Acting - Kapitel Eins

Federkiel

Mitglied
Wir hatten Biologie.
Es war die sechste Stunde und vor uns lagen noch weitere zwei grauenvolle Fächer, bevor dieser Donnerstag endlich sein Ende hatte.
Mathematik und Englisch.
Lea, eine meiner Freundinnen, mit denen ich am meisten rumhing, meinte immer: „Man sollte die Gymnasien eigentlich für ihre Maßnahmen schließen lassen. Acht Stunden oder länger – das ist Folter!“
Damit hatte sie auch Recht.
Vor allen Dingen bei den Lehrern, die wir hatten.
Frau Kech zum Beispiel – unsere Biolehrerin, die wir in dieser Stunde ertragen mussten und die bekannt war für ihre langen Vorträge zu einem noch so kleinen Thema. Wenn man sie im Unterricht hatte, konnte man von vornherein schon einmal davon ausgehen, dass die Schulstunde überzogen wird und man in die Pause hinein weiterarbeiten muss.

Wie immer saß Frau Kech auf dem Stuhl neben dem Overheadprojektor und gestikulierte wild über einer Grafik auf der Folie herum.
Ich wandte mich auf meinem Stuhl etwas um, um die Gesichter der anderen Schüler aus meiner Klasse besser sehen zu können. Man konnte die Langeweile sehen. Die meisten stützten ihre Köpfe auf die Hände und starrten mit angeödetem Ausdruck nach vorne, andere saßen zusammengesunken dort, sodass man sie hinter ihrem Tisch kaum sehen konnte oder guckten teilnahmslos aus dem Fenster. Viel zu sehen war da nicht.
Nur eine karge Wiese – es war gerade Ende Herbst und alles erschien in einem öden grau-gelb-braun – und etwas weiter hinten die Hecken, die den verlassenen Sportplatz abgrenzten. Der Himmel war trüb und von grauen Wolken verhangen. Wenn wir Glück hatten, würde es anfangen zu regnen und wir könnten die Pause über im Gebäude bleiben. Es war schweinekalt draußen und der Wind blies stark. Meine Lippen waren vollkommen rau und würden wahrscheinlich bald aufplatzen, wenn es noch kälter wurde.
Frau Kech stellte eine Frage und ich meldete mich, ohne mich wieder ganz nach vorne zu drehen. Ich war wieder die einzige, die die Antwort wusste und sie nahm mich dankbar dran.
„Der Sympathikus bewirkt insgesamt eine Leistungssteigerung des Organismus bei Stress und Anspannung“, sagte ich auf und lächelte die Lehrerin leicht an, als sie anerkennend nickte.
Als sie wieder weiterredete, sah ich Tina neben mir an. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als müsste sie gähnen und verdrehte die Augen.
Öde, oder?
Ich nickte gelangweilt.
Sehr sogar.
Dann wandte ich mich wieder leicht um und sah zu den anderen. Dennis hatte seinen Kopf auf den Armen liegen und die Augen zu – wahrscheinlich war er eingeschlafen. Das war ihm schon öfter passiert.
Als mein Blick Jan, unseren Klassenclown, streifte, grinste er mir zu und schnitt dann eine Grimasse. Albern. Am liebsten hätte ich die Augen verdreht und weggesehen. Stattdessen grinste ich zurück, schielte und streckte ihm die Zunge raus, was ziemlich albern aussah. Warum ich es machte? Weil ich es musste.
Sei witzig oder du bist der Witz...
Jan prustete los, fast alle wandten sich zu ihm um und Frau Kech sah auf. Mich hatte sie nicht bemerkt – wie immer.
„Jan, pass bitte auf, ja?“
„Was immer sie wollen, Frau Kech“, antwortete er viel zu laut und grinste schelmisch. Ein paar Schüler kicherten. Dann sah er zu mir und wackelte mit den Augenbrauen. Ich drehte mich wieder nach vorne und machte ein interessiertes Gesicht.

Die Stunde verging schleichend. Irgendwann ging Frau Kech an die Tafel und schrieb wieder einen Roman von einer Erklärung an. Da drehte ich mich ganz um und lächelte Ed an.
Ed war
a. Mitschüler
b. Cliquenmitglied
c. der wohl ehrlichste Junge, den ich je kennengelernt hatte
d. mein bester Freund schon seit dem Kindergarten.
Eigentlich hieß er Eduard – was er verabscheute, weshalb ihn alle nur Ed nennen durften. Er wohnte zwei Häuser neben mir, war zwei Köpfe größer als ich und sein Vater kam aus Russland, weshalb er auch einen leichten Akzent hatte, den ich an ihm so mochte. Jedesmal, wenn er das „R“ in seinen Sätzen rollte, hatte ich das Verlangen ihn zu knuddeln, was ich dann aber doch nicht tat.
Seine braunen Haare standen zottelig kreuz und quer ab und seine grünen Augen hatten ein Strahlen in sich, das ich nur selten bei Leuten fand.

Bio war einer der wenigen Kurse, die wir zusammen hatten.
Er grinste zurück und ich drehte mich wieder nach vorne um. Gerade rechtzeitig, denn Frau Kech wandte sich in diesem Moment wieder zur Klasse, um eine Frage zu stellen.
Es war nicht immer leicht, aufmerksam im Unterricht zu sein und trotzdem nicht als Streber bezeichnet zu werden.
Dort trafen dann immer zwei meiner Rollen aufeinander.
Die gute Schülerin, die auf alles eine Antwort wusste und die lustige, coole Katie aus den Pausen.
Da war es ein großer Vorteil, dass mir in der Schule eigentlich alles zuflog. Ich war jetzt in der elften Klasse und hatte in meinem ganzen Leben wohl noch keine Note schlechter als Drei mit nach Hause gebracht. Auch mit den Lehrern verstand ich mich gut – hatte diesen „Gute Schülerin“- Bonus, sodass auch einmal ignoriert wurde, wenn ich mich etwas lauter mit einem Nachbarn unterhielt, was allerdings nicht passierte...
Mit Erklärungen hatte ich kein Problem. Themen verstand ich schon in der ersten Stunde und bei Aufgaben war ich immer als Erste fertig...
Gute Voraussetzungen um klarzukommen.
Es gab auch nur einen der mich Streber nannte... Also, nicht direkt, aber er behandelte mich so, dass ich wusste, dass er so über mich dachte. Jens. Er meinte immer, ich müsste ja alles wissen und jedem weiterhelfen und stellte mir zu jedem Fach dumme Fragen. Ich war aber natürlich auch so dumm, sie brav zu beantworten... Musste doch nett sein.


Es gongte nach fünfundvierzig Minuten Biologie-Folter endlich und wir strömten aus dem Biologiesaal, durch die langen, gefliesten Flure, die Treppen hinunter in die Aula.
Der Wind wehte immer noch sehr stark, zog an den Ästen der Bäume, als wollte er ihnen endlich die letzten gelben Blätter entreißen. Bald würde Winter sein.
Ich freute mich auf die Ferien, obwohl sie noch schier ewige Wochen entfernt lagen. Wahrscheinlich würde ich mich hin und wieder noch mit ein paar Freunden treffen und ansonsten die Weihnachtszeit mit meiner Familie verbringen. Meine Mutter war eine totale Weihnachtsfanatikerin und zu unserer Tradition gehörte das gemeinsame Kekse backen und Schmuck basteln. Ich hatte selten Lust mit irgendwelchen piksenden Tannenzweigen einen Kranz zu gestalten, aber ich machte es trotzdem – meiner Mutter zu Liebe. Es freute sie immer, wenn wir etwas gemeinsam erledigten. Vor allen Dingen an den Feiertagen.
Als ich durch die Fenster der Aula hinaus sah und die Bäume beobachtete, wie sie sich bogen unter den starken Böen, konnte ich den kalten Wind regelrecht auf der Haut spüren. Ein seltsames Prickeln auf der Haut.

„Boah nee, wenn wir da rausgehen, können wir unsere Frisuren aber echt vergessen!“, stöhnte Lea und fasste sich an ihre rotbraune Mähne, die ihr bis zu der Taille ging, was sie immer wie eine wunderschöne Amazone aussehen ließ. „Ich gehe ganz sicher nicht da raus.“
Wir anderen – Tina, Aylin, Laura, Mandy und ich – nickten zustimmend und begaben uns dann in eine Ecke der Aula, die vom Lehrerzimmer aus nicht zu sehen war. Es war uns eigentlich verboten, in den Pausen drinnen zu bleiben, aber da hielten sich nur wenige dran.
„Oh ja, auf eure Frisuren müsst ihr natürlich aufpassen, ihr Schönheiten“, lachte Chris, der groß gewachsene Blonde aus der Parallelklasse und wuschelte Lea durch die Haare. Mit einem Kreischen flüchtete sie unter seinem Arm durch und strich ihren Scheitel gleich wieder glatt.
„Du bist so ein Arsch!“, schimpfte sie und lächelte Chris strahlend an, was ihre Worte Lügen strafte. Trotzdem setzte er ein schuldbewusstes Gesicht auf und legte seinen Arm um sie.
„‘tschuldigung, Süße.“
Ein paar Jungs, die bei uns standen, lachten dieses hustende Jungs-Lachen.

