Stefan Sternau
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Einige Tage später schlenderte Frank nach Büroschluss durch die Fußgängerzone der Innenstadt. Ohne rechtes Ziel ging er herum und schaute sich die Schau-Fenster an, denn dazu waren sie schließlich da. Und so ziellos, wie er "schaufensterbummelte", so fühlte er sich auch: Wo führt mein Weg entlang? Wie soll ich mein Positiv-Programm fortsetzen? Soll ich es denn überhaupt fortsetzen? Als er an einer Litfaß-Säule vorbeiging, streifte sein Blick ein Plakat. Es dauerte ein paar Sekunden bzw. Schritte, bis er richtig registrierte, was er da gelesen hatte, und eiligst umdrehte. Jetzt las er den Text ganz: "Professor Feelgood kommt, der berühmte Positiv-Denker aus den USA spricht zu Ihnen. Vortrag am 7.5. in der Stadthalle. Prof. Feelgood redet Deutsch, denn er ist deutscher Herkunft."
Wenn das kein Wink mit dem Zaunpfahl war! Nur wer winkte ihm da? Egal, in diesen Vortrag würde er gehen, koste es, was es wolle. Es kostete 25 Euro, wie er noch im Kleingedruckten auf dem Plakat entzifferte. Teuer. Aber wenn Professor Feelgood sich - hoffentlich - als der von ihm dringend gesuchte Lehrer, Meister, Guru entpuppen sollte, war es billig, spottbillig. Auf einmal fiel die Rat- und Prientierungslosigkeit von Frank ab. Er hatte ein neues Ziel, den Vortrag von "Ihm". Sein allererstes (Nah-)Ziel war allerdings die Vorverkaufskasse. Beschwingt "My sweet Lord" summend, eilte er zielstrebig dorthin. Seine gute Stimmung hielt auch in den nächsten Tagen an.
Leichtsinnigerweise erzählte er in seinem Hochgefühl auch Kollege Karlo von Professor Feelgood. Der verbreitete daraufhin grinsend im ganzen Büro, Frank ginge zu einem Vortrag von "Dr. Smiling". Aber diesmal konnte ihn auch Karlo nicht ärgern.
Am Mittwoch war es endlich soweit. Überpünktlich um 19:30 Uhr - um 20 Uhr sollte es losgehen - stand Frank am Eingang. An der Kasse herrschte bereits ein beträchtlicher Andrang. Ein Glück, dass er schon seine Karte hatte. Man sah die verschiedensten Leute, alt und jung, offensichtlich querbeet duch alle sozialen Schichten. Das gab Frank ein gutes Gefühl: Wir Positiv-Denker sind eben eine große, glückliche Familie. Schließlich hatte er seinen Platz gefunden. Vor dem Setzen guckte er noch einmal rundum, ob er jemanden kannte. Etwa zehn Reihen hinter ihm setzte sich gerade eine Frau, die aussah wie die Buchhändlerin Karin Pfeifer. Ob sie es wirklich war?
Aber was machte die hier? Sie schien doch nichts vom Positiven Denken zu halten. Schade, dass er von seinem Platz so schlecht nach ihr schauen konnte. Er drehte sich nochmal um, aber die Leute hinter ihm blickten schon ganz komisch.
Plötzlich durchzuckte es ihn: Karin, das war genau eine Frau, wie er sie wollte. Merkwürdig nur, dass ihm das nicht schon vorher aufgegangen war. Aber jetzt spürte er, wie sehr sie ihm gefiel. Schon äußerlich, mit den dunkelblonden, langen Haaren, zum Pferdeschwanz gebunden; ihre schlanke, zugleich wohlproportionierte Figur. Und ihre Art: freundlich, doch auch etwas ironisch-kühl. Sie lag ihm einfach mehr als die allzu süßliche Rita. Er musste unbedingt versuchen, mit Karin - falls sie es denn war - nach dem Vortrag ins Gespräch zu kommen. Doch jetzt wollte er sich erst einmal auf den Vortrag einstellen, dazu war er schließlich hier.
