Stefan Sternau
Mitglied
20
Die erste Veranstaltung, die Frank im Licht-Zentrum mitmachte, war die Licht-Meditation. Sie fand täglich statt und bildete gewissermaßen die Basiskomponente, die spirituelle Grundversorgung der Light Men. Diese Meditation wurde von der großen Ma selbst geleitet. Alle setzten sich im Kreis auf den mit Teppich belegten Boden, fassten sich an den Armen und schlossen die Augen. Dann sprach Ma Solila: "Das Licht ist allmächtig, allgütig und allpositiv. Es reinigt eure Gedanken von allem Negativen, Schmutzigen und Bösen. Das Licht macht euer Bewusstsein klar und hell, sauber und rein, licht und luftig. Das Licht leuchtet euch heim, es zeigt euch den Weg nach Hause, in die geistige Heimat."
Nach einem allgemeinen andächtigen Schweigen fuhr die Mutter fort: "Jeder von euch kann erleuchtet werden, denn ihr alle tragt den göttlichen Funken in euch." Frank war begeistert, er fühlte sich in einem wahren Lichtrausch. Auch ich bin ein großes Licht, dachte er. Nie mehr werde ich mein Licht unter den Scheffel stellen. Aber da kam sofort der Dämpfer, als ob Solila seine Gedanken gelesen hätte: "Auch wenn jeder von euch erleuchtet werden kann, so braucht er dennoch keine große Leuchte zu sein. Hütet euch vor der Hybris! Groß an uns ist nur der göttliche Lichtstrahl, unser höchsteigenes Ich bleibt dagegen klein und dreckig, es bleibt mit seiner Gier und seiner Triebhaftigkeit der Materie, der schmutzigen Erde verhaftet."
Nach der Meditationssitzung fragte Solila Frank, ob er sie nach Hause fahren könne, ihr eigenes Auto werde von einer dunklen Macht am Anspringen gehindert. Dass die Leiterin des Zentrums ihn, den Licht-Anfänger, danach fragte, war eine große Ehre. Und so sagte er natürlich ja. Er hatte erwartet, dass die "ehrwürdige Mutter" gerne langsam, mit meditativer Ruhe fahren würde. Aber da täuschte er sich.
- Warum schleichst du so?
- Nun, ich dachte, Mütter mögen's langsam. Außerdem ist hier eine Geschwindigkeitsbegrenzung.
- Was heißt schon Geschwindigkeitsbegrenzung? Das sind doch nur Menschen-Gesetze, die haben keinerlei Bedeutung im kosmischen Maßstab. Und es ist gerade unsere Aufgabe, uns von allen menschlichen Begrenzungen möglichst zu befreien.
- O.k., Eure Mütterlichkeit, dann halten Sie sich gut fest. Frank drückte das Gaspedal hart runter. Bei Normalantrieb wären die Räder durchgedreht, aber der Allradantrieb fasste sofort und katapultierte den Wagen nach vorne. Doch schon nach 200 Metern blitzte es vom Straßenrand.
- Verdammt, jetzt haben sie mich geblitzt, schimpfte Frank.
- Mein Sohn, das solltest du nicht so eng sehen. Nimm diesen Blitz als positives Zeichen, als Symbol für die Erleuchtung, der du entgegenrast.
Als sie angekommen waren, fragte Solila: "Kommst du noch auf eine Tasse Kräutertee mit hoch?" Frank spürte ein erotisches Knistern, eine sexuelle Verführungsgefahr, der er aber nicht erliegen wollte. "Vielen Dank, aber Kräutertee kommt mir schon hoch, wenn ich nur daran denke." "Vielleicht gibt es auch etwas Besseres oben für dich", lächelte sie. "Sehr gerne ein anderes Mal", zog sich Frank aus der (entstehenden) Affäre, "aber für heute bin ich schon verabredet."
