Stefan Sternau
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Frank war wirklich on the top. Und eine Zeit lang genoss er dieses "High" in vollen Zügen, lebte von Glück zu Glück.
Aber irgendwann begann etwas an ihm zu nagen. Er konnte es zunächst gar nicht genau beschreiben, da war nur so ein vages Unbehagen, das Gefühl: Irgendetwas stimmt nicht. Frank machte ein paar positive Sonderübungen, und das Unwohlsein verschwand wieder. Aber nach einiger Zeit meldete es sich verstärkt zurück, und diesmal konnte er es nicht mehr mit dem Positiven Denken vertreiben. Das Unbehagen konkretisierte sich. Frank merkte, dass er es leid wurde, immer nett und freundlich zu sein. Er wollte den anderen gar nicht immer helfen, manchmal fühlte er die Versuchung, einen Hilfesuchenden sitzen zu lassen, ihm eins auszuwischen oder ihn richtig zu kränken. Auch das Reden bzw. das Gerede von Gott, von Geist und spiritueller Entwicklung fingen an, ihn zu langweilen, sogar anzuöden.
Er analysierte dieses Phänomen und kam zu dem Ergebnis, dass er eine Aversion gegen den weiblichen Yin-Pol entwickelt hatte, also gegen die Werte, die er von den esoterischen Licht-Anbetern, den "Lichtis" übernommen hatte. Zunächst schien er eine Lösung zu finden, nämlich den männlichen Yang-Pol in sich wieder zu verstärken: Vielleicht habe ich einfach die Eigenschaften, die ich bei den Moneys gelernt habe, zu sehr vernachlässigt, also nicht im positivistischen Gleichgewicht gelebt. Vielleicht muss ich mich wieder mehr an Geld und Macht orientieren.
Aber sehr schnell zeigte sich, dass so keine Lösung seines Problems zu erreichen war. Denn in ähnlicher Weise, wie er einen Widerstand gegen Freundlichkeit und Frömmigkeit, Geist und Güte entwickelte, erfaßte ihn auch eine Abneigung gegenüber Geldverdienen, Machtgelüsten und Ego-Spielen. Es ließ sich nicht verleugnen, er war auf dem besten Wege,eine Art Allergie gegen das Positive überhaupt und insgesamt auszubilden, sowohl gegen das Yin-Positive wie gegen das Yang-Positive. Frank wehrte sich mit aller Macht gegen diese Entwicklung, denn das Positive war sein Leben, war das, was ihn bisher erfüllt und ausgefüllt hatte, ihm Sinn und Befriedigung gegeben hatte. Aber er merkte, dass es ihm nicht wirklich gelang, diese aufkommende Lust am Negativen bzw. Unlust am Positiven abzuwehren. Er konzentrierte sich deshalb darauf, sich wenigstens äußerlich so wenig wie möglich von dieser Missstimmung anmerken zu lassen. Und das glückte ihm auch recht gut, er war so geübt in der Positivität, dass es ihm gelang, mit einer Positiv-Maske äußerlich den positiven Schein zu wahren - nicht zuletzt dank dem Tiger-Lächel-Training. Innerlich wühlte es jedoch in ihm, er verlor mehr und mehr seine Orientierung und suchte deshalb nach einer neuen Richtung, die seinem Bedürfnis nach Negativität Rechnung tragen würde.
Dabei stieß er auf den Satanismus. Im Fernsehen sah er eine Sendung über Satanisten und ihre Schwarzen Messen. Obwohl ihn dieses Treiben einerseits abstieß, fühlte er doch andererseits eine Faszination, ein rätselhaftes Hingezogensein. Diese Menschen hatten sich ganz dem Negativen, dem Bösen verschrieben. Sie standen also im extremen Gegensatz zu all dem, was er bisher gelebt und woran er geglaubt hatte. Es war einfach zu verrückt, dass er sich für eine solche Gruppe interessierte. Aber er tat es in der verzweifelten Bemühung, gerade indem er sich innerlich und klammheimlich dem Negativen widmete, doch in seinem äußeren Leben das Positive weiter vertreten zu können. Vielleicht reichte es ja, dem Teuflischen und Dunklen ein wenig Tribut zu zollen, um dann unbelästigt sein positives Leben weiter fortzusetzen. So überlegte er, sich einen Lamborghini Diabolo zu kaufen, am besten in pechschwarz; vielleicht würde dieses teuflische Gefährt seinen Hang zum Negativen hinreichend befriedigen. Oder sollte er wenigstens seinen himmelblauen Porsche umspritzen lassen?
Als Frank aber mehr über die Teufelsanbeter oder Satanisten herausbekommen hatte, nachdem er sich intensiver mit ihnen auseinandergesetzt hatte, wurde ihm bewusst, dass auch hier für ihn kein Ausweg zu finden war. Warum? Auch die Satanisten waren ihm noch nicht negativ genug. Auch die Satanisten waren ehrgeizig, auch sie suchten den Erfolg. Sie benutzten dafür nur dunkle negative Mächte anstatt positiver Kräfte. Aber auch sie wollten etwas erreichen, auch sie kämpften und wollten siegen. Bei ihnen war einfach nur das Positive mit dem Negativen ausgetauscht.
Frank fühlte jedoch mehr und mehr, dass es der Erfolg an sich war, der ihn anödete. Er spürte eine Sehnsucht danach, Misserfolg zu haben, zu verlieren, zu unterliegen, seine Ziele zu verfehlen. Er konnte nicht genau sagen, ob das eine Art Masochismus war, dass er seine Aggressionen jetzt gegen sich selbst richtete, oder ob es wirklich eine Süße der Niederlage, eine Köstlichkeit des Verlustes gab, die ihn in ihren Bann geschlagen hatten. Oder es war einfach nur die Erleichterung, nicht mehr um Erfolge kämpfen zu müssen, sich nicht mehr anstrengen zu müssen, um oben zu bleiben, die Erleichterung, dem Positivkampf entronnen zu sein? Es war eine Lust an der Zerstörung, die ihn ergriffen hatte. Zerstörung von anderen, aber auch Zerstörung von sich selbst, Lust am eigenen Untergang. Zwar gab es nach wie vor ein Bestreben in ihm, sein äußeres Leben positiv zu gestalten und sich vor den anderen Menschen positiv zu geben. Aber sein Negativantrieb war inzwischen doch so stark geworden, dass die positive Fassade zu bröckeln begann.