Direkt vor ihm tuschelten zwei mittelalterliche Frauen. Fragte die eine: "Heißt er wirklich Alexander Feelgood?" Darauf die andere: "Nein, ich habe gehört, er heißt eigentlich Hugo Egilward Gurkner." Frank dachte: Da kann man ihm die Umbenennung wirklich nicht verdenken. Gegen so einen Namen hilft nicht einmal Positives Denken. Fragte die erste Frau wieder: "Ist er denn wirklich Professor?" Die zweite erwiderte: "Nein, aber er ist dermaßen strahlend selbstbewusst, dass er sich selbst zum Professor ernannt hat." "Oh, wie positiv", flötete die erste andächtig.
Endich war es soweit. Licht im Saal aus, Spot auf der Bühne an. Ein Mann trat auf und eilte zum Mikrofon. Als Beifall aufbrandete, winkte er bescheiden ab. "Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin es nicht. Aber ich darf Ihn ankündigen. Wir sind sehr stolz, zum ersten Mal in Deutschland Professor Feelgood präsentieren zu können, berühmt nicht nur aus Funk und Fernsehen. Man nennt ihn ja auch den 'positiven Professor' oder schlicht und ergreifend 'Mister Positiv'. Hier ist er." Und nun trat ER selbst auf. Im blütenweißen Smoking schritt er, kraftvoll-dynamisch und doch zugleich mit würdevoller Ruhe auf die Bühne. Vorne angekommen, breitete er die Arme aus, erst nach vorne und dann nach oben, als ob er nicht nur die Erde, sondern auch den Himmel umarmen wollte.
"Meine lieben Positiv-Freunde. Sie alle kennen den Satz des großen Shakespeare: 'Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage: Gestatten Sie mir, dass ich Shakespeare ein wenig korrigiere. Die eigentliche Grundfrage lautet: positiv sein oder nicht sein? Denn nur wer positiv lebt, lebt wahrhaft und wirklich. Ein negativer Mensch geht am Leben vorbei, er ist im Grunde gar nicht richtig da, nicht existent." Prof. Feelgood nahm den aufbrausenden Beifall gönnerhaft entgegen und zupfte sich die weiße Krawatte zurecht. Aber Frank hatte Mühe, sich ganz auf den Vortrag zu konzentrieren. Seine Gedanken kreisten um Karin: War sie da oder war sie nicht da? Hatte sie ihn auch gesehen? Und würde es ihm gelingen, sie nach dem Vortrag in dem Gewühle zu finden?
"Der Mensch ist darauf angelegt, positiv zu sein. In seinem Innersten ist jeder Mensch positiv - ein Glückskind. Dieses Glückskind muss nur herausgelassen werden. Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern. In jedem dicken Menschen ist ein dünner verborgen. Der muss befreit werden, damit der Dicke sich dünne macht. Genauso muss unser glückliches Kind aus dem Miesling herauskommen." Frank zog unwillkürlich den Bauch ein. Sicher mochte die schlanke Karin lieber schlanke Männer. "Oder nehmen wir eine andere Analogie, die Fotografie. Wer von Ihnen will schon ein kleines, dunkles 'Negativ' sein? Nein, Sie alle wollen natürlich ein 'Positiv' sein, groß, bunt und glänzend. Oder: Sie möchten alle lieber im Licht als im Schatten leben, auf der Sonnenseite gehen als im Regen stehen." Frank stellte sich ein lebensgroßes Poster-Foto von Karin vor, ihre Haare glänzten im Sonnenlicht. Aber er wurde in seiner Phantasie aufgeschreckt, denn die Stimme des positiven Professors bekam einen etwas drohenden Tonfall.
