Stefan Sternau
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Am nächsten Tag schlich Frank nur so herum. Das Leben schien ihm leer, er hatte sein Ziel und seine Hoffnung verloren, sah keine Chance zur Veränderung mehr. Selbst Kollege Karlo, der normalerweise die Sensibilität eines Presslufthammers besaß, ließ ihn in Ruhe. Nur einmal versuchte er, den "rosaroten Lächler" aufzuziehen; aber als er Franks trostlose Miene sah, widmete er sich schweigend wieder seiner Arbeit. Und Kollegin Frau Alt entdeckte ihre mütterlichen Instinkte für Frank. Sie sah ihn mitleidig an, als sei er ein verwaistes Robben-Baby und versorgte ihn mehrfach mit ihrem sonst streng gehüteten "Krönungs-Kaffee".
Am Abend rief sein Freund Josef, der Dauer-Depressive, an:
- Tag Frank, mir geht es entsetzlich.
- Tag Josef, mir geht es auch furchtbar.
- Was dir?! Aber bestimmt geht es dir nicht so schlecht wie mir. Weißt du, was mir gerade passiert ist ...
- Entschuldigung, aber mir geht es noch schlechter als dir. Ich habe mein Positives Denken verloren. Mein Leben ist total sinnlos geworden.
- Na gut, aber mein Leben ist schon viel länger absolut sinnlos. Damit du das nur weißt. Überhaupt: Stell dich doch nicht so an.
- Das sagst gerade du.
- Ja, ich. Denn mir geht es wirklich hundsmiserabel. Aber du müsstest dich nur einmal ordentlich zusammenreißen. Ich ruf dich mal wieder an, wenn du dich nicht mehr mit deinem angeblichen Schlechtfühlen so wichtig machst.
Frank war zu deprimiert, um sich über diesen Monopol-Pessimisten zu ärgern oder zu belustigen. Immerhin brachte ihn sein Anruf auf eine Idee. Nein, von Josef, dem Berufs-Jammerer, konnte er keine Hilfe erwarten. Aber vielleicht von Thomas Peters, dem Experten für Positives Denken und Lebensmeisterung. Zwar war der Kontakt zu Thomas sehr abgekühlt, und Frank nervte dessen überhebliche Art. Aber in seiner Notlage konnte er es sich nicht leisten, wählerisch oder empfindlich zu sein.
Und er hatte Erfolg, er bekam Thomas direkt ans Telefon. Das blieb allerdings auch der einzige Erfolg, denn das Gespräch brachte ihm ebensowenig wie das mit Josef. Thomas sagte ihm:
"Wer wirklich will, der kann auch positiv denken. Und: Wo ein positiver Glaube ist, da ist auch ein positiver Weg." Im Grunde sei das ganz einfach. Er müsse sich nur "im Kopf zusammenreißen". Frank erwiderte nicht, dass er das schon zig Mal versucht hatte. Thomas würde ihn doch nicht verstehen. Ehe er wieder zu hören bekam, er müsse seinen Gedankenmüll ausleeren, legte Frank auf. Er fühlte sich nicht nur tieftraurig, sondern auch einsam und verlassen in seiner Melancholie.
Einige Tage später trottete Frank gedankenverloren durch die Stadt. Er grübelte darüber nach, ob er sich vielleicht mit anderen Gescheiterten zusammentun sollte. Eventuell könnte er eine "Pechvogel Arbeitsgemeinschaft" ins Leben rufen. Oder besser einen "Club der Verlierer und Versager" gründen; den würde er "Club V. & V." nennen. Aber ob sich solche Nieten je aufraffen würden, zu einem Club-Treffen zu kommen? Plötzlich wurde er durch eine bekannte Stimme aus seinen düsteren Gedanken aufgeschreckt:
"Hallo, Herr Fröhlich!"