Und das stimmte sogar, er war nämlich mit Karin verabredet, und die war für ihn bisher noch die wichtigste Frau. Karin erzählte von den Moneys: "Stell dir vor, Smiling Freddy hat sein Lächeln verloren. Er ist total trübsinnig geworden. Wie sich herausgestellt hat, leidet er an einer manischen Depression, er wechselt also zwischen 'himmelhoch-jauchzend' und 'zu Tode betrübt'. Sein Positiv-Sein war also nur eine manische Euphorie, und jetzt hat ihn die Depression wieder total eingeholt. Du kannst dir vorstellen, wie bestürzt wir alle sind." Auch Frank fühlte etwas von dieser Bestürzung. Das Lächeln von Freddy war wie eine Naturkonstante gewesen, die - nach einem Naturgesetz - für alle Ewigkeit galt. Andererseits fühlte er sich an seiner Kritik und Abwendung von den Moneys auch bestätigt. Vielleicht, dachte er, sind das ja alle verkappte Depressive, die nur auf einem manischen Trip sind. Karin erzählte weiter, dass man sie wie eine Witwe behandeln würde und entsprechend über ihn - wenn überhaupt - nur wie über einen Verblichenen reden würde. Aber Frank merkte, dass die Moneys auch für ihn schon totale oder tote Vergangenheit waren. Es interessierte ihn nicht sonderlich, was Karin über sie erzählte. Was ihn erstaunte und ein wenig erschreckte, war, dass ihn Karin ebenso deutlich weniger interessierte. Und anscheinend ging es Karin mit ihm ähnlich. Über die Lichtis, die sie nur "Armleuchter" nannte, wollte sie schon gar nichts hören. Nun gut, das konnte einfach gekränkter Stolz und Zorn sein. Aber es fiel doch auf, dass sie Frank gar nicht mehr fragte, ob es dort eine andere Frau gäbe, in die er sich verliebt hätte. Ebensowenig fragte Frank, ob sich bei den Moneys vielleicht ein "Witwentröster" an Karin herangemacht hätte. Sie schliefen zwar zusammen, aber das war ziemlich lau und flau, nicht gerade ein Höhepunkt. Es schien, als ob sie sich beide beweisen wollten, dass zwischen ihnen noch alles in Ordnung wäre. Aber nichts war in Ordnung. Frank ertappte sich sogar beim Liebesakt einmal dabei, dass er an Solila dachte. Er fühlte, womöglich würde er Karin schon bald nicht mehr treu bleiben können und wollen.
Am nächsten Tag ging Frank bereits wieder zum Light-Center. Die leichte, lichtvolle, leise und liebliche Atmosphäre dort empfand er als viel angenehmer als die hektische, überdrehte, prahlerische und rivalisierende Stimmung bei den Posis. Die Leute saßen entspannt da, tranken indischen Tee, unterhielten sich ein bisschen oder schwiegen auch, meditierten und sinnierten, während sie auf den nächsten Kurs warteten. Dass diese Lichtgenossen weniger geldbesessen waren als die Moneys, das war unübersehbar. Es zeigte sich bereits an dem "Fuhrpark". Vor dem Center parkten kaum Luxuskarossen - von seinem eigenen Porsche abgesehen -, sondern die meisten kamen in Kleinwagen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Rad. Frank war davon überzeugt, dass diese sanften Menschen auch viel sozialer sein müssten als die Moneys. Dass sie auf das Unglück und die Not von anderen nicht mit Spott und Schadenfreude reagieren würden. Aber es drängte ihn, Näheres über diesen Punkt zu erfahren, und deshalb sprach er einen Lichti an, der ein besonders liebevolles Gesicht, ein besonders freundliches Lächeln und einen besonders weißen Anzug besaß.
- Bruder, wie stehen die Lichtis eigentlich zu unglücklichen und armen Menschen?
- Wir senden ihnen unsere Liebe und Hilfe.
- Was heißt senden? Schickt ihr etwa Pakete und Geld?
- Nein, wir meditieren ganz intensiv und senden dann unsere positiven Strahlen aus.
- Aber helft ihr denn nicht real, praktisch?
- Nein, das dürfen wir nicht.
- Warum?
- Einerseits würden wir uns durch solche äußerlichen Tätigkeiten ablenken von unserem Innenweg, von unserer geistigen Entwicklung und der Erforschung unserer Seele. Vor allem dürfen wir aber nicht in das Karma eines anderen Menschen eingreifen. Wenn einer in diesem Leben leidet, dann darum, weil er in früheren Leben schlechte Taten begangen hat. Das ist das Gesetz des Karma. Und er muss eben in diesem Leben seine Schuld abarbeiten bzw. ableiden. Dagegen ist nichts zu machen, ja es wäre ein Unrecht ihm gegenüber, diese Chance, das Karma durch Leiden zu tilgen, zu verringern.
- Nützt denn dieses Aussenden eurer Liebe überhaupt irgendetwas?
- Aber ja natürlich. Unsere positiven Energien helfen den Unglücksmenschen, ihr Karma-Leid besser zu ertragen. Und vor allem helfen die positiven Strahlen zu verhindern, dass sie in diesem Leben wieder Böses tun und damit neues negatives Karma anhäufen. Ein großer Guru hat festgestellt: Wenn nur 1 % der Weltbevölkerung meditieren und positiv strahlen, dann wird es auf der ganzen Welt viel weniger Kriminalität, Aggression, Gewalt, Neid und Besitzgier geben. Wenn du längere Zeit meditiert hast, dann wirst du an dir selbst feststellen, dass alles Grobe und Grobstoffliche zurückgeht oder sich verfeinert, somit das Feinstofflich-Geistige sich immer stärker entfaltet.