"Nicht dass wir uns missverstehen. Es gibt keinen Glückspilz, und es gibt keinen Pechvogel. Damit meine ich: Glück und Unglück kommen nicht - zufällig - von außen zu uns, sondern sie sind einfach das Ergebnis unserer Gedanken. Nur wer glücklich denkt, wird zum Glückskind, wer unglücklich denkt, der wird zum Unglücksraben."
Mr. Feelgood machte eine kunstvolle Pause, was Frank Gelegenheit gab, wieder an Karin zu denken. Vielleicht konnte sie seine Glücksgöttin Fortuna werden. Allerdings musste er zunächst - wie ja gerade zu hören war - sein Glück selbst in die Hand bzw. durch Positives Denken in den Kopf nehmen, er konnte nicht erwarten, dass sein Glück, sprich Karin, ihm einfach in den Schoß fiel. Doch zurück zum Glücks-Professor. "Wie können Sie mit einer Frage einen Positivler oder Optimisten von einem Negativler oder Pessimisten unterscheiden?" Aha, dachte Frank, jetzt kommt bestimmt das Beispiel, das er bisher in jedem Positiv-Buch gelesen hatte: Wenn ein Glas Wein zur Hälfte gefüllt ist, sagt der Optimist: "Das Glas ist halb voll." Und der Pessimist: "Das Glas ist halb leer." Doch der Professor überraschte ihn und offensichtlich auch die meisten anderen Zuhörer, wie viele erstaunte Ahs und Ohs zeigten.
"Wenn eine Zigarette zur Hälfte geraucht ist, sagte der Optimist: 'Die Zigarette ist schon halb aufgeraucht, sie zu Ende zu rauchen, kann mir nicht viel schaden.' Und der Pessimist: 'Die Zigarette ist erst halb aufgeraucht, sie zu Ende zu rauchen, wird mir viel schaden.''' Ehe Frank zu Karin abschweifen konnte, ging es weiter. "Meine lieben Freunde, das Fundament des Positiven Denkens ist die Liebe. Aber es genügt nicht, wenn Sie nur Ihre Familie oder gar nur sich selbst richtig lieben; sondern man muss alles und alle lieben. Ihr Lebensmotto soll in Zukunft lauten: 'Seid umschlungen, Millionen!'" Millionen zu umschlingen, das kam Frank zu anstrengend vor - es sei denn Geldscheine, aber die meinte der Professor wohl nicht. Stattdessen malte er sich aus, wie er Karin mit allen Armen und Beinen umschlang. "Sie müssen sich mit der ganzen Menschheit, der ganzen Welt, dem ganzen Kosmos vereinigen."
Ohne dass er es verhindern konnte, überkam Frank die äußerst intensive Vorstellung einer Vereinigung mit Karin. Keine Rede mehr von Erektionsproblemen wie neulich bei Rita. Vielmehr bemühte er sich vergeblich um eine "Derektion", denn hier, in dem vollen Saale, war der falsche Platz für seinen Männlichkeitsbeweis. "Das Wesentliche ist der - liebe - Gedanke. Es gibt nichts Gutes, außer man denkt es. Denn jede gute Tat entspringt einem guten Gedanken. Primär müssen Sie ein Gedankenmensch sein, erst sekundär ein Tatmensch. Es gibt viel zu tun, denken wir es an." Diese Worte klangen Frank nach unsinnlicher, "platonischer Liebe". Mit Karin wollte er lieber etwas handfester, nicht nur gedanklich verkehren.