Frank guckte hoch, zunächst missmutig, in seiner Selbstquälerei gestört zu werden, dann aber freudig überrascht. Denn es war Karin Pfeifer, "seine" Buchhändlerin. Und so niedergeschlagen er sich auch fühlte, vor ihr wollte er doch nicht allzu jammervoll wirken. So richtete er sich auf, brachte sogar ein gequältes Lächeln zustande.
"Herr Fröhlich, ich freue mich, Sie zu treffen. Denn ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie mich auf den Wert des Positiven Denkens aufmerksam gemacht haben. Nun kann ich auch zugeben, dass ich neulich in unserem Gespräch - nach dem Vortrag bei Professor Feelgood - nicht ganz ehrlich war. Denn ich ging keineswegs nur aus beruflichem Interesse zu diesem Vortrag, sondern vor allem wegen persönlicher Probleme, für die ich mir eine Lösung durch das Positive Denken erhoffte. (Zuzugeben, dass sie damals eigentlich gekommen war, um Frank wiederzutreffen, so ehrlich wollte sie auch jetzt nicht sein.) Seitdem praktiziere ich das Positiv-Denken, und zwar recht erfolgreich."
Frank fühlte sich wie elektrisiert. Was, sie hatte Erfolg mit dem Positiven Denken - und schon nach so kurzer Zeit?! Und obwohl es ihm bitter schwer fiel, er wollte jetzt ebenfalls ehrlich sein: "Ich war damals auch nicht ganz aufrichtig. Denn ich ging zu dem Vortrag, weil ich mit dem Positiven Denken allein nicht schnell genug weiterkam und neue Anregungen suchte." (Zuzugeben, dass er seinerzeit und augenblicklich wieder an seinen Misserfolgen fast verzweifelte, so ehrlich war er nun doch nicht.)
"Vielleicht haben Sie sich zu sehr auf die Positiv-Bücher verlassen", meinte Karin. "Ich habe auch erst einen richtigen Aufschwung erreicht, als ich anfing, Positiv-CDs zu hören. Das wirkt viel direkter und intensiver als das Lesen. Wir führen inzwischen in der Buchhandlung auch solche CDs. Kommen Sie doch einmal vorbei."
"Ja gerne", sagte Frank. "Und" - er gab sich einen Ruck - "ich freue mich, Sie wiederzusehen."
Sie lächelten sich beim Abschied zu.
Frank ging wie betäubt weiter. Das Leben war schon merkwürdig. Eben fühlte er sich noch total am Boden, und auf einmal, durch diese kurze Begegnung, hatte sich alles gewandelt. Er empfand wieder Hoffnung, Hoffnung, doch noch das Positive Denken zu erlernen, aber auch Hoffnung auf eine neue Liebschaft - mit Karin. Welche dieser Hoffnungen ihn mehr beflügelte, konnte er nicht sagen. Damit Karin seine Sympathie für sie nicht gar zu deutlich spürte, wartete er einen Tag ab, ehe er sie bzw. die Buchhandlung besuchte. Karin beriet gerade einen Kunden, wies Frank aber mit dem Finger auf ein CD-Regal in der Ecke hin.