Das hörte sich alles sehr schön und überzeugend an. Trotzdem befriedigte Frank diese Antwort nicht völlig, es schien ihm, als stimmte irgendetwas daran nicht. Aber, sagte er sich, wahrscheinlich fehlt mir die tiefere Einsicht. Ich bin ja auf dem Gebiet der spirituellen Entwicklung noch ein Anfänger. Dann fiel ihm der Satz ein: "Wenn jeder an sich denkt, dann ist an jeden gedacht." Und er fügte hinzu: "Wenn jeder positiv an sich denkt, dann ist an jeden positiv gedacht." Oder noch weiter: "Wenn jeder sich selbst liebt, dann wird jeder geliebt." Vielleicht war das die Lösung. Diese Erkenntnis verhalf Frank auch, weiter seine Versicherungen zu verkaufen. Zunächst hatte er Zweifel gehabt, ob sich
das überhaupt mit seinem neuen, geistigen Status vertrage. Aber die Menschen zu versichern, hieß doch, ihnen Sicherheit zu geben. Und alle wollten doch Sicherheit. Allerdings beschloss Frank, seine Kunden weniger zu drängen oder sogar auszutricksen. Er sagte sich: Ich verkaufe ihnen nicht Versicherungen um meines Verdienstes willen, sondern weil ich ihnen etwas Gutes tun will. So ging er viel lockerer als früher an seine Arbeit.
Und das Erstaunliche war: Er verkaufte jetzt sogar noch mehr Versicherungen. Gerade weil die Menschen spürten, dass er ihnen nicht unbedingt etwas andrehen wollte, verloren sie ihr Misstrauen und wurden offen für ihn. Oft begann er ein Verkaufsgespräch damit, dass er von der Lichtphilosophie erzählte und schwärmte, von der Herrlichkeit des geistigen Weges, bis sein Gegenüber allmählich nervös wurde und fragte, ob Frank ihm nicht eigentlich eine Versicherung verkaufen wolle. Frank erwiderte dann: "Nein, das will ich nicht. Nur, wenn Sie es von sich aus wollen, wenn dies ein Wunsch Ihres inneren und höheren Selbst ist, dann bin ich natürlich gerne bereit, Ihnen zu helfen, die für Sie beste Versicherung auszusuchen."
Nur in zwei Fällen stieß er auf undurchdringlichen Granit, hatte nicht den Hauch einer Chance. Der erste Fall war Karin. An ihr wollte er wirklich keinen Pfennig verdienen, es ging ihm einfach darum, ihr einen umfassenden Versicherungsschutz anzubieten; vielleicht aus schlechtem Gewissen, als Ausgleich dafür, dass er sich jetzt viel weniger um sie kümmerte und immer öfter auch über eine mögliche Trennung nachdachte. Hier kam wohl einfach sein männlicher Beschützerinstinkt zum Ausdruck. Karin nahm diesen Vorschlag aber ganz falsch (oder auch richtig) auf. Sie war empört: "Du willst mich wohl abkassieren, um möglichst viel Geld deinem Licht-Zentrum zu geben. Man weiß ja, wie das bei diesen Gurus zugeht. Und du hast, wie ich gehört habe, sogar eine Gura. Du willst ihr wohl schöne Geschenke machen?!" Frank versuchte zu besänftigen, aber ohne großen Erfolg; diese Sache vergrößerte deutlich die Distanz zwischen ihnen beiden.
Ebenfalls auf Granit stieß bzw. biss Frank bei seiner Nachbarin Yvonne Lieblich. Früher hätte er es nie gewagt, sie einfach zu fragen, ob sie nicht eine Versicherung brauche. Aber jetzt war er eben viel selbstbewusster. Außerdem wollte er sonst nichts von ihr. Wenn er sie hin und wieder auf der Treppe oder vor dem Haus sah, fand er sie zwar immer noch attraktiv, aber er hatte es innerlich längst abgehackt, dass er mit ihr näher bekannt oder gar intim werden könnte. Und es hatte auch in den Monaten, in denen sie jetzt über ihm wohnte, noch nicht ein einziges längeres Gespräch zwischen ihnen stattgefunden. Da er bei ihr auch keinen Ansatz für ein "Lichtgespräch" hatte, kam er direkt zur Sache. Er klingelte des Abends einfach an ihrer Tür, und als sie öffnete, sagte er lapidar:
"Ich bin der Mann von der Versicherung und möchte gerne etwas für Ihre Sicherheit tun."
"Vielen Dank, aber ich bin ganz gut versichert; und wirklich sicher ist man ja ohnehin nie, egal wie viele Versicherungen man abschließt." Sie lächelte leicht. "Und sonst können Sie nichts für mich tun?"