Es begann damit, dass er gehässige Bemerkungen über die Menschen in seiner Umgebung äußerte, dass er sich über Ratsuchende lustig machte und mit Schadenfreude auf deren Probleme reagierte. Am Anfang wurde das kaum wahrgenommen, denn sein Positiv-Nimbus war einfach so groß, dass die Leute es nicht glauben wollten. Lieber gingen sie davon aus, er hätte nur einen Scherz gemacht oder sie hätten ihn missverstanden. Aber nach einiger Zeit fing man doch an zu tuscheln, was mit ihm los wäre. Die Teilnahme an seinen Vorträgen und Seminaren ging zurück, der Umsatz seiner Positiv-CDs sank, der helle Stern seines Systems der Positiv-Polarität verblasste.
Obwohl Frank das irgendwie bedauerte, war doch die Befriedigung über diese Verluste, der Triumph des Scheiterns viel größer. Er verstand sich selbst nicht mehr. Hatte irgendeine finstere Macht von ihm Besitz ergriffen? Wie auch immer, seine Abwärtsentwicklung schritt vorwärts. Anstatt seiner üblichen positiven Morgenübung sagte er jetzt: "Es geht mir von Tag zu Tag in jeder Beziehung immer schlechter und schlechter." Genüsslich ließ er teures Geschirr herunterfallen, er liebte einfach dieses Geräusch, wenn etwas zerbrach. Interviewtermine sagte er in letzter Sekunde ab, und zu seinen Vorträgen erschien er jetzt oft unpünktlich. Die süßliche Positivmusik konnte er nicht mehr hören. Stattdessen liebte er zynische Titel wie den alten Rolling-Stones-Hit "I can't get no satisfaction". Aber noch war Frank nicht am Boden angelangt. Seine Zerstörungswut und -lust, die ihm immerhin noch einen Antrieb gegeben hatten, verschwanden wieder. Stattdessen erfaßte ihn eine große Leere, ein Gefühl der absoluten Sinnlosigkeit.
In dieser Situation stellte ihn Professor Feelgood zur Rede. Der Professor, der inzwischen vom Alkoholismus zum Positivismus übergetreten war und den Frank zu seinem Stellvertreter erkoren hatte, sagte zu ihm: “Ich merke, dass Sie einen Negativ-Rückfall, einen Negativ-Schub erlitten haben. Seien Sie vorsichtig! Sie sind dabei, alles zu zerstören, was Sie aufgebaut haben. Kann ich Ihnen helfen? Vielleicht sollten Sie es mal mit Alkohol probieren ... " Frank schüttelte nur stumm den Kopf. Aber mit einem letzten positiven Impuls, sein Positivwerk zu retten, gab er dem Professor Feelgood Vollmacht, ihn in allen seinen Funktionen zu vertreten. "Sagen Sie den Menschen, ich habe mich in Klausur begeben, um in einer tiefen Besinnungspause daran zu arbeiten, das System des Positivismus noch weiter zu verbessern."
Ab dann zog sich Frank völlig zurück. Bei allen beruflichen Anfragen verwies er auf Professor Feelgood, private Kontakte blockte er völlig ab. Nur einmal kam Karin zu Besuch, und sie war offensichtlich entsetzt, in welcher Verfassung sie ihn vorfand: ungekämmte Haare, die teure Kleidung ganz zerknittert, gleichgültig die Miene, die Augen stumpf - trostlos in seiner völlig unordentlichen Wohnung sitzend. Nein, das war bestimmt nicht der Mann, den sie zurückhaben wollte, und so verdrückte sie sich wieder schnell.
Frank fühlte eine dumpfe Leere, ein endloses Schweigen in sich. Er hatte den Kontakt zum Leben verloren. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Er lag einfach auf dem Bett. Manchmal ging er spazieren. Das graue Herbstwetter passte nur zu gut zu seiner Stimmung. Am liebsten ging er bei Dunkelheit, besonders nachts aus dem Haus, damit ihn nur kein Bekannter sah oder ansprach. Eines Abends saß er am offenen Fenster und schaute in die diesige Luft. Er fühlte eine unendlich tiefe Müdigkeit und Traurigkeit: Soll ich nicht einfach aus dem Fenster hinausspringen? Dann hätte ich alles hinter mir, endlich Schluss mit der Quälerei. Ich brauchte mich nur ganz stark vorne überzubeugen ...
ln diesem Moment klingelte es an seiner Wohnungstür. Frank schreckte hoch. Sollte er aufmachen? Wer störte ihn denn da? Aber etwas in ihm nahm die Chance wahr, aus der bedrohlichen Situation am Fenster zu entkommen. Erst einmal. Er schlurfte zur Tür und zog sie langsam auf. Es war Yvonne Lieblich, seine Nachbarin. Er hatte sie länger nicht mehr gesehen, oder er hatte nur nicht darauf geachtet. Denn erst war er durch seine Verliebtheit und dann durch seine Positivismus-Euphorie völlig absorbiert gewesen, in der letzten Zeit wiederum hatte ihn seine Depression ganz in Beschlag genommen.
"Herr Fröhlich, ich muss in meiner Wohnung die Waschmaschine verrücken, könnten Sie mir kurz helfen?" Frank nickte nur. Flüchtig dachte er daran, wie sehr er sich früher über eine solche Gelegenheit gefreut hätte, wie sehr er gehofft hatte, Yvonne kennenzulernen. Jetzt war es ihm völlig gleichgültig. Er hätte auch ablehnen können, egal. So bemühte er sich auch nicht im Geringsten um ein Gespräch. Stumm half er Yvonne beim Verrücken der Waschmaschine und wollte dann gleich wieder gehen.
- Wollen Sie nicht noch auf ein Glas bleiben?