Frank schätzte, dass darin etwa 200 CDs in Reih und Glied standen. Und wie er nach einigen Blicken erkannte, hier bot sich ihm ein wahrer Supermarkt des Positiven Denkens oder Hörens. Da gab es für jedes Problem eine Lösung bzw. eine CD. Es ging los mit traditionellen Themen wie "Nie mehr schüchtern", "Raus aus der Depression", "Schluss mit Stress und Sorgen" oder "Morgen bin ich glücklich“. Man konnte aber nicht nur seine Seele auf Vordermann bringen, sondern auch seinen Geist aufpolieren mit "Super-Konzentration", "Lernen mit Spaß" oder "Kreativ wie Einstein". Wer Suchtprobleme hatte, erledigte sie dank CDs wie "Stop Smoking" und "Adios Alkohol" mühelos. Und so ging es weiter. Damit einem bei den vielen Positiv-Scheiben - jede kostete immerhin um die 20 Euro - das Geld nicht ausging, kaufte man am besten noch zusätzlich "Ich werde reich - reicher - steinreich". Und falls einen die Geldausgabe trotzdem ärgerte, half "Basta mit dem Zorn". Obwohl Frank mittlerweile nicht mehr blauäugig jeder Positivversprechung glaubte, waren ihm solche CDs sofort symphatisch. Denn das war ja klar: Eine CD zu hören, ging viel leichter und bequemer, als ein Buch zu lesen. Außerdem konnte man dieses Positiv-Hören bei vielen Tätigkeiten nebenbei betreiben. Und schließlich: Es wirkte viel eindringlicher und persönlicher, Positiv-Gurus wie "Montag" oder "Trapperbier" selbst sprechen zu hören, als nur ihre Worte zu lesen. Man packte sich seinen "Meister" einfach in den Discman oder MP3-Player und lauschte "der Stimme seines Herren". Dennoch war man dabei nicht abhängig oder ausgeliefert wie bei einem direkten Kontakt; davon hatte Frank seit seinen Erfahrungen mit Prof. Feelgood genug. Nein, jetzt saß er am Drücker. Drückte er Start, musste der Positiv-Herr losreden; und drückte er Stop, dann hielt der sofort den Mund. Ausgezeichnet.
Frank griff drei CDs:
1) Positiv Denken - So gelingt es garantiert
2) Werde dein eigener Guru
3) Positiv - Noch Positiver - Am aller Positivsten.
Dann nahm er noch 4) Grenzenlose Gesundheit.
Zwar brauchte er diese CD im Moment nicht notwendig, aber "wer weiß, wozu es gut ist". Vier Stück, das war natürlich ganz hübsch teuer. Doch er wollte jetzt positiv klotzen anstatt negativ kleckern. Und er wollte Karin gegenüber ein bisschen protzen, jedenfalls nicht knickrig erscheinen. Aber das hätte er sich im wahrsten Sinne sparen können. Denn sie bediente gar nicht die Kasse und war - noch immer oder schon wieder - in einem Beratungsgespräch, so dass sie ihm nur zuwinkte. Etwas enttäuscht verließ Frank den Laden. Umso mehr freute er sich darauf, gleich, schon im Auto, die erste CD zu hören.
Spontan schnappte er sich den "eigenen Guru". Streichelsanfte, ungeheuer harmonische Sphärenklänge ertönten. Nach dieser himmlischen Ouverture, auf dem Boden eines Klangteppichs, begann er, Montag, zu sprechen: "Sie sind der Meister Ihres Lebens. Was immer Sie anfangen, es gelingt Ihnen. Schauen Sie zu sich auf, Sie haben es verdient." Die Stimme war so freundlich und Vertrauen erweckend; man würde diesem Mann sofort einen Gebrauchtwagen abkaufen. Frank hörte mit Begeisterung, was für ein toller Typ er doch sei. Trotzdem verspürte er zu viel Neugier auf die anderen CDs, um die erste jetzt bis zum Ende zu hören. Stattdessen griff er sich zu Hause schnell die nächste: "Positiv - Noch Positiver - Am aller Positivsten". "Diese CD arbeitet mit Selbsthypnose", las er auf der Hülle. Hypnose? Frank schreckte zurück, er wurde unliebsam an die Sitzung bei Prof. Feelgood erinnert. Aber bei der Selbst-Hypnose hypnotisierte er sich ja selbst. Zwar mit Hilfe der CD, doch die konnte er jederzeit abstellen - hoffentlich. Er las weiter, dass man eine solche Trance-CD nur beim Ruhen hören dürfte, keinesfalls bei Tätigkeiten, die besondere Aufmerksamkeit erforderten wie etwa Autofahren oder Fernsehen. Das leuchtete unmittelbar ein, zumal da auch stand, der Hörer solle die Augen schließen.