Wir waren sieben Mädchen und zehn Jungs, die zusammen in einer der Ecken der Aula standen. Romina war noch dazu gekommen. Sie war eher schüchtern, klein, braunes Haar und recht eintönige Kleider. Stand eigentlich immer nur dabei und tat so, als würde sie dazu gehören, was sie allerdings nicht tat. Irgendwie wirkte sie manchmal wie eine graue Maus.
Aylin und Mandy zerrissen sich immer das Maul über sie und dann war es ihnen sogar egal, ob sie in der Nähe war, oder nicht.

Ich gehörte dazu, sehr sogar. Eigentlich standen Lea, Tina und ich immer im Mittelpunkt. Besonders bei den Jungs. Ich war beliebt und kannte wohl jeden Schüler ab Klasse neun persönlich. Im Kopf allerdings fühlte ich mich nicht so, als würde ich dazugehören. Was sie sagten, machten, all das. Es schien mir fremd, ganz so als wüsste ich nicht einmal, worum es eigentlich ging.
Im Kopf fühlte ich mich wie Romina...

„Ach je, habt ihr schon gehört? Dennis is‘ jetzt mit dieser Chrissi aus der Achten zusammen!“ Mandy verzog angewidert das Gesicht und lachte dann.
„Echt? Oh Gott, das passt aber überhaupt nicht!“, stöhnte Tina und warf einen mitleidigen Blick zu Dennis hinüber, der in einigen Metern Entfernung am Kiosk stand.
„Die hat sich ja letztens so eine hässliche, blaue Strähne in die Haare machen lassen. Mit ihrem Blond sieht sie aus wie ein Straßenköter“, meinte ich. Mandy verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen und nickte zustimmend.
„Hey, Dennis is‘ doch überhaupt froh, dass er bei irgendeiner landet“, spottete Tom, einer der Jungs bei uns, und lachte kehlig.
„Ach komm, du kannst doch auch froh sein, dass Aylin ein solches Mitleid mit dir hat und bei dir bleibt!“ Chris grinste Tom breit an und kassierte einen Schlag auf den Hinterkopf.
„Tja, ich bin halt ein herzensguter Mensch“, kicherte Aylin und ihre schwarzen, kinnlangen Haare wippten mit. Dann nahm sie ihren Tom in die Arme und küsste ihn lange, bis einer der Jungs pfiff und sie sich wieder nebeneinander stellten. Sie grinste. Tom hatte den Arm immer noch um ihre Hüfte geschlungen.
Ein seltsames Ziehen schmerzte in meiner Brust.
Ed stand neben mir und schüttelte den Kopf.
„Was du alles in den Mund nimmst, Aylin, das ist echt widerlich!“, meinte er. Ich musste grinsen. Das war so eine Art Insider unter uns beiden. Wir sagten das oft, beim Essen oder in Situationen wie jetzt. Woher es stammte, wusste ich selbst nicht mehr, so alt war es schon.
Lea lachte hysterisch auf.
„Der war gut, Eddy!“, kicherte sie und stieß mich an.
Lach gefälligst mit. Ich will mich nicht voll zum Affen machen.
Ich grinste breit. Seit Längerem war Lea schon hinter Ed her und hatte mich auch schon gebeten, irgendeine Verkuppel-Aktion zu starten. Ich hatte ihr damals gesagt, dass ich doch nicht meinen besten Freund mit meiner „besten Freundin“ verkuppeln konnte. Darauf hin hatte sie nur gemeint: „Ich lass‘ dir schon noch etwas übrig, Schätzchen.“, und hässlich gegrinst. Ich hatte nicht verstanden, was sie damit andeuten wollte. Sie meinte, Ed wäre sowieso nur was „für Zwischendurch“, da sie ja noch ihren festen Freund hatte.

Lea war auch die einzige von uns, die ihn Eddy und nicht Ed nannte. Er hatte mir einmal gesagt, wie wenig er das doch leiden konnte.
Es war an einem dieser unendlich vielen Nachmittage, an denen wir uns zu zweit trafen und irgendwo in der Stadt herumhingen, redeten und Blödsinn machten. Mit Ed konnte man wunderbar kindisch und verrückt sein. Was ich an Ed so besonders mochte (neben seinen grünen Augen, die mich immer an den Sommer denken ließen und seinem Akzent) war, dass er unglaublich lustig sein konnte, auf die fantastischsten Ideen kam und mich zum Lachen brachte, wenn ich nicht einmal lächeln wollte und dann aber auch ernst und konzentriert bei einem Thema bleiben konnte, wenn es sein musste. Das... bewunderte ich an ihm. Er spielte nicht irgendwelche Rollen, sondern war er selbst in jeder Situation. Einen besseren Freund hätte ich mir nie wünschen können und hatte ich eigentlich auch nicht verdient...

An diesem Tag, an dem er mir das über Lea erzählte, war es nicht so unbeschwert gewesen, wie sonst.
Es war anders – irgendwie komisch...
Wir waren, glaube ich, an der Half-Pipe gewesen, die etwas abseits der Häuser der Stadt am Radweg stand, hatten uns oben drauf in die Sonne gelegt und geredet. Geredet über... nichts Besonderes, fiel mir plötzlich auf. Wir hatten über die Graffitis auf der Half-Pipe diskutiert. Welche schön waren, welche nicht, wer sie gemalt haben könnte und welches das beste war. Ich versuchte mich genauer zu erinnern.
Ed und ich hatten auf den harten Platten der Half-Pipe gelegen und uns gesonnt. Es war an dem Tag so heiß gewesen, dass ich nur in einem kurzen Top mit Spagettiträgern und einer kurzen Jeans nach draußen gegangen war.
„Madame d’hotpants“, hatte er mich immer genannt und versucht einen französischen Akzent hinzubekommen, was bei ihm kläglich gescheitert war und mich zum Lachen brachte... Auf dem Weg war er eine Weile absichtlich hinter mir gelaufen und hatte gepfiffen. Ich hatte mich umgedreht und ihm lachend durch die Haare gestubbelt...

Die Platten der Half-Pipe waren aus Plastik und durch die Sonne aufgeheizt gewesen. Irgendwann hatte ich es nicht mehr auf der Haut ausgehalten und war aufgesprungen und nach unten geklettert. Der Himmel war blau und keine einzige Wolke war zu sehen gewesen. Die Insekten in den Sträuchern am Weg hatten ein lautes Zirpkonzert veranstaltet. Jedes Mal, wenn man zu nah an einen Busch oder Strauch kam, wurden die Geräusche lauter – hysterischer.
Von unten konnte man viel besser die Graffitis betrachten. Meistens waren es aber nur dumme Sprüche, Liebeserklärungen oder Beschimpfungen. Ich hatte sie immer laut vorgelesen und Ed von oben lachen hören. Tief und voll, nicht so keuchend wie Chris zum Beispiel. Irgendwann war er dann zu mir gekommen und hatte entschlossen, mit mir gemeinsam „The best Half-Pipe-Graffiti of the Radweg“ zu küren... So sehr ich es versuchte, ich konnte mich nicht an das Gewinnerbild erinnern... Es machte mich traurig, oder ich fühlte vielmehr nur, dass es mich traurig machen müsste.

Wir hatten über nichts besonderes geredet, aber es war auch nicht das gewesen, was er gesagt hatte, sondern, wie er mich angesehen hatte, wie er... ich weiß nicht.

Ein unangenehmes Kribbeln lief mir bei dieser Erinnerung an der Wirbelsäule hinab, bis hinunter in die Zehenspitzen und löste das unangenehme Ziehen in meiner Brust ab.
Die Schulglocke klingelte und riss mich aus meinen Gedanken. Ich warf einen schnellen Blick zu Ed, der immer noch neben mir stand. Mein Blick streifte seinen.
Sommer , dachte ich und sah schnell wieder zu den anderen hinüber.
Sommer, Sommer, Sommer...
Die ganze Zeit über hatte ich ihnen nur halbherzig zugehört, doch sie redeten immer noch über verschiedene Pärchen auf der Schule, als wir uns auf den Weg zur Klasse machten. Ich wischte die Erinnerung an den Tag auf der Half-Pipe aus meinen Gedanken, schob ihn nach hinten, so wie ich es immer machte und konzentrierte mich wieder auf die Tratschereien.
Ich lief zwischen Lea und Tina. Ed war mit den anderen ein paar Schritte hinter uns, als wir in gemächlichem Tempo in Richtung Klassen schlichen.
Ein kleineres Mädchen – ich schätzte sie in die sechste Klasse – drängelte sich an uns vorbei und stieß Tina am Ellenbogen unsanft an, worauf hin sie es beinahe gegen die Wand schubste.
„Hey, willst du Stress, oder so? Hier aufmucken, ey!“, rief sie dem Mädchen hinterher, das schnell weiterging. Tina hatte die Arme etwas ausgebreitet und das Kinn gereckt, so wie es die Jungs oft taten. Dann sah sie uns wieder an und musste lachen.
Ein Junge – wahrscheinlich auch aus der fünften oder sechsten Klasse – sah uns über die Schulter hinweg etwas unsicher an. Seine Haare hatte er vorne blond gefärbt und etwas zu viel Gel hatte er ebenfalls benutzt.
„Guck nicht so dumm“, keifte Lea und der Junge wandte sich schnell wieder um.
„Oh mein Gott, habt ihr gesehen, wie scheiße dem seine Haare aussehen?“, fragte sie entsetzt und kicherte. Mit der einen Hand fuchtelte sie, als müsste sie sich Luft zufächeln.
Wir anderen lachten. Manchmal konnten wir richtig gemein sein...