"Ich wüsste nicht was", sagte Frank kurz.
Er holte eine Liste aus der Tasche und strich ihren Namen darauf durch.
"Was tun Sie?"
"Ich streiche Ihren Namen von meiner Versicherungsliste."
"Streichen Sie mich auch sonst?"
"Sie stehen sonst auf keiner Liste von mir", sagte Frank geschäftsmäßig und verabschiedete sich.
Als er die Treppe herunterging, überlegte er: Was hat sie gemeint? Ist sie irgendwie an mir interessiert? Aber das kann ich mir kaum vorstellen. Jedenfalls bin ich beschäftigt mit der abnehmenden Beziehung zu Karin und einer sich anbahnenden Liaison mit Solila.
Einmal in der Woche fand im Zentrum eine sogenannte Channel-Sitzung statt. "Channels" waren das, was man früher "Medien" genannt hatte, also Personen, durch die sich Geister äußerten. Sie waren "Kanäle" für jenseitige Wesenheiten. Es gab unter den Mitgliedern des Zentrums zwei gute Channels, aber oft hatte man auch Gastchannels da. Natürlich waren das immer nur weiße "Kanäle", die keine geistigen Bösewichter, sondern gute Geister rüberbrachten. Das konnten berühmte - erst kürzlich verstorbene - Persönlichkeiten sein oder aber Geistwesen, die zu früheren Zeiten auf der Erde inkarniert waren, am liebsten solche aus dem alten Ägypten oder dem sagenhaften Atlantis. Heute würde Bruder Ludwig, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, oder Swami Stupendo - so sein Geistname - den Kanal machen. Der Swami, ein Würdenträger bzw. Leistungsträger des Zentrums, besaß die ideale Asketenfigur. Leider nur war er dermaßen asketisch, dass er ständig kränkelte. Manche sagten, er sei schon so vergeistigt, dass sich sein Geist eben kaum mehr um den Körper kümmere. Es war von ihm bekannt, dass er in absoluter Keuschheit lebte, wie ein Mönch. Dies stand im Widerspruch zu anderen im Zentrum, die ihre Sexualität durchaus lustvoll auslebten und zeigten. Aber wie das mit dem Sex im Zentrum genau aussah, welche Unterschiede bzw. Gegensätze oder auch Streitigkeiten hier existierten, das hatte Frank noch nicht herausgefunden.
Im Vorraum zu dem kleinen Saal, wo das "Channeling" stattfinden sollte, bekam Frank zufällig das Gespräch eines Licht- und Liebespaars mit. Sie diskutierten darüber, natürlich ganz sanft, wem es zu verdanken sei, dass heute die Sonne schiene.
Sie eröffnete mit: "Meine Hasenpfote hat das schöne Wetter herbeigeholt, ich habe sie nämlich tüchtig gerieben."
"Was haben Hasen mit dem Wetter zu tun?" widersprach er, "nein, ich habe meine Sonnenpyramide schon am frühen Morgen ins Fenster gestellt, und das hat die Sonne herbeigerufen."
Sie schüttelte den Kopf: "Tut mir leid, aber das glaube ich nicht. Wenn es nicht meine Hasenpfote war, dann war es bestimmt mein Schönwetteramulett, das ich schon seit drei Tagen und Nächten trage."
Jetzt trommelte er mit den Fingern auf dem Tisch, natürlich sehr liebevoll. "Meine Liebe, das Amulett ist wirklich sehr schön, aber das Wetter beeinflusst es bestimmt nicht. Als du noch geschlafen hast, habe ich heute früh einen Sonnentanz vollführt, und dieses Ritual ist eben sehr wirkungsvoll."
Nicht nur Frank hatte den letzten Teil des Gesprächs mit angehört, sondern auch Swami Ludwig, der gerade mit geistvollen Schritten herankam. "Aber, aber", ermahnte er die beiden. "Ihr wisst doch, wir sollen keinem Aberglauben frönen, sondern für uns zählen nur die Lichtgedanken oder das Gedankenlicht. Hilfsmittel wie Hasenpfote, Pyramide oder Amulett sind nicht schlecht, wenn sie uns helfen, unsere geistige Energie zu verdichten und zu verstärken. Aber wir dürfen sie nicht verabsolutieren, sie sind nur das, wozu wir sie denken." Nun kam auch die große Mutter, mit einem Tross von Söhnen und Töchtern in ihrem Schlepptau. Sie würde selbst die Sitzung leiten und das Geistgespräch mit Bruder Ludwig, nein, natürlich mit dem von ihm gechannelten Geistwesen, führen. Swami Ludwig bzw. Bruder Stupendo setzte sich zurückgelehnt in einen Sessel, der etwas wie ein Zahnarztstuhl aussah. Er schloss die Augen, und fünf Minuten tat sich überhaupt nichts. Dann fing er an tief zu atmen, danach zu stöhnen. Das hätte auch noch beim Zahnarzt passieren können, aber das Folgende wäre wirklich ungewöhnlich für eine Zahnbehandlung gewesen.