- Tut mir leid, aber ich bin sehr müde.
- Herr Fröhlich, Sie wirken, als ob Sie in einer schweren Krise wären. Sie haben sich sehr verändert.
- Was, haben Sie mich beobachtet?
- Ja, seitdem ich hier eingezogen bin.
- Ach, und ich dachte, Sie hätten mich praktisch kaum wahrgenommen. Na ja, ist auch egal.
- Ihnen ist wohl derzeit alles ziemlich egal.
- Richtig, egal, alles ist egal. (Frank stand auf, um zu gehen.)
Haben Sie denn kein Interesse, warum ich mich mit Ihnen beschäftigt habe?
- Nein, nicht mehr. Früher ja, da hätte ich mich darum gerissen. Aber das ist lange her, sehr lange, eine Ewigkeit her. Heute ist es zu spät, viel zu spät.
- Ich fand Sie von Anfang an sympathisch. Aber Sie wirkten andererseits immer so künstlich, unecht, und das störte mich. Sie wollten immer jemand anderes sein als Sie sind. Jetzt sind Sie viel mehr Sie selbst als je zuvor.
Frank dachte stirnrunzelnd über diese überraschende Aussage nach. Jetzt, wo er ganz am Boden war, sollte er mehr er selbst sein als früher?
- Vielleicht haben Sie Recht. Ich mache mir jetzt keine Illusionen mehr über mich, ich bin eine Null, ein Niemand, und das ist vielleicht wirklich mein wahres Selbst. Sei's drum.
- Richtig, Sie sind jetzt „on the ground“, Sie haben Ihren absoluten Tiefpunkt erreicht. Das ist die Chance, noch einmal neu aufzubauen, auf einer neuen Basis wieder von vorne anzufangen.
- Danke, in diese Falle gehe ich nicht noch einmal. Ich werde nicht noch einmal versuchen, etwas Positives aus mir und meinem Leben zu machen. Ich bin endgültig bedient.
(Und jetzt ging er zur Tür, er wollte sich nicht länger aufhalten lassen.)
- Haben Sie morgen Abend Zeit?
- Wozu?
- Ich möchte gerne mit Ihnen weitersprechen.
- Was soll das denn bringen?
- Einfach so. Ich möchte Sie gerne näher kennenlernen.
"Von mir aus", brummte Frank im Hinausgehen. Aber er sagte das nur, um jetzt gehen zu können, ohne Absicht, diese Verabredung einzuhalten. Er beschloss, am nächsten Abend einfach auf ein Klingeln nicht zu reagieren. Doch er lief Yvonne über den Weg, als er gerade vor der Tür stand und auf seinen Porsche schaute. Da stand dieser Traumwagen, dreckig, ungepflegt, voller Vogelmist. So gleichgültig Frank auch war, sein geliebtes Auto in so einem erbärmlichen Zustand zu sehen, das traf ihn doch noch, viel mehr als sein eigener erbärmlicher Zustand. Aber er hatte einfach keine Initiative, zur Waschanlage zu fahren. Überhaupt, als er das letzte Mal gefahren war, raste er wie ein Verrückter oder wie ein Formel-I-Fahrer, wirklich lebensgefährlich. Mit Todesverachtung oder vielmehr Todessehnsucht war er um die Kurven geschlittert. Diesem Risiko wollte er sich, aber vor allem den Porsche nicht noch einmal ausliefern. Yvonne sprach ihn an:
- Kommen Sie heute Abend so gegen halb acht zu mir?
- Was interessiert Sie denn an mir? Sind Sie vielleicht eine Psychologin, die einen neuen Klienten sucht?
- Ja, ich bin wirklich Psychologin.
- Ach so, und ich bin ein interessanter Fall für Sie. Jetzt verstehe ich Ihr Interesse.
- Nein, ich habe vielmehr ein persönliches Interesse an Ihnen. Und deshalb möchte ich auch gerne, dass wir "Du" zueinander sagen. Ich nenne dich Frank und du nennst mich Yvonne. Einverstanden?
- Was soll's.
Frank ging mit Yvonne hoch in ihre Wohnung. Diesmal schaute er sich ein bisschen um, wie sie eingerichtet war. Es gab keinen einheitlichen Stil, teils hell und freundlich, mit Naturmöbeln aus Kiefernholz; aber es gab auch dunkle, schwere Möbel, mit kunstvollen Schnitzereien. Sie setzten sich auf die Wohncouch und Yvonne goß beiden ein Glas Wein ein. "Froh sein", sagte sie lächelnd. Aber Frank war zu deprimiert, um auf diesen scherzhaften Trinkspruch, auf diese Namensanspielung zu reagieren. "Willst du mir nicht etwas über dich und dein Leben erzählen?" fragte Yvonne. "Einiges weiß ich natürlich schon, du bist ja fast ein Prominenter; ich habe einen Zeitungsartikel über dich gelesen und ein Interview mit dir im Radio gehört."
Ohne es eigentlich zu wollen, begann Frank zu erzählen; erst stockend, mit langen Pausen, dann immer fließender. Er erzählte von dem Zeitpunkt an, wo er das Positive Denken begonnen hatte. Das waren jetzt genau neun Monate her, nur neun Monate, aber doch fast ein ganzes Leben - so viel hatte er in dieser Zeit erlebt. Er erzählte von den vielen Misserfolgen am Anfang, und wie sich dann allmählich eine Erfolgstendenz durchgesetzt hatte, bis er schließlich den höchsten Gipfel erklommen hatte. Und wie erI dann - für ihn immer noch rätselhaft und unerklärlich - abrupt in ein tiefes Loch gestürzt war.
Frank schilderte seine Erfahrungen, auch die peinlichen sehr offen. Zwar schämte er sich manchmal, aber er war einfach zu müde, um ständig zu überlegen, was er mitteilen und was er verschweigen sollte. Außerdem war Yvonne eine sehr gute Zuhörerin, die Vertrauen einflößte. Sie hörte ruhig und aufmerksam zu, bestätigte ihn durch ein Kopfnicken, fragte auch schon einmal nach, aber ließ ihn (sich) aussprechen, unterbrach ihn nicht ständig. Als Frank mit seiner Geschichte am Ende war, fragte ihn Yvonne:
- Was fühlst du jetzt?