Zu den Älteren waren wir immer nett – jedenfalls dann, wenn wir nicht hinter ihrem Rücken über sie herzogen -, aber die Kleinen fuhren wir jedes Mal an. Waren gemein zu ihnen, weil sie sich nicht auf unserem „Niveau“ befanden. Ich war mir nicht einmal sicher, ob Mandy zum Beispiel, „Niveau“ nicht für eine Handcreme hielt... Und Ironie war wahrscheinlich ein Haarschnitt für viele der Mädchen, mit denen ich mich traf.

Mathe...
Oder vielmehr das, was eine Mathematikstunde sein sollte. Unser Lehrer kam und kam nicht und wir hockten in einem Teil der Klasse zusammen und redeten über die neue Frisur, die sich Laura am Wochenende unbedingt schneiden lassen wollte. Irgendwelche Extension und gefärbt. Wie dieses eine Modell, das sie letztens im Fernsehen gesehen hatte. Sie hatte sogar ein Bild von der Frau auf ihrem Handy und gab es rum, an die anderen, um ihre Meinung zu hören.
„Das wird dir sowas von gut stehen, Laura!“, schwärmte Carmen, ein Mädchen aus unserer Klasse, die jeden regelrecht mit Komplimenten überschüttete, um gut anzukommen.
Mandy schnaubte.
„Natürlich wird ihr das stehen, was denkst du denn?“

Eine Weile ging es noch um die Frisur und ob Färben nicht schädlich ist und bla, bla, bla. Ich saß auf der Tischplatte von Eds Tisch in Bio, doch er war nicht da, war in einem anderen Kurs. Ich stützte mich hinten mit den Händen ab, so wie man es tat, wenn man sich sonnte.
„Was steht übermorgen an?“, fragte ich, ohne jemanden speziell anzusehen. Dann ließ ich mich vom Tisch gleiten, stand wieder und lehnte mich neben Lea an die Fensterbank.
„Wie wär’s mit Downtown?“, fragte Tina und zog eine Augenbraue hoch, wie sie es immer tat, wenn sie auf eine Antwort wartete. Downtown war eine der angesagtesten Discos in der Stadt, in die man eigentlich erst ab achtzehn herein kam, aber wir hatten eben einfach einen guten Draht zu den Türstehern...
„Da bin ich dabei“, meinte Lea.
„Ich auch“, sagte ich.
Laura und Mandy nickten, nur Aylin und Lena, die Sportlichste aus unserer Clique mit den schönen langen, braunen Haaren, zögerten noch.
„Nee, sorry, ich kann nicht. Tom und ich sind da auf so einer Gamer-Veranstaltung, oder so“, meinte Aylin und verzog das Gesicht, dass wir lachen mussten. Hell und laut. Schöne-Mädchen-Lachen, das man aus den Filmen kannte.
„Bei mir geht’s, glaube ich, nicht… Ich bin am Wochenende weg“, erklärte Lena.
„Wo bist du denn dann?“, fragte Lea und zog eine Schnute. Man konnte ihr ansehen, dass ihr lieber gewesen wäre, wenn Lena mitgekommen wäre. Die zwei waren zusammen die unschlagbaren Königinnen auf der Tanzfläche – und an der Bar...
„Weg.“ Lena zeigte ihr strahlendes Weiße-Zähne-Lächeln.
„Aha, und mit wem?“
Mandy beugte sich interessiert vor und lächelte vielsagend. Sie brannte regelrecht immer darauf, die neuesten Beziehungsgeschichten zu erfahren, am besten bevor es irgendwer vor ihr wusste.
„Mit meiner Cousine.“ Lena streckte die Zunge raus.
„Oh, ja, na klar!“ Mandy lächelte schief und ihre Augen funkelten. Sie roch eine interessante Story und würde nicht vergessen, Lena nächste Woche nach Neuigkeiten zu fragen.
„Ach übrigens, T. wird dann auch mitkommen, das geht doch in Ordnung, oder?“, fragte Lea und sah uns an. T. war ihr momentaner Freund, schon seit acht Monaten – bewundernswert lange, wenn man an ihre alten Beziehungen und Seitensprünge zurückdachte. Wobei letzteres häufiger vorkam. Vielleicht lag es an seinem Körper. Groß, braungebrannt, selbst im Winter, und einen Oberkörper, wie ein Bodybuilder. Sie nannte ihn immer ihr höchstpersönliches „Sexpack“, doch seinen wirklichen Namen kürzte sie immer ab, weil sie ihn insgeheim nicht ausstehen konnte. Aus Trevor wurde dann eben einfach nur T..
Aber dass sie ihn mitnahm, wenn sie mit uns wegging, kam seltener vor, weshalb ich mich ein bisschen wunderte.


Die ganze Mathestunde blieben wir ohne Lehrer und es kam auch keiner auf die Idee Herrn Bimsbach Bescheid zu sagen - natürlich nicht, sonst wäre derjenige sofort der Buhmann der ganzen Klasse gewesen. Also saßen wir die ganze Zeit auf den Tischen, tratschten und planten unseren Trip ins Downtown.

Ich hatte die Gewohnheit, Leute zu beobachten. Keine bestimmten, einfach nur die, die gerade in der Nähe waren. Immer wollte ich wissen, wie sie sich fühlten, ihre Gewohnheiten bemerken, Bewegungen studieren und mehr über sie wissen, als man vielleicht in der Schule sonst erfahren würde.
Deshalb kannte ich auch so viele, konnte mir mittlerweile sehr gut ableiten, was in ihnen vorging. Es war nicht schwer, da ich hinter keine Fassaden blicken musste. Wenn sie schlecht gelaunt waren, waren sie schlecht gelaunt. Wenn sie am liebsten auf der Stelle verschwunden wären, merkte man es ihnen an.
Dennis beispielsweise. Er saß vorne in der ersten Reihe. Die Lehrerin hatte ihn dorthin gesetzt, um besser im Blick haben zu können, ob er schlief oder nicht. Dennis war eigentlich immer müde, weil er immer bis zwei Uhr nachts aufblieb und morgens um fünf Uhr dann aufstehen musste. Drei Stunden Schlaf...
Doch jetzt hatte er sich etwas verändert. Seit gestern. Seit er mit Chrissi zusammen war. Er strahlte so eine Glückseligkeit aus, hatte fast immer ein Lächeln auf den Lippen – wenn auch nur andeutungsweise im Mundwinkel, da war es immer. Wenn ich ihn sah, fühlte ich mich unwohl. Ich konnte mir es nicht erklären.
Und zu dieser Freude kam noch eine innerliche Ruhelosigkeit, als wollte er sofort loslaufen und bei seiner Freundin sein. Manche verliebten Jungs konnten richtig ätzend sein...
Ich machte mir etwas Sorgen, denn ich hatte Chrissi gesehen, „kannte“ sie. Mir schien es, als wäre das alles noch ein großer Scherz für sie. Wie ein Spiel, das sie ohne Erlaubnis spielte... Ich hoffte es natürlich für Dennis, aber ich fragte mich trotzdem, ob es länger halten würde.
Hatte er ihr „Ich liebe dich“ gesagt?
Wahrscheinlich...

Das Wort Liebe war heutzutage so abgenutzt, wie die ausgelatschten Hausschuhe meiner Mutter. So viele benutzten es, ohne es wirklich zu meinen...
Manchmal fragte ich mich, ob Liebe früher wohl eine größere oder ehrlichere Bedeutung hatte, als jetzt.
Jetzt schrieben ja schon Zwölfjährige auf ihre Homepage, dort, wo es auch wirklich alle lesen können, diesen Standardspruch:

Schatz, ich liebe dich über alles. Ich will dich nie wieder verlieren.

Das „Schatz“ war praktisch, denn so musste man es nicht ändern, wenn dann auf einmal ein Neuer auf dem Plan stand...
Und jemanden über alles lieben?
Über ALLES?
Ich bezweifelte, dass Menschen so hingebungsvoll lieben konnten, dass sie alles für die andere Person geben würden, sich selbst mit eingeschlossen.
Manche vielleicht, doch ich glaube, es ist seltener geworden, als es vielleicht früher einmal war.
Eigentlich wollten wir doch alle die Hauptrolle im eigenen Leben spielen.
Ich war mir auch nicht sicher, ob ich das könnte.
Mich selbst für diesen Jemand opfern?
Was gab es denn da zu geben?...