Doch im Moment tat der professorale Gedankenappell seiner überhitzten Phantasie und Körperlichkeit ganz gut. Noch einmal wurde des Redners Stimme warnend. "Vergessen Sie nie: Der Gedanke kann Positives aufbauen, aber er kann auch zerstören. Manche von Ihnen kennen wahrscheinlich die Plastik 'Der Denker' von dem Bildhauer Rodin. Sein Denker sieht richtig miesepetrig aus, er gibt sich ganz deutlich negativen Gefühlen hin. Lassen Sie sich diesen Typen als abschreckendes Beispiel dienen." Die beiden Frauen vor Frank tuschelten wieder. "Wie gebildet unser Professor ist", flüsterte die eine bewundernd. "Ja, ein echter Gelehrter", flötete die andere zustimmend. Der gebildete Professor steigerte sich jetzt zum Schluss-Crescendo. "Das Allerwichtigste ist: Geben Sie nie auf beim Positiven Denken. Und geben Sie das Positive Denken nie auf. Denn es hilft, todsicher. Wenn Sie keinen Erfolg damit erreichen, dann müssen Sie es eben noch mehr, noch stärker, noch häufiger betreiben. Sie dürfen sich aber natürlich auch Unterstützung von einem Profi-Positivler holen. Falls Sie sich an mich wenden wollen, ich bleibe für drei Wochen in Ihrer Stadt und stehe für Einzelsitzungen zur Verfügung. Sie erreichen mich im Hilton-Hotel."
Toll. Das war ja genau, was Frank sich erhofft hatte. Er konnte sich also von diesem professionell positiven Professor auf die gedanklichen Sprünge helfen lassen. Dennoch klatschte sich Frank nur kurz in den tosenden Beifall ein und eilte dann nach unten, zum Ausgang, um Karin - es musste einfach Karin sein – abzufangen. Diesmal hatte er gleich doppeltes Glück bzw. doppelt glücklich gedacht: Denn erstens war es Karin, und zweitens steuerte sie genau auf die Ausgangstür zu, neben der er sich möglichst unauffällig auf die Lauer gelegt hatte.
Frank sagte: "Hallo, meine spöttische Buchhändlerin. Sie auch hier? Das wundert mich aber. Beschatten Sie mich vielleicht?"
(Frank dachte wirklich: Jetzt heißt es: cool bleiben. Sich keine Blöße geben. Eine Frau wie sie mag bestimmt nur starke Männer.)
Karin sagte: "Na ja, ich wollte doch mal gucken, wo mein bester Kunde seine Abende verbringt. Nein, ehrlich, Ihre Begeisterung für das Positive Denken hat mich neugierig gemacht. Und da ich heute gerade nichts Besseres vorhatte, bin ich spontan hierhin gekommen."
(Karin dachte wirklich: Schon peinlich, dass er mich hier sieht, nachdem ich mich über sein Positiv-Denken lustig gemachthabe. Andererseits bin ich vor allem in der Hoffnung gekommen, ihn hier zu treffen. Das darf er nur auf keinen Fall merken, ich darf bloß keine Schwäche zeigen.)
Frank: "Das Positive Denken ist wirklich großartig. Nach einigen kleinen Anfangsschwierigkeiten bin ich mit meinen Erfolgen sehr zufrieden."
(Wenn Sie mir nur nicht ansieht, dass ich noch kaum einen Erfolg damit erreicht habe.)
Karin: (Das habe ich befürchtet, dass er so selbstbewusst geworden ist. Er mag sicher auch nur eine ganz selbstbewusste Frau. Ich muss möglichst dick auftragen.)
"Ach, wissen Sie, mich treibt mehr berufliches Interesse her. Sie haben ja selbst gesehen, wie viele Bücher über Positives Denken bei uns im Regal stehen. Wir machen etwa 10% unseres Umsatzes damit. Für mich persönlich brauche ich das natürlich nicht."
Frank: (Wie gerne hätte ich sie gefragt, ob sie mit mir noch in ein Lokal geht. Aber dieser starken Frau bin ich einfach nicht gewachsen, jedenfalls noch nicht. Es hat gar keinen Sinn, sie zu fragen, bestimmt würde sie ablehnen.)
"Ja, dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Vielleicht sehen wir uns einmal wieder in Ihrer Buchhandlung."