- Nichts. Nur Leere.
- Aber darunter?
- Was soll schon darunter sein? Bestimmt auch nur Leere.
- Da ist noch viel mehr in dir. Ich fühle das.
- Na großartig. Du fühlst meine Gefühle, die ich selbst nicht fühle.
- Ja, ich spüre, dass da sehr viel Zorn in dir ist und noch tiefer darunter eine große Verletztheit. Aber du hast das zugeschüttet.
- Warum sollte ich denn zornig sein?
- Weil dir das Leben nicht das gegeben hat, wonach du suchtest. Du hast dich bis zum geht-nicht-mehr angestrengt, um positiv denken zu lernen. Und du hast das auch erreicht, du bist ein perfekter Positivdenker geworden. Doch dies hat dich nicht glücklich gemacht, nur für eine ganz kurze Zeit konntest du die Glücksillusion aufrecht erhalten. Schau einmal nach innen, dann wirst du den Zorn finden. Und erst dann kannst du dich von ihm befreien.
Frank war wenig überzeugt. Waren wirklich so viel Ärger und Wut in ihm? Und wenn schon, was sollte es nutzen, sie zu äußern? Aber versuchsweise schloss er die Augen und lauschte nach innen. Und plötzlich fühlte er: Da loderte viel Zorn, sogar Verbitterung in ihm. Zorn auf die Positiv-Denker und überhaupt auf das Positive Denken selbst. Und dann brach es aus ihm hervor: "Diese Weiß-Wasch-Idioten! Die wollen ihre Seele freiputzen, damit nur kein Stäubchen auf ihr zurückbleibt. Diese Waschmittel-Denker, bei denen nur "aprilfrische" Gedanken erlaubt sind. Wenn ich nur an den Bruder Ludwig denke, diesen Gedanken-Saubermann, diesen geistigen Mr. Proper. Gerade die Licht-Denker, nein Licht-Wichtel: Ständig haben sie Angst, mit dreckigen Gedanken angesteckt zu werden. Deswegen putzen sie ewig in ihrem Kopf herum, bis der Geist blütenrein ist, weißer geht's nicht mehr. Aber das ist doch alles nur eine verdammte Heuchelei! Außen hui und innen pfui. Im tiefsten Innern sind sie nämlich voll hässlicher Gedanken. Ihre Gedanken stinken bzw. es stinkt, was durch die Positivgedanken verdrängt wird und so im Inneren gärt und fault. Nicht 'positive thinking', sondern 'positive stinking'. Und kommt der Gestank der geistigen Blähungen durch, so schreien sie entsetzt: 'Hilfe, mein Gedanken-Deo hat versagt!'"
Frank holte Luft. Er sah die freundlich-scheinheiligen Gesichter der Lichtis vor sich und wetterte weiter: "Diese Masken-Visagen, diese ekelhafte falsche Freundlichkeit, klebrig wie Leim. Die tun so, als ob sie die friedfertigsten Wesen auf der Welt wären, aber in Wahrheit sind sie neidisch, eifersüchtig, missgünstig und schießen verdeckte Giftpfeile auf einander und erst recht auf die anderen. Heuchlerisch ist auch, dass sie so tun, als sei ihnen Besitz und Geld unwichtig. Eigentlich sind sie nämlich noch viel geldgieriger, ja geldgeiler als sogar die Moneys. - Er dachte an den Spruch "Alles ist eins", den er so oft von der Ma Solila gehört hatte. - In Wirklichkeit meint sie doch: "Alles ist meins." Und wehe, einer setzt sich in ihren höchst eigenen Sessel, das ist dann eine kosmische Katastrophe."
Frank hielt überrascht inne: er hatte wirklich nicht geahnt, dass so viel Zorn in ihm brodelte. Und es war lange noch nicht alles, was er herausgebracht hatte. Schon ging es weiter, ob er wollte oder nicht. Denn jetzt musste er an die Moneys denken: "Wie lächerlich sie doch sind in ihrer Money-Besessenheit! Ihr ganzes Leben kreist nur um das Geld, so wie Motten um das Licht kreisen. Sie leben in einer Fassadenwelt. Nur das Image zählt, das Outfit, das Aussehen. Wie beim hoch gezüchteten Treibhaus-Gemüse. Außen glatt und attraktiv, innen saft- und kraftlos. Künstlich gereift, ohne Geschmack. Schein statt Sein. Die Verpackung ist wichtig, der optische Aufmacher: Die Verpackung ist die Botschaft. Und dieses Angeben und Protzen. Wie die Pfaus stolzieren sie herum, das reine Imponiergehabe, Großtun bis zum Größenwahnsinn. Und so cool sie auch tun, sie haben doch ständig Angst, Angst aus ihrem Luxusleben herauszufallen. So wie die Lichtis Angst vor der Infizierung mit Bösem haben, so fürchten die Moneys die Nähe oder gar Berührung mit Armut oder überhaupt mit Verlust und Versagen. Dass ihr superteures Boss-Sakko den abgewetzten Ärmel vom Anzug eines Stadtstreichers streifen könnte, das ist für sie eine entsetzliche Vorstellung. 'Think big', ihr ständig wiedergekäutes Motto. Ja, 'every pig thinks big' (jedes Schwein denkt groß)."
Frank riss sich zusammen und guckte hoch, ob Yvonne vielleicht schon ganz verstört wäre durch sein lautstarkes Schimpfen. Aber sie nickte ihm nur aufmunternd zu. So überließ er sich wieder seinem Zorn. Der war noch keineswegs verraucht, sondern steigert sich immer weiter. Frank begann jetzt, regelrecht zu rasen und zu schreien. "Scheissegal, wie man das Positive Denken betreibt, ob als Money oder als Lichti: Es funktioniert nicht! Und leider gilt dies auch für meinen Positivismus. So oft habe ich von dem Geheimnis des Positiven Denkens gehört. Aber sein Geheimnis ist einfach: Es klappt nicht. Du musst nur positiv denken, dann geht alles wie von selbst? Quatsch! Vielmehr heißt es: Guten Morgen, liebe Sorgen! Jeden Morgen sind die Sorgen wieder da, und sei es auch nur unterschwellig.