Ich dachte an meinen Exfreund zurück. Auch er hieß Dennis. War recht klein, nur ein paar Zentimeter größer als ich. Er hatte eine kleine Zahnlücke zwischen den zwei Schneidezähnen, daran erinnerte ich mich noch.
Wie lange war das nun her?
4 Jahre?
Ja, das kam ungefähr hin. Ich war gerade einmal dreizehn gewesen, glaube ich. Es hatte aber auch nicht wirklich lange gehalten. Am Ende hatten wir wieder vor dieser Frage gestanden „Was ist uns lieber? Freundschaft oder Beziehung?“ Denn Beziehungen machen doch angeblich die Freundschaft kaputt...
Ich konnte mich nicht mehr an die Gefühle erinnern, die ich für ihn gehabt hatte. Ob ich überhaupt mehr für ihn empfunden hatte, als starke Freundschaft...
Hatte ich ihm gesagt „Ich liebe dich“?...
Ich konnte mich nicht erinnern.

Doch ich erinnerte mich an etwas, was Ed mir einmal gesagt hatte:
„Der Typ, der dir weh tut, kriegt ‘s mit mir zu tun“, hatte er gemeint und mich ernst angesehen.

Der Satz geisterte durch meinen Kopf, während ich die aus meiner Klasse beobachtete.
Weh tut... Was müsste dieser Typ tun, damit er mir weh tat?
Kriegt ‘s mit mir zu tun...
Mit mir zu tun...
Wieder fielen mir Dinge auf:
Jan saß etwas abseits, still und in sich gekehrt, starrte er aus dem Fenster.
Es hatte zu regnen angefangen, doch es waren nur ein paar Tropfen.
Wahrscheinlich machte er sich Sorgen.
Ich wusste, dass sein Bruder vor ein paar Tagen ins Krankenhaus musste. Irgendetwas war mit seinem Herzen. Er war doch erst fünf...

Tanja, die unscheinbare Blonde, die erst Anfang diesen Schuljahres von einem anderen Gymnasium kam, saß etwas zusammengesunken an ihrem Platz. Sie hatte Kopfschmerzen. Man konnte das sehen. An der Art, wie sie die Stirn runzelte und die Augen zusammenkniff, wenn sie jemand mit lauter Stimme ansprach.

Kevin war unruhig, wäre am liebsten nach draußen gelaufen. Immer wieder wippte er mit dem Bein, in einem so schnellen Rhythmus, dass es mich auch hibbelig gemacht hätte, wenn ich neben ihm gesessen hätte. Trommelte leicht mit den Fingern auf seine Knie. Den Takt eines Liedes, das es wahrscheinlich nur in seinem Kopf gab.
Manchmal vermutete ich, dass er sich unwohl fühlte unter vielen Menschen in einem engeren Raum. Wenn man mit ihm alleine sprach, war er sehr ernst und ruhig.


So viele Leute.
So viele Geschichten.
So viele Gefühle.
Ich studierte.
Schaute mir ihr Verhalten ab?
Zu viel, als das es gut für mich war?
Wie es mir selber ging...


... das wusste ich nicht genau.
Es klingelte.
Einmal.
Fünf Minuten Pause.
Ein zweites Mal.
Unsere Englischlehrerin kam, fast genau pünktlich zum Stundenbeginn und wir setzten uns wieder an unsere Plätze.
Wir schrieben einen Test. Kein Problem für mich.
Bei Sprachen war es, als würde ich sie im Schlaf lernen und sich die Vokabeln in mein Hirn einbrennen. Frau Thom fragte mich immer aus Spaß, ob es nicht doch meine Muttersprache wäre...
Dann fingen wir noch ein neues Thema an.
Es tat mir gut, interessiert zu tun.
In unserem eigentlichen Stammkursraum saß Lea neben mir. Rechts hatten wir einen kleinen Gang freigelassen.
Sie kritzelte etwas auf den Rand ihres Blockes und schob ihn mir unauffällig zu. Es wunderte mich, dass sie mir nicht einfach direkt sagte, was sie wollte, sonders es erst aufschrieb. Wahrscheinlich wollte sie damit die Langeweile, die sie sichtlich hatte, vertreiben.
-Samstag geht’s ab!
Sie hatte eine lustige Schrift. Krakelig, mit vielen Ecken und dann wieder ganz geschwungen. Passte zu ihr.
Ich sah kurz zu ihr, nickte und grinste.
-T. ist mit seinen Kumpels da. Ich stell dir dann mal einen Jungen vor. ;-)
Ich meldete mich, gab eine Antwort und schrieb dann, ohne von der Tafel wegzusehen. Es fiel nicht auf, wenn ich schrieb. Wir saßen in der dritten Reihe und unsere Tische waren von vorne nicht wirklich zu sehen. Das war ein Vorteil.
-Sieht er denn gut aus?
Ich zwinkerte Lea zu und sie grinste breit.
-Klar, meinst du T. hängt mit so ‘nem Looser ab? Haha. Nee, war ‘en Witz. Maik heißt der, glaub‘ ich...
Maik. Ich stellte mir einen Jungen vor, der zum Namen Maik passen würde, doch ich bekam kein richtiges Bild zusammen. Ich mochte den Namen. Kurz.
Ich mochte kurze Namen.
Ed. Tom. Kai. Marc. Jack. Maik...
-Und wieso willst‘e mir den vorstellen?
-Keine Ahnung. Einfach so. Is‘ en ziemlicher Sport-Typ meinte T. mal zu mir.
-Aha...
-Ja. Ich stell‘ ihn dir ja nur vor. Was du draus machst, liegt bei dir! ;-) Boah, ich will irgendwie jetzt schon feiern. Wird Zeit das endlich die Woche vorbei is...
-Joa. Könnten auch langsam Ferien sein! Starten wir eigentlich was an Sylvester?
-Haha. Du bist früh dran mit Planen. Aber, ja. Auf jeden Fall.
-Yeah.

Ich wusste nicht, ob ich mich wirklich freute...

Bevor Lea und ich noch irgendetwas schreiben konnten, klingelte es und die Stunde war um. Die meisten konnten gar nicht so schnell einpacken, wie sie aus der Klasse stürmen wollten.
Auch ich stopfte mein Zeug in meine Tasche, schob den Stuhl ran und ging aus der Klasse. Zusammen mit den anderen Mädels und Jungs verließ ich das Schulgebäude. Bis zum Ende der Straße, die an unserer Schule vorbeiführte, hatten wir alle den selben Weg. Dann verabschiedeten wir uns mit Umarmung. Aylin und Lea wohnten ziemlich am Rande der Stadt. Es war eine recht karge und dreckige Gegend, aber es gab ein paar Orte, an denen man gut den Tag verbringen konnte. Einen alten Park zum Beispiel, der nicht wie der neue im Stadtzentrum von lärmenden Kindern und ihren Eltern belagert wurde.
Tina lebte mit ihrem Vater im Neubaugebiet, dort, wo jedes Haus seinen eigenen Garten hinterm Haus hatte. Ihre Mutter hatte sie schon vor vielen Jahren verlassen, doch Tina schien gut klarzukommen.

Gemeinsam mit Ed machte ich mich dann auf den Weg runter zum Marktplatz. Dort wohnten wir, in einer Straße, die daran vorbeilief. Da lag der Friseursalon von Eds Mutter und ein Stockwerk darüber lebten sie. Es war eine kleine Wohnung. Eigentlich viel zu klein für ihn, seinen zehnjährigen Bruder und seine Eltern, aber das machte ihm nichts. Er genoss die Zeit mit seiner Familie immer sehr.
Zwei Häuser weiter wohnte ich dann. Auch eine kleine Wohnung, doch dadurch, dass wir zwei Stockwerke zum Leben hatten, kamen wir uns weniger in die Quere. Im Erdgeschoss waren Küche, Wohnzimmer, ein kleines Bad und oben lagen das Schlafzimmer meiner Eltern. Kiki, meine kleine Schwester, und ich, wir hatten unsere Zimmer daneben.

Ed begleitete mich immer bis vor die Haustür. Mama meinte oft, dass er dann doch zum Essen bleiben sollte und vergaß, dass er ja gerade einmal ein paar Meter entfernt wohnte.
„Okay, Katie. Man sieht sich dann morgen“, meinte er und lächelte. Sein Lächeln wirkte immer so herzlich und offen... Es machte mich richtig neidisch.

Dann trat er einen Schritt näher und umarmte mich zum Abschied.
„Ich ruf‘ dich heute Abend vielleicht noch an oder man sieht sich online...“
„Du könntest auch einfach vorbei kommen, wenn der Weg dir nicht zu lange ist“, sagte er und ich grinste.
„Ja, ok. Mal sehen. Bis dann.“
„Bis dann.“
Er hob die Hand zu einem Winken, ging erst rückwärts, drehte sich dann um und ging.
„Grüß‘ deine Ma von mir!“, rief ich ihm nach und holte dann meinen Haustürschlüssel aus meiner Tasche. Es gab ein kratzendes, metallisches Geräusch, als ich ihn im Schloss umdrehte, dann drückte ich die Tür auf und trat ein.
 