Frank legte sich gemütlich hin, schob die CD in den Player und schloss die Augen. Diesmal erklang eine glockenhelle Frauenstimme: "Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit einer Rolltreppe in die Tiefe - in die Tiefe Ihres Unterbewusstseins. Mit jeder Stufe sinken Sie tiefer und tiefer. Wenn Sie unten angekommen sind, fühlen Sie sich ganz gelöst und entspannt - Sie sind in Trance." Leider nur störte die hohe Stimme Frank bei seiner Vertiefung. Er war schon bis ins sechste Kellergeschoß runtergefahren und verspürte doch noch keine Trance, höchstens einen gewissen Tran. Aber im siebenten Keller klappte es. Frank wurde ganz entspannt und ruhig. Allerdings kam mit der tiefen Ruhe auch eine tiefe Müdigkeit, er wurde müder und müder. Das letzte, was er noch dachte, war: Jetzt wäre "Professor Positiv" aber zufrieden mit mir - dann schlief er ein.
Als er eine Stunde später aufwachte, fühlte er sich erfrischt und wohlgemut. Dabei hatte er von der CD ja fast nichts gehört. - Oder doch? Denn er las auf der Beschreibung, man könne die CD auch zum Einschlafen bzw. während des Schlafes ablaufen lassen. Auch so würde sie vom Unterbewusstsein aufgenommen und angenommen. Diese Information faszinierte Frank. Wenn er die Schlafenszeit ebenfalls zur "audiophonen Suggestion" sprich CD-Hören nutzen konnte, dann wäre deren positiver Einfluss sicher viel stärker und sein Erfolg umso größer. Gedacht, getan. Als Frank um 23 Uhr schlafen ging, steckte er die Trance-CD in den kleinen Uhren-CD-Player neben seinem Bett und druckte auf "Start". Aber was nachmittags so gut funktioniert hatte, das wollte jetzt nicht klappen: Er konnte nicht einschlafen, das Positiv-Geplappere störte ihn einfach. "Okay, dann machen wir es eben anders", sagte er sich. Er stellte die Zeitschaltuhr des Radioweckers auf 1 Uhr nachts. Wenn er schon richtig schlief, würde er bestimmt nicht davon aufwachen, dass die CD leise anlief.
Am nächsten Morgen weckte ihn dudelnde Radiomusik. Offensichtlich hatte er mit der Zeituhr aus Versehen das Radio und nicht die CD eingeschaltet. Aber was hatte er bloß im Schlaf gehört? Er fühlte sich nämlich völlig zerschlagen, wie gerädert. Schnell schlug Frank in der Programmzeitschrift nach. Oh nein, er hatte in der Nacht ausgerechnet ein Horror-Hörspiel erwischt: "Die schreckliche Rache der blutigen Zombie-Monster". Was mochte das in seinem armen, schutzlosen Unterbewusstsein angerichtet haben? Am nächsten Abend überprüfte er dreimal, ob die Schaltuhr richtig eingestellt war. Und wirklich, diesmal erwachte er am Morgen ausgeruht und in bester Laune.
Schon beim Frühstück ging es weiter mit der nächsten CD. Jetzt war die mit der Erfolgsgarantie an der Reihe. Allerdings überzeugte Frank diese Garantie nicht so ganz. Da hieß es: "Wenn Sie nachweisen können, dass Sie diese Wunder-CD über ein Jahr täglich gehört haben, ohne irgendeinen Erfolg zu erzielen, dann erhalten Sie Ihr Geld zurück." Danach war eine Adresse auf den Bahamas angegeben. - Egal, ihm gefiel die CD auch ohne Garantie. Sie kloppte dem Hörer das Positive Denken so richtig ein, wie ein sturer Pauker: "Nun denken Sie gefälligst endlich positiv! Wer nicht denken will, muss fühlen. Wenn Sie nicht positiv denken, werden Sie schon sehen, was Sie davon haben. Wer zuerst positiv denkt, lacht am besten."