Algebra oder Schweinezucht

Mein Name ist Ulf, ich bin der jüngste von fünf Söhnen des Landwirts Fiete Harms, in fünfter Generation Schweinezüchter im östlichen Hügelland Schleswig-Holsteins. Nach einer Familientradition werden die Vornamen der männlichen Nachkommen stets mit einem Namen bedacht, der in der Familiengeschichte bereits vorkommt. So heißen meine Brüder dann auch Jan, Klaas, Hein und Pitt. Mein Vorname Ulf hört sich für mich gut an, passt aber nicht in die Namenslinie der Familie. Trotzdem, alles war in dieser Hinsicht für lange Zeit normal. Allerdings nur bis zu dem Ereignis, an dem ich erfuhr, wie ich zu meinem Namen kam; das hat mich seinerzeit schockiert und mein Leben verändert. Kurz nach meinem dreizehnten Geburtstag wurde ich unfreiwillig Zeuge eines Gesprächs meines Vaters mit seinen Skat-Brüdern. Die trafen sich jeden zweiten Freitag zu ihrer Runde; neben Kartenspielen wurde auch reichlich gebechert. In solch einer Situation kann mein Vater recht lustig sein. So erzählte er seinen Freunden an diesem Abend, wie mein Vorname kreiert wurde. Bei Neugeburten gibt es traditionell etwas Alkoholisches zu trinken, Bier und Köm ist bei uns auf dem Land der Standard. Davon stimuliert, und auch sonst recht aufgeräumt, begrüßte mein Vater mich bei meiner Geburt in seiner plattdeutschen Umgangssprache mit: “Daar is he ja, 'Uns Lüttje Farken'” - da ist er ja, unser kleines Ferkel. Dieser Ausspruch passt zu einem norddeutschen Landwirt und alle lachten. In einem Anfall von spontaner Kreativität formte er daraus das Akronym 'U l f'.

Als ich diese Geschichte nun hörte, war ich stark irritiert. Mein Name war aus einer blödsinnigen Buchstabenspielerei entstanden, und dann noch dieser Hintergrund! Ich beschloss, mein Verhältnis zu Buchstabenkombinationen zu ändern. Als erstes trat ich aus dem Fußballverein aus; wer weiß schon, was sich hinter Kombinationen wie TUS, TSV oder VFL wirklich verbirgt? Keiner konnte meinen Entschluss nachvollziehen, denn ich galt als hoffnungsvolles Stürmertalent. Beim nächsten Schritt war die Schule dran. Wir hatten gerade im Mathematikunterricht Algebra dazubekommen. Ich weigerte mich, mit Buchstaben zu rechnen; mit Zahlen konnte ich sehr gut umgehen, das genügte mir. Es half auch nicht, dass mir von allen Seiten eingeredet wurde, in der Mathematik sei alles logisch.

Kurze Zeit später blätterte ich im Wartezimmer einer Zahnarztpraxis in einem pseudo-wissenschaftlichen Magazin. Dort stieß ich auf einen für mich sensationellen Beitrag. Da wies jemand in offensichtlich korrekten Rechenwegen nach, dass 1/8 größer ist als 1/4. Der absolute Hammer. Schwarz auf weiß stand da:

sicher ist 3 > 2
und lg ½ = lg ½
also 3 · lg ½ > 2 · lg ½
oder lg ( ½ )³ > lg ( ½ )²
daraus ( ½ )³ > ( ½ )²
das heißt 1/8 > 1/4

Ich hatte bislang noch nie mit Logarithmen oder Exponentialzahlen zu tun gehabt, aber dieses Ergebnis sprach für sich. Mathematik, die reine Logik, ich lach mich tot.
Das Fach Mathematik gänzlich zu verweigern ging jedoch nicht; denn über allen schulischen Belangen stand die Prämisse meines Vaters, “Wer das Gymnasium nicht schafft, macht bei mir in Schweinezucht.” Der Betrieb war allemal groß genug, um viele von uns versorgen zu können; denn mein Vater war als Züchter sehr erfolgreich gewesen. So hatte er eine neue Schweinerasse gezüchtet, die drei Rippenpaare mehr aufwies als herkömmliche Tiere. Drei Rippenpaare mehr, das heißt, sechs Koteletts mehr – für geschäftstüchtige Fleischvermarkter ein gefundenes Fressen. Also weiter mit dem Gymnasium. Dort gehörte ich bis zum Schluss zu den Schülern, die jedes Jahr auf eine Gnaden-Vier oder eine Ausgleich-Fünf hinarbeiteten; eine Sechs galt es zu vermeiden, die konnte man nicht ausgleichen.

Heute bin ich in leitender Postion als Tierarzt im Kreisveterinäramt zuständig für das Referat Schweinezucht. Wenn wir uns mit Kollegen nach Feierabend zu einer gemütlichen Runde treffen, kommt das Gespräch auch schon mal auf die Schulzeit. Dabei glänze ich dann mit der Anekdote, dass ich in der gymnasialen Oberstufe eine komplette Klasse übersprungen habe, ein äußerst seltener Vorgang. Da ich nicht als Aufschneider bekannt bin, hören diejenigen meiner Kollegen, die die Pointe nicht sofort durchschauen, aufmerksam zu.
Ich habe in der Tat eine ganze Klasse, die Oberprima, also die 13. Klasse, übersprungen. Das heißt, ich bin nach der Unterprima, der 12. Klasse, direkt ins Arbeitsleben gestartet. Vereinfacht ausgedrückt: Ich habe damals kein Abitur gemacht. Ich schließe nicht aus, dass die schulübliche Verkürzung für Oberprima, O I, hierbei eine Rolle gespielt haben könnte. Die Allgemeine Hochschulreife habe ich später auf dem Zweiten Bildungsweg erworben. Den Denkfehler in der schicksalshaften Mathematik-Ableitung habe ich nie aufdecken können.
 
Zuletzt bearbeitet:
Danke für deinen Hinweis, wirena. Das fehlende, sinngebende Wort ist 'ich'. Sorry, soetwas sollte nicht passieren. Der Erzähler hat offensichtlich nicht nur mangelhafe Mathematikkenntnise, sondern an dieser Stelle auch einen Mangel an Konzentration. Herzliche Grüße.
Horst
 
Hallo Anni, es freut mich, dass dir die Geschichte gefällt. Ja, um Humor bemühe ich mich, schön, dass der in dieser Geschichte rüberkommt. Liebe Grüße.
Horst
 



 
Oben Unten