Federkiel

Mitglied
Wir hatten Biologie.
Es war die sechste Stunde und vor uns lagen noch weitere zwei grauenvolle Fächer, bevor dieser Donnerstag endlich sein Ende hatte.
Mathematik und Englisch.
Lea, eine meiner Freundinnen, mit denen ich am meisten rumhing, meinte immer: „Man sollte die Gymnasien eigentlich für ihre Maßnahmen schließen lassen. Acht Stunden oder länger – das ist Folter!“
Damit hatte sie auch Recht.
Vor allen Dingen bei den Lehrern, die wir hatten.
Frau Kech zum Beispiel – unsere Biolehrerin, die wir in dieser Stunde ertragen mussten und die bekannt war für ihre langen Vorträge zu einem noch so kleinen Thema. Wenn man sie im Unterricht hatte, konnte man von vornherein schon einmal davon ausgehen, dass die Schulstunde überzogen wird und man in die Pause hinein weiterarbeiten muss.

Wie immer saß Frau Kech auf dem Stuhl neben dem Overheadprojektor und gestikulierte wild über einer Grafik auf der Folie herum.
Ich wandte mich auf meinem Stuhl etwas um, um die Gesichter der anderen Schüler aus meiner Klasse besser sehen zu können. Man konnte die Langeweile sehen. Die meisten stützten ihre Köpfe auf die Hände und starrten mit angeödetem Ausdruck nach vorne, andere saßen zusammengesunken dort, sodass man sie hinter ihrem Tisch kaum sehen konnte oder guckten teilnahmslos aus dem Fenster. Viel zu sehen war da nicht.
Nur eine karge Wiese – es war gerade Ende Herbst und alles erschien in einem öden grau-gelb-braun – und etwas weiter hinten die Hecken, die den verlassenen Sportplatz abgrenzten. Der Himmel war trüb und von grauen Wolken verhangen. Wenn wir Glück hatten, würde es anfangen zu regnen und wir könnten die Pause über im Gebäude bleiben. Es war schweinekalt draußen und der Wind blies stark. Meine Lippen waren vollkommen rau und würden wahrscheinlich bald aufplatzen, wenn es noch kälter wurde.
Frau Kech stellte eine Frage und ich meldete mich, ohne mich wieder ganz nach vorne zu drehen. Ich war wieder die einzige, die die Antwort wusste und sie nahm mich dankbar dran.
„Der Sympathikus bewirkt insgesamt eine Leistungssteigerung des Organismus bei Stress und Anspannung“, sagte ich auf und lächelte die Lehrerin leicht an, als sie anerkennend nickte.
Als sie wieder weiterredete, sah ich Tina neben mir an. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als müsste sie gähnen und verdrehte die Augen.
Öde, oder?
Ich nickte gelangweilt.
Sehr sogar.
Dann wandte ich mich wieder leicht um und sah zu den anderen. Dennis hatte seinen Kopf auf den Armen liegen und die Augen zu – wahrscheinlich war er eingeschlafen. Das war ihm schon öfter passiert.
Als mein Blick Jan, unseren Klassenclown, streifte, grinste er mir zu und schnitt dann eine Grimasse. Albern. Am liebsten hätte ich die Augen verdreht und weggesehen. Stattdessen grinste ich zurück, schielte und streckte ihm die Zunge raus, was ziemlich albern aussah. Warum ich es machte? Weil ich es musste.
Sei witzig oder du bist der Witz...
Jan prustete los, fast alle wandten sich zu ihm um und Frau Kech sah auf. Mich hatte sie nicht bemerkt – wie immer.
„Jan, pass bitte auf, ja?“
„Was immer Sie wollen, Frau Kech“, antwortete er viel zu laut und grinste schelmisch. Ein paar Schüler kicherten. Dann sah er zu mir und wackelte mit den Augenbrauen. Ich drehte mich wieder nach vorne und machte ein interessiertes Gesicht.

Die Stunde verging schleichend. Irgendwann ging Frau Kech an die Tafel und schrieb wieder einen Roman von einer Erklärung an. Da drehte ich mich ganz um und lächelte Ed an.
Ed war
a. Mitschüler
b. Cliquenmitglied
c. der wohl ehrlichste Junge, den ich je kennengelernt hatte
d. mein bester Freund schon seit dem Kindergarten.
Eigentlich hieß er Eduard – was er verabscheute, weshalb ihn alle nur Ed nennen durften. Er wohnte zwei Häuser neben mir, war zwei Köpfe größer als ich und sein Vater kam aus Russland, weshalb er auch einen leichten Akzent hatte, den ich an ihm so mochte. Jedesmal, wenn er das „R“ in seinen Sätzen rollte, hatte ich das Verlangen ihn zu knuddeln, was ich dann aber doch nicht tat.
Seine braunen Haare standen zottelig kreuz und quer ab und seine grünen Augen hatten ein Strahlen in sich, das ich nur selten bei Leuten fand.

Bio war einer der wenigen Kurse, die wir zusammen hatten.
Er grinste zurück und ich drehte mich wieder nach vorne um. Gerade rechtzeitig, denn Frau Kech wandte sich in diesem Moment wieder zur Klasse, um eine Frage zu stellen.
Es war nicht immer leicht, aufmerksam im Unterricht zu sein und trotzdem nicht als Streber bezeichnet zu werden.
Dort trafen dann immer zwei meiner Rollen aufeinander.
Die gute Schülerin, die auf alles eine Antwort wusste und die lustige, coole Katie aus den Pausen.
Da war es ein großer Vorteil, dass mir in der Schule eigentlich alles zuflog. Ich war jetzt in der elften Klasse und hatte in meinem ganzen Leben wohl noch keine Note schlechter als Drei mit nach Hause gebracht. Auch mit den Lehrern verstand ich mich gut – hatte diesen „Gute Schülerin“- Bonus, sodass auch einmal ignoriert wurde, wenn ich mich etwas lauter mit einem Nachbarn unterhielt, was allerdings nicht passierte...
Mit Erklärungen hatte ich kein Problem. Themen verstand ich schon in der ersten Stunde und bei Aufgaben war ich immer als Erste fertig.
Gute Voraussetzungen, um klarzukommen.
Es gab auch nur einen der mich Streber nannte. Also, nicht direkt, aber er behandelte mich so, dass ich wusste, dass er so über mich dachte. Jens. Er meinte immer, ich müsste ja alles wissen und jedem weiterhelfen und stellte mir zu jedem Fach dumme Fragen. Ich war aber natürlich auch so dumm, sie brav zu beantworten. Musste doch nett sein.


Es gongte nach fünfundvierzig Minuten Biologie-Folter endlich und wir strömten aus dem Biologiesaal, durch die langen, gefliesten Flure, die Treppen hinunter in die Aula.
Der Wind wehte immer noch sehr stark, zog an den Ästen der Bäume, als wollte er ihnen endlich die letzten gelben Blätter entreißen. Bald würde Winter sein.
Ich freute mich auf die Ferien, obwohl sie noch schier ewige Wochen entfernt lagen. Wahrscheinlich würde ich mich hin und wieder noch mit ein paar Freunden treffen und ansonsten die Weihnachtszeit mit meiner Familie verbringen. Meine Mutter war eine totale Weihnachtsfanatikerin und zu unserer Tradition gehörte das gemeinsame Kekse backen und Schmuck basteln. Ich hatte selten Lust mit irgendwelchen piksenden Tannenzweigen einen Kranz zu gestalten, aber ich machte es trotzdem – meiner Mutter zu Liebe. Es freute sie immer, wenn wir etwas gemeinsam erledigten. Vor allen Dingen an den Feiertagen.
Als ich durch die Fenster der Aula hinaus sah und die Bäume beobachtete, wie sie sich bogen unter den starken Böen, konnte ich den kalten Wind regelrecht auf der Haut spüren. Ein seltsames Prickeln auf der Haut.

„Boah nee, wenn wir da rausgehen, können wir unsere Frisuren aber echt vergessen!“, stöhnte Lea und fasste sich an ihre rotbraune Mähne, die ihr bis zu der Taille ging, was sie immer wie eine wunderschöne Amazone aussehen ließ. „Ich gehe ganz sicher nicht da raus.“
Wir anderen – Tina, Aylin, Laura, Mandy und ich – nickten zustimmend und begaben uns dann in eine Ecke der Aula, die vom Lehrerzimmer aus nicht zu sehen war. Es war uns eigentlich verboten, in den Pausen drinnen zu bleiben, aber da hielten sich nur wenige dran.
„Oh ja, auf eure Frisuren müsst ihr natürlich aufpassen, ihr Schönheiten“, lachte Chris, der groß gewachsene Blonde aus der Parallelklasse und wuschelte Lea durch die Haare. Mit einem Kreischen flüchtete sie unter seinem Arm durch und strich ihren Scheitel gleich wieder glatt.
„Du bist so ein Arsch!“, schimpfte sie und lächelte Chris strahlend an, was ihre Worte Lügen strafte. Trotzdem setzte er ein schuldbewusstes Gesicht auf und legte seinen Arm um sie.
„‘tschuldigung, Süße.“
Ein paar Jungs, die bei uns standen, lachten dieses hustende Jungs-Lachen.