Karin: (Schade. Warum fragt er mich nicht, ob wir noch irgendwo zusammen hingehen? Wahrscheinlich bin ich ihm nicht selbstsicher und strahlend genug. Sollte ich es wirklich auch einmal mit Positivem Denken versuchen?) "Ich muss mich schnell verabschieden, da ich noch zu einer Party gehe. Auf Wiedersehen."
Direkt am nächsten Tag rief Frank im Hotel an und ließ sich mit dem Apparat von Professor Feelgood verbinden. Doch da war nur der Anrufbeantworter zu hören: "Hi, hier spricht Professor Feelgood. Mir geht es blendend - und Ihnen? Wenn es Ihnen nicht bestens geht, kommen Sie zur Positiv-Behandlung bei mir. Stundenpreis 180 Euro, bar. Ich rufe Sie nicht zurück. Da Sie etwas von mir wollen, müssen Sie es eben so oft versuchen, bis Sie mich erreichen." Frank schwankte zwischen Bewunderung und Ärger. Dieser Mensch war wirklich selbstbewusst, eigentlich bereits selbstüberheblich. Allein schon einen Anrufbeantworter im Hotelzimmer zu besitzen. Dann dieser Text. Und 180 Euro wollte er haben!
Trotzalledem, Frank war und blieb entschlossen, diese große Chance zu nutzen. Er würde zum Professor in die "Positiv-Sprechstunde" gehen. So rief er im Verlauf der nächsten Stunden immer wieder an. Beim 6. Mal klappte es. Er hatte, nein, nicht Mr. Positiv, aber doch seine Assistentin höchstpersönlich an der Leitung. Sie gab ihm einen Termin schon in drei Tagen. Reichlich aufgeregt legte Frank den Hörer nieder. Auf dieses Gespräch wollte er sich gut vorbereiten. Denn es hatten sich viele Fragen zum Positven Denken bei ihm angesammelt, auf die er dringlichst eine Antwort wünschte. Diese Fragen musste er aber erst einmal in seinem Kopf ordnen und dann möglichst aufschreiben. Die Zeit bis zu dem Termin verlief quälend langsam und rasend schnell. Zu langsam, weil Frank so gespannt darauf wartete; zu schnell, weil er befürchtete, bis dahin nicht alle Fragen systematisch zu Papier gebracht zu haben, womöglich eine besonders wichtige Frage zu vergessen. Endlich war der Tag gekommen. Frank hatte sich extra freigenommen, um den Termin einhalten zu können. Im Hotel erkundigte er sich beim Portier und fuhr dann in den obersten Stock, zum Zimmer des Professors. Genauer gesagt zur Präsidentensuite, in der dieser residierte. Die Assistentin, die aussah wie eine Miss America, empfing ihn und leitete ihn zum "Behandlungszimmer".
Fast hätte Frank den Professor gar nicht erkannt. In Jeans und grauem Sakko sah er doch viel unauffälliger aus, nahezu unbedeutend, ganz anders als im weißen Smoking auf der Bühne. Und er gab sich auch viel zurückhaltender, ruhiger. Aber nach der ersten Enttäuschung fühlte sich Frank erleichtert; mit diesem "normalen" Mann konnte er bestimmt leichter sprechen als mit dem Glamour-Glitzer-Star des Vortrages. So fiel es ihm auch nicht schwer, dem "Herrn Positiv" von seinen bisherigen Erfahrungen mit dem Positiven Denken offen zu berichten - mit Ausnahme der Episode mit Rita. Er endete mit dem Satz: "Herr Professor, ich habe wirklich versucht, so positiv zu denken, wie es nur geht; aber ein größerer Erfolg blieb aus. Was mache ich falsch? Oder: Was denke ich falsch?"
Prof. Positiv lächelte freundlich. "Mein Lieber, das ist doch offensichtlich. Die Kraftquelle für das Positive Denken sitzt im Unterbewusstsein. Dort müssen Sie ansetzen. Stattdessen haben Sie sich bisher vor allem auf Ihr Bewusstsein konzentriert."