Denn plötzlich sprach er mit veränderter Stimme: "Hier spricht der große weise Geist Wuhadu."
Solila antwortete: "Großer Geist, wir grüßen dich ehrerbietig. Dürfen wir erfahren, ob du früher einmal auf der Erde weiltest oder immer in der immateriellen Welt gelebt hast?"
"Ja, verdammt lang' her, da weilte ich einmal auf irdischem Boden. In Atlantis. Man nennt mich auch den Uralten von Atlantis."
Als er "Atlantis" sagte, ging ein zustimmendes und frohes Geraune durch den Raum. Atlantis war - neben dem alten Ägypten - derzeit der absolute Hit beim Channeling. Geister aus Atlantis brachten es voll. Sie umgab der geheimnisvolle Mythos der versunkenen Insel, aber sie kannten eben doch auch die körperliche Welt, sie waren nicht allzu abgehoben. Ja, Atlantis war einfach eine erste Adresse.
Der Geist fuhr fort: "Allerdings lebte ich nur ein einziges Mal in einem Körper, inkarnierte mich nur dieses eine Mal. Denn mir reichte ein Leben, um zur Erleuchtung zu gelangen. Ich bin ein Monoinkarnierer, kein Reinkarnierer. Übrigens kann ich nebenbei noch erwähnen, dass ich der Oberpriester von Atlantis war."
Wieder ein Raunen unter den Anwesenden: Mein Gott, was für ein Geistfang! Da hatten sie aber wirklich einen tollen Hecht aus dem Jenseits ins Diesseits gezogen!
Auch Frank starrte gebannt auf Ludwig. Was ihn nur wunderte: Dessen Gesicht, dass auch sonst nicht allzu klug aussah, hatte einen ausgesprochen dummen Ausdruck angenommen. Frank fand das ungewöhnlich, denn schließlich sollte ja ein kluger, weiser Geist aus ihm sprechen. Aber später erklärte ihm ein anderer Lichti das so: "Ludwig hat alle Intelligenz aus seinem Körper abgezogen, nach innen gewandt, um mit dem hohen Geistwesen zu kommunizieren. Da bleibt natürlich keine Intelligenz für das Gesicht mehr übrig."
Frank verblüffte außerdem, dass der alte Atlantier so fließend Deutsch sprach. Aber ein solcher Geistlehrer war eben wohl fast ein Alleswisser und Alleskönner, der hatte bestimmt nicht solche Probleme mit Fremdsprachen wie ein Normalsterblicher.
"Welche Botschaft hast du für uns?" fragte Solila weiter.
"Alles ist Liebe, alles ist Energie, alles ist Licht, denn alles ist eins. Lebet deshalb in der Liebe, in der Energie und im Licht! Und hütet euch vor dem Bösen und Dunklen!"
Frank kam diese Botschaft nicht übermäßig neu oder originell vor. Aber die großen Wahrheiten waren wohl einfach gestrickt, und sie galten ewig. Da durfte man nicht jede Woche ein neues Highlight erwarten. Die Mutter befragte den Geist aus Ludwig weiter: "Wie schützen wir uns am besten vor dem Negativen?"
Auch hier war der Uralte nicht um eine Antwort verlegen: "Das Wichtigste ist, dass ihr euch gegen Gedankenangriffe von Negativ- Denkern schützt. Ihr müsst durch eigenes unablässiges Positiv-Denken ein Gedankenbollwerk errichten, durch das kein heimtückisch abgeschossener Gedankenpfeil eindringen kann."
Wieder musste sich Frank wundern. Eben hatte doch der atlantische Geist noch von der Liebe geschwärmt, jetzt klangen seine Worte reichlich kriegerisch. Aber wenn einen ein anderer richtig bös' andachte, dann gab es vielleicht keine andere Möglichkeit, als sich wehrhaft zu verteidigen.
Während er noch über dieses Problem nachsann, hörte er plötzlich die Mutter sagen: "Bitte eine letzte Frage: Hast du noch einen besonderen Ratschlag für unsere Gruppe?"
Diesmal ließ sich der Uralte etwas Zeit mit der Antwort, vielleicht war er schon ein wenig müde: "Letztlich siegt immer der Geist über die Materie, das Licht über die Dunkelheit, das Gute über das Böse. Ihr dürft daher nicht an Materiellem kleben. Gebt von eurem Einkommen und Vermögen reichlich ab, am besten an das Licht-Zentrum, Geld kann eine schwere Last sein, das Zentrum befreit euch gerne davon."