Bestimmte negative Ereignisse lassen sich einfach nicht wegdenken, wie soll man das Elend in der Welt, Krankheit und Tod wegdenken? Das geht doch nicht. Der Mensch denkt positiv, aber das Leben lenkt ungerührt negativ. Was soll das Gerede von der Allmacht der Gedanken? Es gilt die Ohnmacht aller Gedanken. Außerdem hat man einen ständigen Stress, einen ständigen Positiv-Stress. Man muss unablässig dagegen ankämpfen, dass negative Gedanken und Gefühle nicht in einem aufsteigen. Oder man ist immer auf der Flucht vor ihnen, fight or flight, das ist das Leben eines Positivdenkers. Die negativen Seiten in einem, Ängste, Verletzungen, Trauer und Schmerzen werden durch das Positive Denken nicht wirklich beseitigt oder entsorgt, sondern nur überdeckt bzw. abgelagert. Es ist, wie wenn man gefährlichen Sondermüll einfach irgendwo hinkippt und oberflächlich verscharrt. Diese Altlasten machen sich immer wieder gefährlich bemerkbar. Ich bin es jetzt jedenfalls endgültig leid mit dem Positiven Denken."
Frank hielt in seinem Schreien inne. Die Wut war abgeklungen, und er dachte ruhiger nach, wobei ihm die Einsichten fast von selbst kamen: Was waren eigentlich die Hauptfehler des Positiven Denkens? Warum brachte es keinen echten Erfolg? Plötzlich hatte er es:
Die Lehre vom rosa Denken behauptet:
1. Jeder kann positiv denken.
2. Das Positive Denken führt zu dauerhaften positiven Veränderungen.
3. Die positiven Veränderungen sind echt.
Ich halte dem entgegen:
1. Oft kann man gar nicht positiv denken.
2. Wenn man doch positiv denkt, ändert das oft gar nichts.
3. Wenn es doch etwas verändert, beruht diese Veränderung meist nur auf Verdrängung und Verleugnung.
Wenn man wirklich total mies drauf ist, dann schafft man es doch gar nicht, positiv zu denken. Man muss gewissermaßen schon positiv denken, um positiv denken zu können - so bewegt man sich im Kreis. Aber auch, wenn es einem gelingt, positiv zu denken, so garantiert das noch nicht, dass man wirklich in seinem Leben etwas zum Guten verändern kann. Die äußeren Umstände lassen sich nur schwer durch Positives Denken beeinflussen und noch weniger unser innerer Kern. Viel prägender als unsere bewussten Gedanken sind nämlich unsere unterbewussten. Und es ist keineswegs erwiesen, dass wir das Unterbewusstsein durch bewusste Gedanken steuern können. Wenn du denkst, du denkst positiv, dann denkst du nur, du denkst positiv, denn im Unterbewusstsein denkst du weiter negativ.
Außerdem ist das, was wir fühlen, oft wichtiger als das, was wir denken. Mit dem Positiven Denken lassen sich die Gefühle kaum lenken, vielmehr lenken die Gefühle das Denken. Das Positive Denken ist somit nur eine Kopfgeburt, eine Geistwichserei ohne wirkliche Folgen. Wenn es uns aber doch gelingt, durch Positivdenken auch positiv zu fühlen und ein positives Leben zu führen, dann ist es nur eine Fassade, die auf Verdrängung und Übertünchung unserer echten und tieferen Empfindungen beruht und damit keinen dauerhaften Erfolg beschert. Die Positivdenker sind deshalb personifizierte Lebenslügen. Noch am Kreuz singen sie: 'Always look at the bright side of life.' Aber sie sind nicht nur Lebenslügner, sie sind vor allem wie Süchtige, ja sie sind Süchtige. Ständig kaufen sie neue Positivbücher oder Positiv-CDs. Sie brauchen immer wieder neuen (Lese-) Stoff, immer wieder eine Bestätigung ihrer Illusion, damit die abgewehrten negativen Gedanken und Gefühle nicht in ihr Bewusstsein dringen. Und dabei verhalten sie sich stur und blind. Obwohl die ständigen Misserfolge ihnen zeigen müssten, dass sie auf dem falschen Weg sind und besser einen anderen Weg einschlagen sollten, geben sie ihre Positiverei nicht auf. Im Gegenteil, wie ein Süchtiger erhöhen sie die Dosis, sie glauben, wenn sie noch mehr, noch intensiver, noch perfekter positiv denken, dann würden sie es wirklich schaffen. Aber nicht nur die eigentlichen Positivdenker, die ihre Positivübungen machen, sind so. Im Grunde ist unsere ganze Gesellschaft positiv-gierig. Wir alle zusammen machen uns etwas vor, wir alle tun so, als ob in unserer Gesellschaft, in unserem Staat, alles zum besten gewendet werden könnte, wenn wir denn nur optimistisch sind.
Aber ich mache das jetzt nicht mehr mit. Schluss mit diesem Blick durch die rosa Brille, Schluss mit der Augenwischerei. Dann bin ich lieber ein Pessimist. Als Pessimist brauche ich nicht ständig darum zu kämpfen, dass alles gut wird, denn ich erwarte ja ohnehin nur Negatives. Außerdem hat das den Vorteil: Überraschungen sind stets positiv, d. h. wenn etwas Unerwartetes eintrifft, dann kann es nur etwas Positives sein." Plötzlich brandete die Glut der Wut noch einmal in Frank auf; sie wurde so groß, dass er keine Worte mehr für sie finden konnte, sie übermannte ihn. Außer sich schlug er mit den Fäusten auf die Couch von Yvonne ein, einfach nur brüllend. Das einzige Wort, was er schließlich fand, war: nein - "nein, nein, nein!"