Wir waren sieben Mädchen und zehn Jungs, die zusammen in einer der Ecken der Aula standen. Romina war noch dazu gekommen. Sie war eher schüchtern, klein, braunes Haar und recht eintönige Kleider. Stand eigentlich immer nur dabei und tat so, als würde sie dazu gehören, was sie allerdings nicht tat. Irgendwie wirkte sie manchmal wie eine graue Maus.
Aylin und Mandy zerrissen sich immer das Maul über sie und dann war es ihnen sogar egal, ob sie in der Nähe war, oder nicht.

Ich gehörte dazu, sehr sogar. Eigentlich standen Lea, Tina und ich immer im Mittelpunkt. Besonders bei den Jungs. Ich war beliebt und kannte wohl jeden Schüler ab Klasse neun persönlich. Im Kopf allerdings fühlte ich mich nicht so, als würde ich dazugehören. Was sie sagten, machten, all das. Es schien mir fremd, ganz so als wüsste ich nicht einmal, worum es eigentlich ging.
Im Kopf fühlte ich mich wie Romina...

„Ach je, habt ihr schon gehört? Dennis is‘ jetzt mit dieser Chrissi aus der Achten zusammen!“ Mandy verzog angewidert das Gesicht und lachte dann.
„Echt? Oh Gott, das passt aber überhaupt nicht!“, stöhnte Tina und warf einen mitleidigen Blick zu Dennis hinüber, der in einigen Metern Entfernung am Kiosk stand.
„Die hat sich ja letztens so eine hässliche, blaue Strähne in die Haare machen lassen. Mit ihrem Blond sieht sie aus wie ein Straßenköter“, meinte ich. Mandy verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen und nickte zustimmend.
„Hey, Dennis is‘ doch überhaupt froh, dass er bei irgendeiner landet“, spottete Tom, einer der Jungs bei uns, und lachte kehlig.
„Ach komm, du kannst doch auch froh sein, dass Aylin ein solches Mitleid mit dir hat und bei dir bleibt!“ Chris grinste Tom breit an und kassierte einen Schlag auf den Hinterkopf.
„Tja, ich bin halt ein herzensguter Mensch“, kicherte Aylin und ihre schwarzen, kinnlangen Haare wippten mit. Dann nahm sie ihren Tom in die Arme und küsste ihn lange, bis einer der Jungs pfiff und sie sich wieder nebeneinander stellten. Sie grinste. Tom hatte den Arm immer noch um ihre Hüfte geschlungen.
Ein seltsames Ziehen schmerzte in meiner Brust.
Ed stand neben mir und schüttelte den Kopf.
„Was du alles in den Mund nimmst, Aylin, das ist echt widerlich!“, meinte er. Ich musste grinsen. Das war so eine Art Insider unter uns beiden. Wir sagten das oft, beim Essen oder in Situationen wie jetzt. Woher es stammte, wusste ich selbst nicht mehr, so alt war es schon.
Lea lachte hysterisch auf.
„Der war gut, Eddy!“, kicherte sie und stieß mich an.
Lach gefälligst mit. Ich will mich nicht voll zum Affen machen.
Ich grinste breit. Seit Längerem war Lea schon hinter Ed her und hatte mich auch schon gebeten, irgendeine Verkuppel-Aktion zu starten. Ich hatte ihr damals gesagt, dass ich doch nicht meinen besten Freund mit meiner „besten Freundin“ verkuppeln konnte. Darauf hin hatte sie nur gemeint: „Ich lass‘ dir schon noch etwas übrig, Schätzchen.“, und hässlich gegrinst. Ich hatte nicht verstanden, was sie damit andeuten wollte. Sie meinte, Ed wäre sowieso nur was „für Zwischendurch“, da sie ja noch ihren festen Freund hatte.

Lea war auch die einzige von uns, die ihn Eddy und nicht Ed nannte. Er hatte mir einmal gesagt, wie wenig er das doch leiden konnte.
Es war an einem dieser unendlich vielen Nachmittage, an denen wir uns zu zweit trafen und irgendwo in der Stadt herumhingen, redeten und Blödsinn machten. Mit Ed konnte man wunderbar kindisch und verrückt sein. Was ich an Ed so besonders mochte (neben seinen grünen Augen, die mich immer an den Sommer denken ließen und seinem Akzent) war, dass er unglaublich lustig sein konnte, auf die fantastischsten Ideen kam und mich zum Lachen brachte, wenn ich nicht einmal lächeln wollte und dann aber auch ernst und konzentriert bei einem Thema bleiben konnte, wenn es sein musste. Das... bewunderte ich an ihm. Er spielte nicht irgendwelche Rollen, sondern war er selbst in jeder Situation. Einen besseren Freund hätte ich mir nie wünschen können und hatte ich eigentlich auch nicht verdient...

An diesem Tag, an dem er mir das über Lea erzählte, war es nicht so unbeschwert gewesen, wie sonst.
Es war anders – irgendwie komisch...
Wir waren, glaube ich, an der Half-Pipe gewesen, die etwas abseits der Häuser der Stadt am Radweg stand, hatten uns oben drauf in die Sonne gelegt und geredet. Geredet über... nichts Besonderes, fiel mir plötzlich auf. Wir hatten über die Graffitis auf der Half-Pipe diskutiert. Welche schön waren, welche nicht, wer sie gemalt haben könnte und welches das beste war. Ich versuchte mich genauer zu erinnern.
Ed und ich hatten auf den harten Platten der Half-Pipe gelegen und uns gesonnt. Es war an dem Tag so heiß gewesen, dass ich nur in einem kurzen Top mit Spagettiträgern und einer kurzen Jeans nach draußen gegangen war.
„Madame d’hotpants“, hatte er mich immer genannt und versucht einen französischen Akzent hinzubekommen, was bei ihm kläglich gescheitert war und mich zum Lachen brachte... Auf dem Weg war er eine Weile absichtlich hinter mir gelaufen und hatte gepfiffen. Ich hatte mich umgedreht und ihm lachend durch die Haare gestubbelt.

Die Platten der Half-Pipe waren aus Plastik und durch die Sonne aufgeheizt gewesen. Irgendwann hatte ich es nicht mehr auf der Haut ausgehalten und war aufgesprungen und nach unten geklettert. Der Himmel war blau und keine einzige Wolke war zu sehen gewesen. Die Insekten in den Sträuchern am Weg hatten ein lautes Zirpkonzert veranstaltet. Jedes Mal, wenn man zu nah an einen Busch oder Strauch kam, wurden die Geräusche lauter – hysterischer.
Von unten konnte man viel besser die Graffitis betrachten. Meistens waren es aber nur dumme Sprüche, Liebeserklärungen oder Beschimpfungen. Ich hatte sie immer laut vorgelesen und Ed von oben lachen hören. Tief und voll, nicht so keuchend wie Chris zum Beispiel. Irgendwann war er dann zu mir gekommen und hatte entschlossen, mit mir gemeinsam „The best Half-Pipe-Graffiti of the Radweg“ zu küren... So sehr ich es versuchte, ich konnte mich nicht an das Gewinnerbild erinnern... Es machte mich traurig, oder ich fühlte vielmehr nur, dass es mich traurig machen müsste.

Wir hatten über nichts besonderes geredet, aber es war auch nicht das gewesen, was er gesagt hatte, sondern, wie er mich angesehen hatte, wie er... ich weiß nicht.

Ein unangenehmes Kribbeln lief mir bei dieser Erinnerung an der Wirbelsäule hinab, bis hinunter in die Zehenspitzen und löste das unangenehme Ziehen in meiner Brust ab.
Die Schulglocke klingelte und riss mich aus meinen Gedanken. Ich warf einen schnellen Blick zu Ed, der immer noch neben mir stand. Mein Blick streifte seinen.
Sommer , dachte ich und sah schnell wieder zu den anderen hinüber.
Sommer, Sommer, Sommer...
Die ganze Zeit über hatte ich ihnen nur halbherzig zugehört, doch sie redeten immer noch über verschiedene Pärchen auf der Schule, als wir uns auf den Weg zur Klasse machten. Ich wischte die Erinnerung an den Tag auf der Half-Pipe aus meinen Gedanken, schob ihn nach hinten, so wie ich es immer machte und konzentrierte mich wieder auf die Tratschereien.
Ich lief zwischen Lea und Tina. Ed war mit den anderen ein paar Schritte hinter uns, als wir in gemächlichem Tempo in Richtung Klassen schlichen.
Ein kleineres Mädchen – ich schätzte sie in die sechste Klasse – drängelte sich an uns vorbei und stieß Tina am Ellenbogen unsanft an, worauf hin sie es beinahe gegen die Wand schubste.
„Hey, willst du Stress, oder so? Hier aufmucken, ey!“, rief sie dem Mädchen hinterher, das schnell weiterging. Tina hatte die Arme etwas ausgebreitet und das Kinn gereckt, so wie es die Jungs oft taten. Dann sah sie uns wieder an und musste lachen.
Ein Junge – wahrscheinlich auch aus der fünften oder sechsten Klasse – sah uns über die Schulter hinweg etwas unsicher an. Seine Haare hatte er vorne blond gefärbt und etwas zu viel Gel hatte er ebenfalls benutzt.
„Guck nicht so dumm“, keifte Lea und der Junge wandte sich schnell wieder um.
„Oh mein Gott, habt ihr gesehen, wie scheiße dem seine Haare aussehen?“, fragte sie entsetzt und kicherte. Mit der einen Hand fuchtelte sie, als müsste sie sich Luft zufächeln.
Wir anderen lachten. Manchmal konnten wir richtig gemein sein...