Nach diesem überraschenden Schlussplädoyer kam Stupendo langsam wieder zu sich. Ein Ruck ging durch seinen Körper, seine Augen öffneten sich blinzelnd; jetzt hatte er wieder sein normal-dummes Gesicht. Noch wie betäubt von dieser Erfahrung, fuhr Frank nach Hause. Zwar war ihm manches etwas befremdlich vorgekommen, vor allem dass der gute Geist mehr oder weniger unverblümt zu Spenden für das Licht-Zentrum aufforderte. Aber er hatte eben einen Einblick in eine fremde Welt getan, und die durfte man nicht mit den Maßstäben des Diesseits analysieren und beurteilen. Er stand noch unter dem Eindruck dieser Sitzung, als Karin zu Besuch kam. Es war das erste Mal seit einer Woche, dass sie verabredet waren, eine lange Zeit, wenn man bedachte, dass sie sich früher fast täglich getroffen hatten. Frank erzählte Karin von der Channel-Sitzung, aber sie war offensichtlich nicht in der Lage, das Lichtvolle und Großartige daran zu erkennen. Sie sprach nur von Unsinn, Schwachsinn und Blödsinn. Dabei zog sie die Nase kraus. Früher hatte er das immer so niedlich an ihr gefunden, aber jetzt kam es ihm wie eine Grimasse vor.
"Ich verstehe nicht, worauf dieses ganze Licht-Getue hinauslaufen soll?" fragte sie nasekrausend.
"Das ist doch ganz klar und eindeutig", erwiderte Frank und zog seinerseits die Stirn kraus: "Es geht darum, in sich zu gehen oder aus sich heraus zu gehen oder zu sich zu kommen oder bei sich zu bleiben."
Aber trotz dieser präzisen Erklärung blieb Karin unbefriedigt. Und überhaupt verlief der ganze Abend unbefriedigend; es kam zwar nicht zu einem wirklichen Bruch zwischen ihnen - da war immer noch Zuneigung und Anziehung -, aber es war unübersehbar, dass ihre Beziehung in einer tiefen Krisenkiste steckte. Als Karin, ohne Abschiedskuss, gegangen war, zog Frank eine nüchterne Bilanz des Treffens: Sie versteht mich kaum noch. Das ist sehr schade, tut weh. Aber ich muss der Sache ins Auge sehen. Bisher bin ich ihr immer treu geblieben, obwohl ich nicht ganz sicher bin, dass sie es ebenso gehalten hat. Sie hat da so Andeutungen gemacht, über Pinky ... und über Freddy ... und auch über Rob. Wenn Solila mich noch einmal auffordert, mit zu ihr nach Hause zu kommen, werde ich wohl nicht wieder nein sagen.
Und diese Gelegenheit kam früher, als er es sich in seinen positivsten Gedanken vorgestellt hätte. Denn schon am nächsten Abend fragte ihn Solila nach der Meditation, ob er sie wieder nach Hause fahren würde. Aber diesmal ließ sich Frank von Solila nicht zum Rasen verführen, denn das Protokoll vom letzten Mal - über 100 Euro - hatte ihm gereicht.
Sehr gerne ließ er sich aber von ihr zu anderem verführen. Denn kaum waren sie in Solilas Wohnung angelangt, legte diese eine CD mit sowohl rhythmischer wie lasziver Raga-Musik auf, umfasste ihn mit beiden Armen und rieb im Tanzschritt ihr Becken an dem seinigen. Frank wurde himmlisch oder besser höllisch heiß, ja er selbst wurde heiß, zumal er auch sexuell völlig ausgehungert war, denn mit Karin war diesbezüglich nicht mehr viel gelaufen in letzter Zeit. Solila begann, Frank mit zärtlichen, aber routinierten, oft geübten Handgriffen auszuziehen. Dann zog sie sich selbst aus, was noch schneller und routinierter vonstatten ging. Ihre Figur war für eine vielfache Mutter wirklich astrein, da hing oder schlaffte rein gar nichts. Nun begann sie einen wilden Tanz. Würde sich das bei einer spirituellen Mama nicht verbieten, hätte Frank von einem "Ficktanz" gesprochen, denn ihre stoßenden Beckenbewegungen waren nicht zweideutig, sondern höchst eindeutig. Wahrscheinlich ist das ein mütterlicher Fruchtbarkeitstanz, sagte er sich. Wie auch immer: Dieses Tanzen schien ihm jedenfalls eine eindeutige Aufforderung, schnell zur Sache zu kommen. Außerdem war er vom Zusehen einfach so geil, dass er seine gute Kinderstube vergaß und sich direkt auf sie legen und ihn reinstecken wollte.