Nachdem der Zorn seinen Höhepunkt überschritten hatte, fühlte Frank Traurigkeit und Schmerz in sich aufsteigen, die Augen wurden ihm feucht. Aber das war ihm Yvonne gegenüber fast noch unangenehmer als sein Getobe, deswegen wischte er mit dem Ärmel über die Augen und versuchte, die Traurigkeit wegzudrücken. Aber Yvonne zog ihn sanft auf die Couch neben sich, legte den Arm um ihn und sagte: "Bleib bei diesem Gefühl von Verzweiflung, das ist ganz wichtig." Frank entspannte sich, er lehnte sich an Yvonne an, legte seinen Kopf auf ihre Schultern. Ein Schluchzen ergriff ihn, und Tränen rannen über seine Wangen. Stockend sprach er weiter: "Sicher, das Positive Denken ist ein Betrug. Aber noch viel schlimmer: Das ganze Leben ist ein Betrug. Niemals erreicht man echte und beständige Glücklichkeit. Oder gilt das nur für mich? Nein, bestimmt nicht. Keiner ist wirklich glücklich. Natürlich gibt es Unterschiede, es gibt glücklichere und unglücklichere Menschen. Aber insgesamt sind wir wohl alle, ist der Mensch an sich zum Unglücklichsein verdammt. Mein Freund Josef, den ich immer als Pessimist belächelt habe, hat Recht. Ja, heute bin ich soweit, dass ich ihn sogar als noch zu optimistisch einschätze.
Josef hat mir einmal von dem französischen Philosophen Albert Camus erzählt: Der verglich das Geschick des Menschen mit dem des Sysiphos, dem tragischen Helden aus der griechischen Sage, der dazu verurteilt war, ein Felsstück auf den Gipfel eines steilen Berges zu wälzen, von dem es aber immer wieder herabrollte. Camus bezeichnete das Dasein des Menschen als absurd und sah als einzige angemessene Haltung die Revolte gegen diese Absurdität. Genau das empfinde ich auch: Das Leben ist absurd, ohne Sinn und Zweck, ohne Ziel und Richtung, ein schlechter Scherz, der einem jeden Tag wieder neu erzählt wird. Ein Weinen schüttelte Frank, so dass er kaum noch sprechen konnte. Die Tränen liefen und die Nase lief. Halb blind vor Tränen putzte er sich die Nase - er glaubte, mit einem Taschentuch, aber er hatte die Tischdecke erwischt.
Dann sprach er weiter zu Yvonne: "Bestimmt kennst du das Lied 'Die Gedanken sind frei'. Da kann ich nur lachen. Unsere Gedanken sind nicht im Geringsten frei, unser Handeln noch weniger, und von Willensfreiheit kann schon gar nicht die Rede sein. Letztlich sind wir nur Marionetten, unser Leben ist vorherbestimmt, wir haben keine echte Wahl. Josefine, das ist die Frau meines Freundes Josef, hat mir einmal von einem Ausspruch in dem Werk 'Dämonen' des russischen Dichters Dostojewski erzählt. Ich habe mir das behalten, weil es mich sehr beeindruckt hat. Dort heißt es: 'Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, dass er glücklich ist. Nur deshalb. Das ist alles, alles. Wer das erkennt, der wird gleich glücklich sein, sofort, im selben Augenblick .. .' Ich weiß jetzt, dass genau das Umgekehrte gilt: Der Mensch ist nur so lange glücklich oder meint es zu sein, bis er erkennt, dass er eigentlich unglücklich ist und dies immer war und immer sein wird. Permanent habe ich mir suggeriert: Ich schaffe das Leben. Aber heute weiß ich, das Leben schafft mich. Und bei all meinem Ärger und meiner Enttäuschung über die Positiv-Leute, ich kann sie noch immer verstehen, ich kann ihnen ihre lächerliche Flucht in die positive, heile Welt im Grunde gar nicht verübeln. Denn ohne Illusionen ist dieses Leben nicht zu ertragen. Wenn man die Illusionen aufgibt, bleiben nur Verzweiflung und Sinnlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Aussichtslosigkeit. 'Das kann doch nicht schon alles gewesen sein!' schreit man der Leere entgegen und klammert sich an die positiven Gedanken.
Vielleicht ist es gar nicht so sehr das äußere Leben, was so negativ ist, sondern der Mensch selbst ist destruktiv. Das Leiden ist ihm eingeimpft, er kann vielleicht gar nicht ohne es leben. Und so fühlt er sich negativ, wenn er sich positiv fühlt. Und fühlt er sich positiv, dann fühlt er sich negativ, weil das Positive für ihn unerträglich ist. Aber wenigsten verstehe ich jetzt, was mit mir, was mit den Menschen und was mit dem Leben los ist. Ich begreife, warum ich nicht auf diesem hohen Gipfel bleiben konnte, ja warum ich gerade, weil ich so hoch gestiegen war, so tief herabstürzen musste."
Frank weinte. Es schmerzte ihn tief, all seine Illusionen und Hoffnungen zu verlieren. Aber daneben gab es auch ein Gefühl der Erleichterung, eine Befreiung, das lange Erwartete doch immer wieder Weggedrängte endlich zuzulassen. Seine negativen Gedanken und Gefühle rauszulassen und sich damit ein Stück weit von ihnen zu lösen. Yvonne streichelte ihm über den Kopf: "Ja, du hast jetzt vieles verstanden. Aber es ist trotzdem erst die halbe Wahrheit. Du bist jetzt von einem Extrem ins andere Extrem gestürzt, vom positiven Gipfel in den negativen Abgrund. Du musst noch die Mitte, deine Mitte finden. Aber für heute war es bestimmt genug für dich." "Mehr als genug", sagte Frank, "ich bin unendlich müde. Aber es ist nicht mehr diese bleierne Erschöpfung wie sonst, sondern eine echte, richtige Müdigkeit." In einer spontanen Geste drückte er seine Lippen auf Yvonnes Hände und ging, wankte nach unten in seine Wohnung.