Zu den Älteren waren wir immer nett – jedenfalls dann, wenn wir nicht hinter ihrem Rücken über sie herzogen -, aber die Kleinen fuhren wir jedes Mal an. Waren gemein zu ihnen, weil sie sich nicht auf unserem „Niveau“ befanden. Ich war mir nicht einmal sicher, ob Mandy zum Beispiel, „Niveau“ nicht für eine Handcreme hielt... Und Ironie war wahrscheinlich ein Haarschnitt für viele der Mädchen, mit denen ich mich traf.

Mathe...
Oder vielmehr das, was eine Mathematikstunde sein sollte. Unser Lehrer kam und kam nicht und wir hockten in einem Teil der Klasse zusammen und redeten über die neue Frisur, die sich Laura am Wochenende unbedingt schneiden lassen wollte. Irgendwelche Extension und gefärbt. Wie dieses eine Modell, das sie letztens im Fernsehen gesehen hatte. Sie hatte sogar ein Bild von der Frau auf ihrem Handy und gab es rum, an die anderen, um ihre Meinung zu hören.
„Das wird dir sowas von gut stehen, Laura!“, schwärmte Carmen, ein Mädchen aus unserer Klasse, die jeden regelrecht mit Komplimenten überschüttete, um gut anzukommen.
Mandy schnaubte.
„Natürlich wird ihr das stehen, was denkst du denn?“

Eine Weile ging es noch um die Frisur und ob Färben nicht schädlich ist und bla, bla, bla. Ich saß auf der Tischplatte von Eds Tisch in Bio, doch er war nicht da, war in einem anderen Kurs. Ich stützte mich hinten mit den Händen ab, so wie man es tat, wenn man sich sonnte.
„Was steht übermorgen an?“, fragte ich, ohne jemanden speziell anzusehen. Dann ließ ich mich vom Tisch gleiten, stand wieder und lehnte mich neben Lea an die Fensterbank.
„Wie wär’s mit Downtown?“, fragte Tina und zog eine Augenbraue hoch, wie sie es immer tat, wenn sie auf eine Antwort wartete. Downtown war eine der angesagtesten Discos in der Stadt, in die man eigentlich erst ab achtzehn herein kam, aber wir hatten eben einfach einen guten Draht zu den Türstehern...
„Da bin ich dabei“, meinte Lea.
„Ich auch“, sagte ich.
Laura und Mandy nickten, Aylin zögerte noch. Ebenso Lena, die Sportlichste aus unserer Clique mit den schönen langen, braunen Haaren.
„Nee, sorry, ich kann nicht. Tom und ich sind da auf so einer Gamer-Veranstaltung, oder so“, meinte Aylin und verzog das Gesicht, dass wir lachen mussten. Hell und laut. Schöne-Mädchen-Lachen, das man aus den Filmen kannte.
„Bei mir geht’s, glaube ich, nicht… Ich bin am Wochenende weg“, erklärte Lena.
„Wo bist du denn dann?“, fragte Lea und zog eine Schnute. Man konnte ihr ansehen, dass ihr lieber gewesen wäre, wenn Lena mitgekommen wäre. Die zwei waren zusammen die unschlagbaren Königinnen auf der Tanzfläche – und an der Bar...
„Weg.“ Lena zeigte ihr strahlendes Weiße-Zähne-Lächeln.
„Aha, und mit wem?“
Mandy beugte sich interessiert vor und lächelte vielsagend. Sie brannte regelrecht immer darauf, die neuesten Beziehungsgeschichten zu erfahren, am besten bevor es irgendwer vor ihr wusste.
„Mit meiner Cousine.“ Lena streckte die Zunge raus.
„Oh, ja, na klar!“ Mandy lächelte schief und ihre Augen funkelten. Sie roch eine interessante Story und würde nicht vergessen, Lena nächste Woche nach Neuigkeiten zu fragen.
„Ach übrigens, T wird dann auch mitkommen, das geht doch in Ordnung, oder?“, fragte Lea und sah uns an. T war ihr momentaner Freund, schon seit acht Monaten – bewundernswert lange, wenn man an ihre alten Beziehungen und Seitensprünge zurückdachte. Wobei letzteres häufiger vorkam. Vielleicht lag es an seinem Körper. Groß, braungebrannt, selbst im Winter, und einen Oberkörper, wie ein Bodybuilder. Sie nannte ihn immer ihr höchstpersönliches „Sexpack“, doch seinen wirklichen Namen kürzte sie immer ab, weil sie ihn insgeheim nicht ausstehen konnte. Aus Trevor wurde dann eben einfach nur T.
Aber dass sie ihn mitnahm, wenn sie mit uns wegging, kam seltener vor, weshalb ich mich ein bisschen wunderte.


Die ganze Mathestunde blieben wir ohne Lehrer und es kam auch keiner auf die Idee Herrn Bimsbach Bescheid zu sagen - natürlich nicht, sonst wäre derjenige sofort der Buhmann der ganzen Klasse gewesen. Also saßen wir die ganze Zeit auf den Tischen, tratschten und planten unseren Trip ins Downtown.

Ich hatte die Gewohnheit, Leute zu beobachten. Keine bestimmten, einfach nur die, die gerade in der Nähe waren. Immer wollte ich wissen, wie sie sich fühlten, ihre Gewohnheiten bemerken, Bewegungen studieren und mehr über sie wissen, als man vielleicht in der Schule sonst erfahren würde.
Deshalb kannte ich auch so viele, konnte mir mittlerweile sehr gut ableiten, was in ihnen vorging. Es war nicht schwer, da ich hinter keine Fassaden blicken musste. Wenn sie schlecht gelaunt waren, waren sie schlecht gelaunt. Wenn sie am liebsten auf der Stelle verschwunden wären, merkte man es ihnen an.
Dennis beispielsweise. Er saß vorne in der ersten Reihe. Die Lehrerin hatte ihn dorthin gesetzt, um besser im Blick haben zu können, ob er schlief oder nicht. Dennis war eigentlich immer müde, weil er immer bis zwei Uhr nachts aufblieb und morgens um fünf Uhr dann aufstehen musste. Drei Stunden Schlaf...
Doch jetzt hatte er sich etwas verändert. Seit gestern. Seit er mit Chrissi zusammen war. Er strahlte so eine Glückseligkeit aus, hatte fast immer ein Lächeln auf den Lippen – wenn auch nur andeutungsweise im Mundwinkel, da war es immer. Wenn ich ihn sah, fühlte ich mich unwohl. Ich konnte mir es nicht erklären.
Und zu dieser Freude kam noch eine innerliche Ruhelosigkeit, als wollte er sofort loslaufen und bei seiner Freundin sein. Manche verliebten Jungs konnten richtig ätzend sein...
Ich machte mir etwas Sorgen, denn ich hatte Chrissi gesehen, „kannte“ sie. Mir schien es, als wäre das alles noch ein großer Scherz für sie. Wie ein Spiel, das sie ohne Erlaubnis spielte... Ich hoffte es natürlich für Dennis, aber ich fragte mich trotzdem, ob es länger halten würde.
Hatte er ihr „Ich liebe dich“ gesagt?
Wahrscheinlich...

Das Wort Liebe war heutzutage so abgenutzt, wie die ausgelatschten Hausschuhe meiner Mutter. So viele benutzten es, ohne es wirklich zu meinen...
Manchmal fragte ich mich, ob Liebe früher wohl eine größere oder ehrlichere Bedeutung hatte, als jetzt.
Jetzt schrieben ja schon Zwölfjährige auf ihre Homepage, dort, wo es auch wirklich alle lesen können, diesen Standardspruch:

Schatz, ich liebe dich über alles. Ich will dich nie wieder verlieren.

Das „Schatz“ war praktisch, denn so musste man es nicht ändern, wenn dann auf einmal ein Neuer auf dem Plan stand...
Und jemanden über alles lieben?
Über ALLES?
Ich bezweifelte, dass Menschen so hingebungsvoll lieben konnten, dass sie alles für die andere Person geben würden, sich selbst mit eingeschlossen.
Manche vielleicht, doch ich glaube, es ist seltener geworden, als es vielleicht früher einmal war.
Eigentlich wollten wir doch alle die Hauptrolle im eigenen Leben spielen.
Ich war mir auch nicht sicher, ob ich das könnte.
Mich selbst für diesen Jemand opfern?
Was gab es denn da zu geben?