"Aber ich habe auch das Unterbewusstsein in meine Positiv-Übungen miteinbezogen. Ich kenne sogar das Buch 'Die Allmacht Ihres Unterbewusstseins. '"
"Mag sein. Entscheidend ist jedoch, das Unterbewusstsein richtig anzusprechen. Und das gelingt nur, wenn man seelisch und körperlich entspannt ist. Sie sind so entspannt wie ein angezogener Flitzebogen. Zunächst müssen Sie daher eine Entspannungsmethode wie das Autogene Trainig lernen. Außerdem darf man das Unterbewusstsein nur mit Affirmationen beeinflussen."
"Was sind Affirmationen?"
"Affirmationen sind bejahende Sätze, im Gegensatz zu Negationen, verneinenden Sätzen. Sie haben mir von Ihrem Ess-Anfall berichtet, den Sie mit dem Satz 'Ich bin nicht hungrig' zu stoppen versuchten. Das war grundfalsch. Sie hätten affirmativ formulieren müssen: 'Ich bin satt.' Das Unterbewusstsein registriert nämlich vor allem den zentralen Begriff eines Satzes. Wie 'satt' oder eben 'hungrig'. Dass vor einem 'hungrig' ein 'nicht' steht, registriert es kaum. Sie haben also mit 'Ich bin nicht hungrig' Ihr Unterbewusstsein gerade immer hungriger gemacht."
Frank war ganz aufgeregt. Er guckte auf seinen Spickzettel und las die nächste Frage ab. "Was ich auch nicht verstehe: Coué sagt doch, man solle Suggestionen ganz monoton herunterleiern, während andere Positiv-Autoren schreiben, man solle sich lebhafte innere Bilder von seinem Ziel machen. Wer hat denn nun recht?"
"Keiner. Oder beide. Viele Wege führen nach Rom. Und so gibt es zwar nicht viele, aber doch einige Wege zum Unterbewusstsein. Für den einen Menschen ist es sinnvoller, Coué zu folgen: die Suggestionen eintönig, mit rhythmischer Wiederholung, wie in Trance zu verankern. Andere Menschen haben mehr Erfolg, wenn sie sich auf schöne, bunte Innenbilder konzentrieren. Probieren Sie aus, was bei Ihnen am besten wirkt. Oder wechseln Sie diese Methoden ab."
"Aha", sagte Frank. Und er hatte wirklich ein Aha-Erlebnis nach dem anderen. Aber noch fehlten ihm einige wichtige Ahas. "Herr Professor, auf welcher Kraft beruht eigentlich das Positive Denken? Man liest von der Kraft der Gedanken, der Kraft des Unterbewusstseins, der Kraft des Kosmos usw. ..."
"Lassen Sie sich nicht verwirren, mein Guter. Im Grunde meinen alle diese Begriffe die gleiche Kraft. Man kann allerdings auch genauer unterscheiden. Sie wissen ja sicher bereits, dass die wahre Kraft nicht materiell, sondern geistig ist. Nun, die geistige Kraft des gesamten Kosmos ist viel zu gewaltig, als dass wir sie mit unseren bewussten Gedanken erfassen könnten. Das hielten wir im Kopf nicht aus. Die kosmische Kraft ist uns aber über unser riesiges Unterbewusstsein zugänglich."
"Was ist denn das Unterbewusstsein genau?"