Am nächsten Tag freute sich Frank darauf, wieder mit Yvonne zu sprechen. Es hatte ihm gutgetan: Er fühlte sich wieder lebendiger, die lähmende Gleichgültigkeit war zurückgegangen, wenn auch keineswegs verschwunden. Allerdings fühlte er sich ziemlich verunsichert, vieles ging in ihm durcheinander, Hoffnung und Resignation, Angst und Zorn, Freude und Verzweiflung. Viele Stimmen sprachen in ihm; eine sprach besonders laut, er erkannte sie sofort, obwohl er sie so lange nicht mehr gehört hatte. Es war seine innere Stimme, und sie sagte: "Frank, hör auf Yvonne. Sie weiß, was für dich richtig ist. Vertraue ihr." Frank dachte daran zurück, wie er seine innere Stimme früher bekämpft und schließlich zum Schweigen gebracht hatte. Aber womöglich hatte er ihr Unrecht getan. Im Grunde hatte es gestimmt, was sie über ihn und sein Leben gesagt hatte. Vielleicht war Yvonne sogar ein äußeres Pendant zu seiner inneren Stimme.
Doch im Verlauf des Tages, wo er nichts zu tun hatte, nur auf den Abend mit Yvonne wartete, verfiel er wieder mehr und mehr in düstere Depression. Die Stimme der Resignation und Verbitterung machte sich stark und redete alle anderen Stimmen nieder. So ging er ohne große Überzeugung abends zu Yvonne nach oben. Yvonne begrüßte ihn mit einem flüchtigen Kuss auf die Stirn, aber er war schon wieder so in seinem Elend gefangen, dass er das kaum registrierte. Auch wollte er eine gewisse Distanz einhalten, denn irgendwie war es ihm schon peinlich, wie er sich Yvonne gegenüber hatte gehen lassen, wie er getobt und geheult hatte. Daher nahm er auch nicht auf der Couch neben ihr Platz, sondern im Sessel gegenüber. Yvonne sah ihn mit großen fragenden Augen an:
- Wie geht es dir jetzt Frank? Was fühlst du?
- Ein bisschen besser als gestern geht es mir schon. Aber eigentlich hat sich nichts verändert. Ich sehe das Leben als eine Last, eine schwer erträgliche, unerträgliche Last.
- Frank, kennst du den Begriff Narzissmus?
- Ich bin ja nicht doof. Natürlich kenne ich den Nazismus und die Nazis.
- Nein, ich spreche vom "Narzissmus", benannt nach Narziss, einem schönen Jüngling aus der griechischen Mythologie, der sich in sein Spiegelbild verliebt. Die Selbstverliebtheit ist aber eigentlich nicht das Wesentliche, was der Psychologe mit "Narzissmus" meint. Sondern für den Narzisst dreht sich alles um Macht und Machtlosigkeit, Erfolg und Niederlage, Selbstbestätigung und Kränkung. Diese Positivdenker, das sind alle mehr oder weniger Narzissten. Sie kämpfen ständig darum, positiv zu sein, weil sie eine panische Angst davor haben, ohnmächtig, abhängig oder schwach zu sein bzw. zu erscheinen. Wenn sie ihren Kampf gewinnen, dann fühlen sie sich großartig, sind voller Euphorie.
Wenn sie aber eine Niederlage erleiden oder einfach vom ständigen Kämpfen erschöpft sind, dann versinken sie in tiefe Depression und ziehen sich gekränkt vom Leben und den Menschen zurück. Genauso wie du jetzt. Du siehst also, du bist keineswegs ein Einzelfall. Aber nicht nur der typische Positivdenker ist ein Narzisst, sondern unsere ganze Gesellschaft ist stark narzisstisch strukturiert. Im Grunde ist sogar der Mensch an sich narzisstisch oder zumindest sehr anfällig dafür, narzisstisch zu werden. Wir sind zwar wohl nicht von Geburt aus narzisstisch, aber durch die Kränkungen in unserer Kindheit werden wir es alle mehr oder weniger. Das kleine Kind ist fast völlig machtlos. Es ist der Willkür und den egoistischen Wünschen der Erwachsenen ausgeliefert, ihren strengen Strafen wie der subtilen Manipulation durch Liebesentzug, im Extrem Misshandlung und sexuellem Missbrauch. Aus dieser Erfahrung quälender Ohnmächtigkeit, die normalerweise verdrängt wird, speist sich dann das Bedürfnis, überlegen, unabhängig und unverletzbar zu sein, also der Narzissmus.
- Und was bedeutet das konkret für mich, dass ich narzisstisch bin, Yvonne?
- Du musst lernen, die Mitte zu finden, nicht nach einem Alles-oder-nichts-Prinzip vorzugehen. Du bist weder der Zwerg deiner Ängste, noch der Riese deiner Träume. Du musst lernen, dich und das Leben so zu akzeptieren, wie sie nun einmal sind. Du musst dir und der Welt verzeihen und dich aus deinem Schneckenhaus wieder heraus bewegen, dich neu engagieren. Frank fühlte sich hin- und hergerissen. Verschiedene, gegensätzliche Stimmen sprachen in ihm durcheinander. Zwei Stimmen waren dabei am deutlichsten und klarsten. Die eine, seine bekannte innere Stimme, sagte: "Yvonne hat Recht, Frank. Du musst dich wieder öffnen, ja zum Dasein und zu dir selbst sagen." Die andere Stimme widersprach: "Nein Frank, du hast schon zu viel einstecken müssen. Lass dich nicht wieder von neuem verletzen. Mache das Scheissspiel, das sie 'Leben' nennen, nicht mehr mit." Und diese Stimme war die Stärkere, jedenfalls zunächst.
- Yvonne, für mich hat es keinen Sinn mehr. Ich will nichts mehr hoffen, ich bin zu oft enttäuscht worden. Wenn ich wieder von neuem hoffte, dann würde ich bestimmt wieder nur neu enttäuscht werden. Ich kann und will nicht mehr.
- Vielleicht hast du zu viel erwartet?
- Ach, die Leier kenne ich: Sei schön bescheiden, bleib im Land und nähr dich redlich.
- Vielleicht hast du auch zu wenig erwartet?