Ich dachte an meinen Exfreund zurück. Auch er hieß Dennis. War recht klein, nur ein paar Zentimeter größer als ich. Er hatte eine kleine Zahnlücke zwischen den zwei Schneidezähnen, daran erinnerte ich mich noch.
Wie lange war das nun her?
4 Jahre?
Ja, das kam ungefähr hin. Ich war gerade einmal dreizehn gewesen, glaube ich. Es hatte aber auch nicht wirklich lange gehalten. Am Ende hatten wir wieder vor dieser Frage gestanden „Was ist uns lieber? Freundschaft oder Beziehung?“ Denn Beziehungen machen doch angeblich die Freundschaft kaputt...
Ich konnte mich nicht mehr an die Gefühle erinnern, die ich für ihn gehabt hatte. Ob ich überhaupt mehr für ihn empfunden hatte, als starke Freundschaft...
Hatte ich ihm gesagt „Ich liebe dich“?...
Ich konnte mich nicht erinnern.

Doch ich erinnerte mich an etwas, was Ed mir einmal gesagt hatte:
„Der Typ, der dir weh tut, kriegt ‘s mit mir zu tun“, hatte er gemeint und mich ernst angesehen.

Der Satz geisterte durch meinen Kopf, während ich die aus meiner Klasse beobachtete.
Weh tut... Was müsste dieser Typ tun, damit er mir weh tat?
Kriegt ‘s mit mir zu tun...
Mit mir zu tun...
Wieder fielen mir Dinge auf:
Jan saß etwas abseits, still und in sich gekehrt, starrte er aus dem Fenster.
Es hatte zu regnen angefangen, doch es waren nur ein paar Tropfen.
Wahrscheinlich machte er sich Sorgen.
Ich wusste, dass sein Bruder vor ein paar Tagen ins Krankenhaus musste. Irgendetwas war mit seinem Herzen. Er war doch erst fünf...

Tanja, die unscheinbare Blonde, die erst Anfang diesen Schuljahres von einem anderen Gymnasium kam, saß etwas zusammengesunken an ihrem Platz. Sie hatte Kopfschmerzen. Man konnte das sehen. An der Art, wie sie die Stirn runzelte und die Augen zusammenkniff, wenn sie jemand mit lauter Stimme ansprach.

Kevin war unruhig, wäre am liebsten nach draußen gelaufen. Immer wieder wippte er mit dem Bein, in einem so schnellen Rhythmus, dass es mich auch hibbelig gemacht hätte, wenn ich neben ihm gesessen hätte. Trommelte leicht mit den Fingern auf seine Knie. Den Takt eines Liedes, das es wahrscheinlich nur in seinem Kopf gab.
Manchmal vermutete ich, dass er sich unwohl fühlte unter vielen Menschen in einem engeren Raum. Wenn man mit ihm alleine sprach, war er sehr ernst und ruhig.


So viele Leute.
So viele Geschichten.
So viele Gefühle.
Ich studierte.
Schaute mir ihr Verhalten ab?
Zu viel, als das es gut für mich war?
Wie es mir selber ging...


... das wusste ich nicht genau.
Es klingelte.
Einmal.
Fünf Minuten Pause.
Ein zweites Mal.
Unsere Englischlehrerin kam, fast genau pünktlich zum Stundenbeginn und wir setzten uns wieder an unsere Plätze.
Wir schrieben einen Test. Kein Problem für mich.
Bei Sprachen war es, als würde ich sie im Schlaf lernen und sich die Vokabeln in mein Hirn einbrennen. Frau Thom fragte mich immer aus Spaß, ob es nicht doch meine Muttersprache wäre...
Dann fingen wir noch ein neues Thema an.
Es tat mir gut, interessiert zu tun.
In unserem eigentlichen Stammkursraum saß Lea neben mir. Rechts hatten wir einen kleinen Gang freigelassen.
Sie kritzelte etwas auf den Rand ihres Blockes und schob ihn mir unauffällig zu. Es wunderte mich, dass sie mir nicht einfach direkt sagte, was sie wollte, sonders es erst aufschrieb. Wahrscheinlich wollte sie damit die Langeweile, die sie sichtlich hatte, vertreiben.
-Samstag geht’s ab!
Sie hatte eine lustige Schrift. Krakelig, mit vielen Ecken und dann wieder ganz geschwungen. Passte zu ihr.
Ich sah kurz zu ihr, nickte und grinste.
-T. ist mit seinen Kumpels da. Ich stell dir dann mal einen Jungen vor. ;-)
Ich meldete mich, gab eine Antwort und schrieb dann, ohne von der Tafel wegzusehen. Es fiel nicht auf, wenn ich schrieb. Wir saßen in der dritten Reihe und unsere Tische waren von vorne nicht wirklich zu sehen. Das war ein Vorteil.
-Sieht er denn gut aus?
Ich zwinkerte Lea zu und sie grinste breit.
-Klar, meinst du T. hängt mit so ‘nem Looser ab? Haha. Nee, war ‘en Witz. Maik heißt der, glaub‘ ich...
Maik. Ich stellte mir einen Jungen vor, der zum Namen Maik passen würde, doch ich bekam kein richtiges Bild zusammen. Ich mochte den Namen. Kurz.
Ich mochte kurze Namen.
Ed. Tom. Kai. Marc. Jack. Maik...
-Und wieso willst‘e mir den vorstellen?
-Keine Ahnung. Einfach so. Is‘ en ziemlicher Sport-Typ meinte T. mal zu mir.
-Aha...
-Ja. Ich stell‘ ihn dir ja nur vor. Was du draus machst, liegt bei dir! ;-) Boah, ich will irgendwie jetzt schon feiern. Wird Zeit das endlich die Woche vorbei is...
-Joa. Könnten auch langsam Ferien sein! Starten wir eigentlich was an Sylvester?
-Haha. Du bist früh dran mit Planen. Aber, ja. Auf jeden Fall.
-Yeah.

Ich wusste nicht, ob ich mich wirklich freute.

Bevor Lea und ich noch irgendetwas schreiben konnten, klingelte es und die Stunde war um. Die meisten konnten gar nicht so schnell einpacken, wie sie aus der Klasse stürmen wollten.
Auch ich stopfte mein Zeug in meine Tasche, schob den Stuhl ran und ging aus der Klasse. Zusammen mit den anderen Mädels und Jungs verließ ich das Schulgebäude. Bis zum Ende der Straße, die an unserer Schule vorbeiführte, hatten wir alle den selben Weg. Dann verabschiedeten wir uns mit Umarmung. Aylin und Lea wohnten ziemlich am Rande der Stadt. Es war eine recht karge und dreckige Gegend, aber es gab ein paar Orte, an denen man gut den Tag verbringen konnte. Einen alten Park zum Beispiel, der nicht wie der neue im Stadtzentrum von lärmenden Kindern und ihren Eltern belagert wurde.
Tina lebte mit ihrem Vater im Neubaugebiet, dort, wo jedes Haus seinen eigenen Garten hinterm Haus hatte. Ihre Mutter hatte sie schon vor vielen Jahren verlassen, doch Tina schien gut klarzukommen.

Gemeinsam mit Ed machte ich mich dann auf den Weg runter zum Marktplatz. Dort wohnten wir, in einer Straße, die daran vorbeilief. Da lag der Friseursalon von Eds Mutter und ein Stockwerk darüber lebten sie. Es war eine kleine Wohnung. Eigentlich viel zu klein für ihn, seinen zehnjährigen Bruder und seine Eltern, aber das machte ihm nichts. Er genoss die Zeit mit seiner Familie immer sehr.
Zwei Häuser weiter wohnte ich dann. Auch eine kleine Wohnung, doch dadurch, dass wir zwei Stockwerke zum Leben hatten, kamen wir uns weniger in die Quere. Im Erdgeschoss waren Küche, Wohnzimmer, ein kleines Bad und oben lagen das Schlafzimmer meiner Eltern. Kiki, meine kleine Schwester, und ich, wir hatten unsere Zimmer daneben.

Ed begleitete mich immer bis vor die Haustür. Mama meinte oft, dass er dann doch zum Essen bleiben sollte und vergaß, dass er ja gerade einmal ein paar Meter entfernt wohnte.
„Okay, Katie. Man sieht sich dann morgen“, meinte er und lächelte. Sein Lächeln wirkte immer so herzlich und offen... Es machte mich richtig neidisch.

Dann trat er einen Schritt näher und umarmte mich zum Abschied.
„Ich ruf‘ dich heute Abend vielleicht noch an oder man sieht sich online...“
„Du könntest auch einfach vorbei kommen, wenn der Weg dir nicht zu lange ist“, sagte er und ich grinste.
„Ja, ok. Mal sehen. Bis dann.“
„Bis dann.“
Er hob die Hand zu einem Winken, ging erst rückwärts, drehte sich dann um und ging.
„Grüß‘ deine Ma von mir!“, rief ich ihm nach und holte dann meinen Haustürschlüssel aus meiner Tasche. Es gab ein kratzendes, metallisches Geräusch, als ich ihn im Schloss umdrehte, dann drückte ich die Tür auf und trat ein.
 



 
Oben Unten