Peethulhu
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Advarr, Der Herbst
Es war schon fast ein alltäglicher Ritus geworden in unserem kleinen Dorf. Jedes Mal, wenn der Mond über den Bergipfeln emporstieg und der nasse Nebel des Herbstes sich über das Tal legte, ertönten sie wieder, diese krächzenden, teilweise gellenden Schreie. Die aus dem Wald, der zum Tal führte, zu uns herabkamen. Viele Schauergeschichten rankten sich um diese Schreie, von Waldgeistern bis zu der rationalen Erklärung, es wäre der Winkel, in dem der Wind jeden Herbst in das Tal blies und um die vielen Bäume des Waldes pfiff. Genauer wollte jedoch niemand dem auf den Grund gehen. Viele Jahrhunderte schien es diese Schreigeräusche schon zu geben und warum etwas tun, wenn es doch keine Menschen in unserer Umgebung zu stören schien?
Es dauerte einige Zeit, bis ich und meine Frau uns daran gewöhnt hatten, als wir hierher zogen, da ich eine Arbeit in der Nähe hatte. Wir gewöhnten uns an die Geräusche sogar so sehr, dass wir auch bei offenem Fenster schlafen konnten. Es wurde fast wie ein normaler Ton im Hintergrund, der immer mitschwang und den man nicht mehr bewusst wahrnahm.
Dann kam dieser Tag, an welchem ich in die Nachtschicht musste und am Abend, wo die Schreie zu hören waren, durch den Wald fuhr. Nach diesem etwa halben Jahr war es das erste Mal wieder, dass es mich erschauern ließ, denn je näher ich dem Wald kam, umso lauter wurden die Schreie. Ich kann nicht leugnen, dass sich eine gewisse Neugier in mir breit machte, neben des Schauers, der meine Nackenhaare aufsteigen ließ.
Die Sonne war noch nicht ganz verschwunden, was den Wald in einen herrlichen Mix aus den herbstlichen Färbungen der Blätter und dem schummrigen Dämmerlicht tauchte. Ohne diese Schreie wäre es bestimmt ein wunderbares Waldstück zum Wandern. Doch als plötzlich direkt neben meiner Fahrertür ein so gellender Schrei ertönte, dass ich glaubte, jemanden überfahren zu haben, verflog in einem Augenblick meine Sicht auf den schönen herbstlichen Wald. Ich bremste und zog das Lenkrad herum und blieb an der Seite der Straße stehen.
Der Schreck saß mir noch in den Knochen, doch ich musste nachsehen, was dort war und sichergehen, dass ich nicht wirklich etwas oder jemand überfahren hatte. Langsam öffnete ich die Tür und das Aufklicken der Tür meines Wagens schien durch den ganzen Wald zu hallen. Es wehte kein Lüftchen und seltsamerweise schienen die Schreie des Waldes aufgehört zu haben. Ein leicht feuchter Nebel ließ mich erschauern und die nasskalte Luft schien sich durch meine Kleidung bis auf meine Haut zu legen. Ich verschränkte die Arme und ging in die Richtung, wo der Schrei ertönt war.
Dort war nichts weiter als ein Haufen von rotbraunem Laub, aufgeschichtet zu einem kleinen Hügel. Die Ruhe drückte mich so in meinen Gedanken nach unten, dass ich mir fast wünschte, die Schreie würden wieder losgehen. Unruhig schaute ich mich um und entdeckte beim Schwinden des Sonnenlichtes einen Schatten, der seltsam verzerrt wirkte an einem Baum. Von meiner Neugier gepackt ging ich ein paar Schritte auf den großen Baum zu, worauf dieser Schatten lag und mit Fantasie hätte man im Nachhinein erkennen können, was für eine verzerrte Kreatur dieser Schatten sein mochte.
In meinem Kopf manifestierte sich die Geschichte einer alten Frau, die erzählte, dass ein Schatten, den die Vorfahren nur Advarr nannten, im Herbst die Bäume aussaugt und sie deshalb ihre Blätter verlieren. Die Schreie, die aus dem Wald jeden Herbst kämen, wären von den Bäumen, und das Advarr auch in der ganzen Welt den Bäumen antat. Nur wäre dessen Macht in diesem Wald so stark, dass die Bäume solche Schmerzen hätten, dass man sie sogar als Mensch hören könnte. Ich lachte in meinen Gedanken, weil es eine so schöne urbane Geschichte war, die den Herbst und seine Auswirkungen beschrieb. Doch es ergab auch einen Sinn, denn an der Stelle, wo der Schrei neben meinem Auto war, lag ja jetzt dieser Haufen Laub und dieser groteske Schatten.
In meiner Arroganz, die mich erfüllte, rief ich zu dem Schatten: „Advarr, ich hoffe, es schmeckt dir gut!“ Diesen Satz werde ich bis heute bereuen. Denn als ich das rief, schien der Schatten sich aus dem Baum herauszuwinden. Ein Keifen und Röcheln ertönte aus der Richtung, dass ich nicht nur durch die nasskalte Luft erschauerte. Eine Panik ergriff mich und ich rannte so schnell ich konnte zu meinem Auto, riss die Tür auf und so schnell ich konnte, raste ich davon. Doch bevor ich den Motor startete, sah ich, wie der Schatten in einen anderen Baum überging, dessen Blätter noch teilweise grün waren und ein Schrei durch den Wald zog und alle seine Blätter braun zu Boden fielen...