- Aber, aber Frank, so nicht! Ich werde dir heute eine Einführung ins Tantra geben. Setz dich mir gegenüber im Schneidersitz, ganz nah heran!
Aha, dachte Frank, eine neue Stellung, zwar unbequem, aber originell oder „orgeilnell“ und hoffentlich auch „orgasnell“.
- Darf ich jetzt eintreten? Ich meine, darf ich ihn jetzt reindrehen, vielmehr einführen?
- Ja, aber ganz langsam.
- Und was kommt jetzt?
- Gar nichts.
- Wie, soll ich mich nicht bewegen?
- Nein.
- Aber es heißt doch: Sich regen bringt Segen.
- Nicht beim Tantra. Da warten wir.
- Aber Müßiggang ist doch aller Laster Anfang, Stillstand ist schon Rückschritt.
- Nicht beim Tantra.
- Aber man spricht doch nicht umsonst von Geschlechtsverkehr.
- Noch nie was von Verkehrsstau gehört? Überhaupt, du befindest dich hier in einer verkehrsberuhigten Zone.
- Ich bin ja wirklich geil drauf, aber so komme ich nun doch nicht zum Orgasmus.
- Das ist auch gar nicht beabsichtigt. Du sollst deinen Samen bei dir und für dich behalten.
- Das ist sehr freundlich und großzügig. Aber ich gebe gerne ab, ich spende gerne. Denn es heißt doch auch: Geben ist seliger als Zurückhalten.
- Nicht beim Tantra. Da warten wir ...
- Ja ja, ja, ich weiß, abwarten und Kräutertee trinken. Worauf warten wir denn bitte? Auf Godot?
- Nein. Wir warten darauf, dass sich die Göttin in mir und der Gott in dir verbinden und die kosmische Energie zwischen ihnen zu fließen beginnt.
- Nun ja. Geduld ist nicht meine Stärke. Wenn ich den Arm ausstrecke, komme ich an die Fernbedienung. Können wir bis zum Beginn des Energieprogramms vielleicht etwas fernsehen?
- Nein Frank, du musst ganz bewusst und konzentriert bleiben. Und du musst auch sehen, dass du eine Erektion behältst.
- Ansprüche hast du! Meiner ist so etwas nicht gewohnt. Der ist ebenso ungeduldig wie ich. Genau, wie ich nicht gerne nutzlos rumstehe, tut der das auch nicht. Außerdem ist er sein eigener Herr oder wenigstens Mann. Ich kann ihm nicht vorschreiben, wie er sich zu verhalten hat.
- So wie der Geist die Materie beherrscht, so sollst du mit deinen Gedanken deinen Penis beherrschen. Nutze deinen Samen für dich selbst, anstatt ihn zu verschleudern. Wenn du stets positiv denkst und deine Samenenergie integrierst, wirst du absolute Gesundheit erlangen. Ein echter Meister kann sogar körperlich unsterblich werden.
Frank war nicht sehr überzeugt. Er wusste keine Verwendung für seinen Samen außer eben der einen. Und im Moment hätte er alle Gesundheit oder sogar die physische Unsterblichkeit für eine lustvolle Entladung hergegeben. Trotzdem, wenn er nicht ungerecht war, musste er eingestehen, dass sich nach einiger Zeit ein ganz angenehmes, leichtes, fließendes Gefühl einstellte. Das änderte aber nichts daran, dass ihm normaler Sex mit Orgasmus noch immer viel lieber war als Tantra-Sex ohne Orgasmus.
Nachdem er sich herausgewunden und angezogen hatte, verabschiedete er sich zwar höflich mit einem "Vielen Dank für die Schneider-Sitzung", aber in Wahrheit war er doch enttäuscht, gekränkt und verärgert. Und er fühlte wenig Interesse, die Tantra-Stündchen bei Solila fortzusetzen. Denn bei Solila war es nur „so lala“ gewesen.
Am nächsten Abend hatte Frank keine Lust, ins Lichtzentrum zu gehen. Stattdessen bummelte er durch die Stadt. Dabei kam er an dem berüchtigsten Kino der Stadt vorbei. Da liefen nicht etwa Pornofilme oder Horrorfilme, sondern ausschließlich Horrorpornos oder Pornohorrors, ein Kino, wo regelmäßige Beschlagnahmungen stattfanden. Als Frank gerade am Eingang vorbeiging, schlichen sich mehrere Männer heraus, darunter eine Person, die ängstlich um sich guckte. Zwar hatte sie die Kapuze vom Anorak übergezogen, aber Frank erkannte sie doch. Es war niemand anders als der asketische, keusche, friedensvolle Bruder Ludwig.