Prof. Positiv stöhnte, halb echt, halb gekünstelt. "Herr Fröhlich, Sie sind aber wirklich sehr wissbegierig. Stellen Sie sich einen Eisberg in Form einer Pyramide vor. Die kleine Spitze des Eisberges, die aus dem Wasser ragt, steht für unser Bewusstsein. Dann, unter Wasser, kommt zunächst das persönliche Unterbewusstsein oder persönliche Unbewusste, wie man auch sagt. Es beinhaltet die unbewussten Gedankenbilder und Kräfte des individuellen Menschen. Dann kommt das kollektive Unterbewusstsein bzw. Unbewusste; es umfasst das verborgene Wissen und die geistige Kraft der ganzen Menschheit. Und so geht es weiter, bis ganz unten, wo die Pyramide am größten ist. Hier finden wir das kosmische Unterbewusstsein, die kosmische Intelligenz und Kraft. Um nur uns selbst zu beeinflussen, zum Beispiel unser Selbstvertrauen zu stärken, genügt es, das persönliche Unbewusste anzusprechen. Wenn man aber andere Menschen oder Dinge beeinflussen will, die vielleicht sogar weit von uns entfernt sind, womöglich auf einem anderen Kontinent, brauchen wir die Kraft des kosmischen Unterbewusstseins."
Der Professor schaute auf die Uhr. Frank beeilte sich, eine letzte Frage abzuschießen. "Freunde von mir haben gesagt, Positives Denken sei nur Verdrängung. Man übertünche so ungelöste Konflikte oder negative Gefühle wie Angst und Zorn. Man dränge sie ins Unbewusste, anstatt sie bewusst aufzuarbeiten und damit zu überwinden. Ja, es käme sogar darauf an, bereits verdrängte Konflikte - vor allem aus der Kindheit - wieder bewusst zu machen. Nur dann ließen sie sich lösen, während sie einen sonst unterschwellig ständig belasteten."
Professor Positiv lächelte milde und nachsichtig. "Nun hören Sie mal gut zu, damit Sie Ihre Freunde eines Besseren belehren können. Es ist nicht notwendig, meistens auch gar nicht wünschenswert, Konflikte, Kränkungen oder Enttäuschungen bewusst zu halten oder bewusst zu machen, um sie zu überwinden. Denn wie ich Ihnen erklärt habe, ist die Kraft des Unterbewusstseins viel stärker als die des Bewusstseins. Man kann die Konflikte und negativen Gefühle viel besser im Unterbewusstsein selbst auflösen, durch Suggestionen wie 'Meine Angst löst sich auf.' Oder man stärkt das Positive in sich, durch Suggestionen wie 'Ich bin ganz mutig', wodurch die negative Angst automatisch immer schwächer und schwächer wird. So, jetzt aber Schluss mit der Fragerei. Bis zur nächsten Sitzung versuchen Sie, sich etwas entspannen zu lernen. Ich gebe Ihnen eine kleine Broschüre von mir mit, in der alles Wichtige dazu drin steht."
Frank nahm seinen ganzen Mut zusammen: "Herr Professor, erlauben Sie mir noch eine persönliche Frage. Ich erlebe Sie hier ganz anders als auf der Bühne. Dort waren Sie - Entschuldigung - ein Showman, jetzt sind Sie ein Therapeut. Wer sind Sie nun wirklich?"
Der positive Professor lachte: "Sehen Sie, Herr Fröhlich: There is no Business like Positive Business. Mein Publikum mag solche Auftritte. Die Leute glauben mir auch mehr, wenn ich mich wie ein Wundermann oder Magier präsentiere. Dadurch funktioniert wiederum ihr positives Denken besser. Es nutzt ihnen also. Und mir auch: Denn je höher der Zulauf, desto höher meine Honorare. Deshalb hat mich meine Agentur, die prozentual mitverdient, sogar vertraglich zu weißem Smoking und dergleichen verpflichtet."
Frappiert von so viel Ehrlichkeit, ging Frank von dannen. Aber dennoch hatte er ein gutes Gefühl: Der Professor kann wirklich alle meine Fragen kompetent, souverän und überzeugend beantworten. Und dass er seine Auftritte so marktgerecht gestaltet und dies ganz offen zugibt, spricht auch für ihn und seinen Realismus. Bravo, Herr Professor!