen Wein. Einsprüche werden mit Killerargumenten vom Tisch gefegt wie etwa: "Bei dem Zuckerwert?" oder "Du weisst scho‘, dess des Dein' Blutdruck hochtreiben tut?"

Und so steuert Kati mehr und mehr mein gesamtes Leben und meinen Tagesablauf und wann ich ins Bett gehen soll. Sie meint es gut, aber ein wenig gegängelt fühle ich mich schon. Und wisst Ihr was, den Kaffee habe ich gut versteckt.

Neulich habe ich vorm Haus auf der Bank die Sonnenstrahlen genossen und einen kleinen Sonnenbrand auf der Nase gehabt. Prompt kam der Einlauf: "Mama, weißt D' nit, wie g'fährlich des is'? Und des a noch ohne a Sonnenmilch! Du gehst erst wieder in die Sonne, wenn i Dir a Sonnenmilch g'kauft hob!"

Also, Stubenarrest bis zum Eintreffen der Sonnenmilch.

Sie ist eben eine strenge Tochter und erwartet, dass man sich an ihre Anweisungen hält. Da ist sie eben sehr dominant mir gegenüber. Kommt eben nach mir.

Ich kann mich ja gar nicht beschweren, schließlich macht sie nichts anderes, als das, was ich damals mit meiner Mutter und meinen Töchtern gemacht habe.

Und Kati kennt sich da auch aus. Sie arbeitet in Teilzeit als angelernte Hilfskraft in der mobilen Altenpflege. Sie entscheidet aus ihrem Wissen heraus, was gut für mich ist und erwartet, dass ich vernünftig bin und mich an ihre Regeln halte. Dann habe ich vielleicht auch noch ein paar schöne Jahre vor mir. Schließlich erinnert sie mich auch mindestens einmal in der Woche daran, dass ich eine todkranke Frau bin und froh sein kann, dass ich sie habe.

Aber die zwei Flaschen Wein, die mir meine Freundin neulich besorgt hatte, habe ich gut versteckt. Hoffe ich zumindest.

Meine zweite Tochter heißt Steffi. Sie ist verheiratet und lebt in München. Sie ist Unternehmensberaterin und ihr Mann ist Banker und beide sind viel unterwegs. Sie ist meist mit sich selbst beschäftigt und ich höre nur selten von ihr.

Steffi ist auch ganz froh, dass sie sich nicht um mich kümmern muss. So etwas liegt ihr gar nicht und da ist sie auch sehr unbeholfen. Sie lebt ihr Leben und da passen eine gebrechliche Alte und ihre Probleme eben nicht so hinein. Und jedes Mal wenn sie anruft plagt sie im Stillen die Frage, ob sie eventuell in irgendetwas hineingezogen wird, was sie nicht will.

Ich würde wohl immer noch die Illustrierten mit den wichtigen Neuigkeiten voller Neugier verschlingen, und zu lesen ob das Baby von Prinzessin Sowieso an der tödlichen Erbkrankheit sterben wird, welches schlimme Geheimnis die berühmte Schlagersängerin hütet, welcher Schauspieler garstig zu seiner Mutter war, ob der Tennisspieler gerade einmal wieder fremdgeht, welches dramatisches Liebesaus die Welt erschüttert und wo eigentlich Heintjes Millionen geblieben sind. Und wisst ihr was? Man wird danach richtig süchtig, wenn man vor gähnender Langeweile in die Abenteuer fremder Leute eintaucht und gierig darauf wartet, die Neuigkeiten über wichtige Menschen zu erfahren, die in ihrem Leben nichts geleistet haben außer in einem Sexfilm mitzuspielen, in Swimmingpools zu fallen, in unpassender Bekleidung auf irgendwelche Partys zu gehen oder ihren neuesten Eroberungen präsentieren.

Ohne, dass ich es wirklich gemerkt habe, ist der goldene Vogelkäfig um mich herum immer engmaschiger geworden und das Schloss an der Tür immer sicherer, dass ich nicht entfliehen kann. Das Futter und das Wasser wird hineingeschoben sowie Illustrierte und Rätselheftchen als Spielzeug und morgens um acht Uhr wird die Decke abgenommen und nachgeguckt ob ich noch 'Pieps' mache oder schon tot am Boden liege. Es fehlt eigentlich nur noch, dass ich im Badezimmer mein Spiegelbild dazu auffordere, mit mir zusammen zu 'piepsen'. Und ich habe mich inzwischen schon daran gewöhnt und es finde es sogar gut, so wie es ist.

Es gibt einen schönen Spruch, der lautet: "Lerne aus der Vergangenheit, träume von der Zukunft und lebe im hier und jetzt." Stattdessen flüchte ich mich in meine Erinnerungen, und lebe gedanklich mehr und mehr in der Vergangenheit, denn über meine Zukunft brauche ich nicht nachzudenken. Darüber wacht meine Kati schon mit scharfen Blick und strenger Hand und als todkranke Frau muss man seine Ansprüche auch schon mal ein wenig zurückschrauben. Damit habe ich mich abgefunden, ergebe mich in mein Schicksal und lasse Kati über mein Dasein entscheiden.

Viel mehr bewegt mich, wie übel mir alle in der Vergangenheit mitgespielt haben. Mehr und mehr machen sich Zynismus und Frustration in mir breit. Und so verliere ich mich in meiner Fotokiste und schwelge in meinen guten und schlechten Erinnerungen und hadere mit der Tatsache, im Leben eher zu den Verlierern zu gehören.

Vielleicht war es falsch, aber ich habe all die Jahre nicht die Kraft gehabt zum Kämpfen. Auch heute nicht. Und so kämpfe ich auch nicht gegen mein Schicksal, meine Einsamkeit und meine körperlichen Gebrechen und ertrage es als meine Bestimmung.
 



 
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