Fast hätte er ihn spontan mit dem Lieblingsgruß der Lichtis "Liebe sei mit dir!" angesprochen, aber Gott sei Dank drehte er in letzter Sekunde ab. Denn wahrscheinlich wäre dem Bruder ein Treffen an diesem Ort gar nicht recht gewesen. Frank grübelte: Wie soll ich mir das erklären? Dass dieser Mann, der sich angeblich für Sex nicht interessiert und Gewalt angeblich verabscheut, ein solches Kino besucht! Ist er ein Heuchler? Oder will er das Böse nur genau studieren, um es dann umso besser bekämpfen zu können? Sind die Lichtis vielleicht generell scheinheilig und heuchlerisch? Ich werde ihnen in Zukunft jedenfalls genauer auf die Finger bzw. auf die Zähne gucken, ihre Handlungen und Worte kritischer betrachten.
Die Gelegenheit für einen Heuchel-Test ergab sich nur allzu bald. Am darauffolgenden Tag sollte eine neue Geist-Gruppe stattfinden, wieder von Mutter Solila geleitet. Frank war ein wenig müde, und so setzte er sich in dem Raum auf den einzigen bequemen Stuhl, ohne weiter darüber nachzudenken. Die anderen Gruppenteilnehmer guckten ihn zwar merkwürdig an und tuschelten, aber keiner sagte etwas und warnte ihn. Die Mutter betrat mit einem sonnigen Lächeln den Raum, doch sofort wuchsen Zornesfalten auf ihrer Stirn. Mit schriller Stimme intonierte sie:
"Wie kommst du dazu, dich auf meinen Sessel zu setzen?!" "Ach nur so", meinte Frank. "Ich habe mir nichts Negatives dabei gedacht. Ist denn das so wichtig, wer auf diesem Sessel sitzt?" "Allerdings ist das wichtig. Es ist mein Sessel, auf dem niemand außer mir sitzen darf." "Mein Sessel, dein Sessel? Ich dachte, solche Besitzverhältnisse spielen bei den Lichtis keine größere Rolle. Du hast doch gelehrt, dass wir alle eins sind. Dann können wir doch auch alle das Gleiche verwenden und für uns nutzen." Die Mutter schien etwas ratlos, wie sie dieser Argumentation begegnen sollte. Aber da sprang ihr Bruder Ludwig alias Swami Stupendo geistig zur Seite: "Das hat nichts mit Besitzdenken zu tun. Aber aus Ehrfurcht für unsere Leiterin darfst du dich nicht einfach auf den Sessel flegeln, den sie gewohnt ist zu besetzen."
Frank war über das "flegeln" verärgert und schoss deshalb scharf zurück: "Von einem, der sich heimlich Pornos und Horrorfilme ansieht, lass' ich mich doch nicht Flegel nennen!" Nun geriet der sonst doch so friedfertige Bruder plötzlich außer sich, sein gewöhnlich bleiches Gesicht wurde hochrot und in rasendem Zorn brüllte er: "Diese bösen Gedanken muss dir die Macht der Finsternis eingegeben haben. Und du denkst nicht nur negativ, sondern du bist auch negativ. Ja, du bist ein Nichts, eine Null, Zero, ein rein gar Nichts!"
Keiner erhob die Stimme zu seiner Verteidigung. Und Frank hatte keine Lust mehr, sich selbst weiter zu verteidigen. Er stand ruhig auf, verließ den Raum und verließ das Center. Und es war ihm klar, dass dies ein endgültiger Abschied vom Lichtzentrum war. Er hatte das nicht gewollt, aber er konnte es auch nicht verhindern, sonst hätte er sich selbst aufgeben müssen. Trotzdem, diese Trennung war sehr schnell und überraschend erfolgt. Allerdings hatte er sich innerlich bereits etwas von den Lichtleuten abgewandt gehabt, weil ihm doch verschiedenes missfiel: von dem orgasmusfreien tantrischen Verkehrsstau über den Geld fordernden Meister aus dem Jenseits bis zum klammheimlichen Horrortrip des frömmelnden Bruders Ludwig. Aber es blieb ein Schock. Und auf der Heimfahrt fragte er sich: Was ist bloß mit mir los? Warum finde ich keine Gruppe, bei der ich mich auf Dauer wohl fühle, bei der ich dauerhaft bleiben kann? Warum finde ich keine geistige Heimat?
Und plötzlich kam ihm die rettende Idee: Ich muss selbst eine Gruppe begründen, die ich nach meinen eigenen Wünschen strukturiere. In dieser Gruppe werde ich auf Dauer mich zu Hause fühlen. Ja, ich will sogar eine neue Richtung des Positiven Denkens initiieren, wo ich alle meine bisherigen Erfahrungen, Überlegungen und Kenntnisse einbringe. Und davon habe ich weiß Gott genug gesammelt - ich kann mich mit Fug und Recht als einen Top-Experten des Positiv-Denkens ausgeben.