- Ich versteh' dich nicht.
- Nun, du hast dich eigentlich nur um die Erfüllung von Ersatzbedürfnissen bzw. um Ersatzbefriedigung bemüht, so konntest du ohnehin keine echte Zufriedenheit erreichen. Jedenfalls hast du das Falsche erwartet. Und so sind deine Selbsttäuschungen "enttäuscht" worden. Du wolltest totales Glück, allzeit Frohsinn, ständiges High. Ist das realistisch?
- Aber andere erreichen das doch auch. Warum ich nicht?
- Weißt du, wie froh die anderen in ihrem Inneren wirklich sind? Sie tun nur so. Ich garantiere dir, niemand ist immer und ausschließlich glücklich. Aber ich stimme dir insoweit zu: Das Leben ist ungerecht. Manche werden bevorzugt, andere benachteiligt. Es ist dein Recht, darüber traurig und wütend zu sein. Aber es ist sinnlos, dem Leben permanent zu grollen.
- Aber das ist meine einzige, meine letzte Möglichkeit, mich zu wehren.
- Vielleicht kannst du einen Menschen so bestrafen, indem du ihn mit Verachtung bedenkst. Aber das Leben kannst du so nicht treffen. Dem Leben - was immer das genau sein mag - ist es egal, wie du dich verhälst. Du bestrafst nur dich selbst.
- Vielleicht hast du Recht. Aber ich bin nun einmal so. Ich kann nicht anders. Soviel habe ich schon versucht, jetzt mag ich nicht mehr. Ich kann und will dem Leben nicht verzeihen.
- Du suchst nach dem Absoluten, Frank. Das ist zwar verständlich, aber nicht realistisch. Es gibt kein Absolutes, kein absolutes Glück, keine absolute Liebe, keine absolute Gerechtigkeit. Woher weißt du das eigentlich alles? Bist du eine Art Engel mit Lehrbefähigung, eine göttlich geprüfte spirituelle Samariterin?
- Nein, aber ich habe Ähnliches wie du durchgemacht. Und ich habe daraus gelernt.
Plötzlich fühlte Frank einen Wechsel der Stimmen und damit einen Stimmungsumschwung in sich. Es war so, als ob die negative, verneinende Stimme sich erschöpft hatte, weil sie befriedigt war, sich einmal ganz aussprechen zu können und dabei ernst genommen und verstanden zu werden. Und an deren Stelle flammte plötzlich ein inniges Liebesgefühl für Yvonne in ihm auf. So sehr er früher für Yvonne geschwärmt hatte, ohne sie wirklich zu kennen und ihr nahezukommen, jetzt hatte er sie nur als eine freundliche, liebevolle, lebenskluge Beraterin oder Therapeutin gesehen. Aber plötzlich sah er sie wieder als erotisch attraktive Frau und fühlte sich heftig zu ihr hingezogen: ihr offenes und doch vieldeutiges, ein wenig geheimnisvolles Gesicht, ihre ausdrucksvollen Augen, klug und zugleich liebevoll, die kastanienbrauen Haare, die lockig auf die Schulter fielen, der sanfte Duft ihrer Haut, gar nicht zu reden von ihrer Figur: die war einfach traumfraulich - jedenfalls soweit Frank das bisher erkannt bzw. ertastet hatte.
Ohne Zögern, in der Gewissheit, dass sein Gefühl erwidert würde, ging er auf sie zu und schloss sie in die Arme. Sie küßten sich leidenschaftlich, und er fühlte eine erotische Hitze, ein sinnliches Begehren, wie er es nie zuvor bei einer Frau, auch nicht bei Karin empfunden hatte. Eng umschlungen gingen sie auf die Couch zu. Das sexuelle Zusammensein mit Yvonne wurde für Frank zu einem echten Gipfelerlebnis. Es war keine Geilheit mit nachfolgender Abreaktion, kein Verführen oder Verführtwerden, erst recht kein seichtes, langweiliges Geplänkel. Sondern es kam zu einer tiefen Begegnung, auf allen Ebenen, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch und sogar geistig. Tief-sinnig, tief-sinnlich und tief- sinnig. Ein sich füreinander Öffnen, sich selbst Offenbaren und auf den anderen achten, zugleich leidenschaftlich und sanft, intensiv und gelassen, ernst und spielerisch. Dieser Sex hinterließ auch keinen schalen Beigeschmack, sondern eine echte, innigliche Befriedigung.
Dennoch lief Frank zum Schlafen in seine Wohnung runter, nach dieser völligen Nähe und Hingabe brauchte er etwas Distanz, um sein Ich wiederzufinden. Am nächsten Tag ging es Frank wirklich besser. Der Höhepunkt bzw. Tiefpunkt der Krise schien überwunden, das tiefe Tal der Tränen durchschritten. Trotzdem fühlte er sich weiterhin ziemlich durcheinander und unsicher: Wofür soll ich leben, wonach soll ich mich richten, wenn nicht mehr nach dem Positiven Denken? Wie soll es beruflich weitergehen? Und was wird mit Yvonne? Findet sie mich nur ganz nett und der gestrige Abend war so eine Art Abenteuer? Oder werden wir ein Paar werden? Zunächst kümmerte er sich einmal um die Äußerlichkeiten: Er brauchte dringend einen neuen Haarschnitt, und der Porsche brauchte noch dringender eine Fahrt durch die Waschanlage.
Dann begann Frank in seiner Wohnung aufzuräumen, vielleicht würde er ja durch das Aufräumen im Haushalt auch seelisch etwas aufgeräumter. Schließlich rief er Professor Feelgood an und bat ihn, erst einmal das Institut für Positivismus weiterzuführen. Er selbst brauche noch einige Zeit für sich selbst und würde sich dann wieder bei ihm melden. Wenn Frank seine Passivität also auch abschüttelte und wieder tätig wurde, er ging lockerer, leichter und lässiger als früher an die Arbeit. Und mit dieser Haltung wollte er auch an die Lösung seiner Lebenskrise gehen. Nicht mehr verbissen um etwas kämpfen, nicht mehr versuchen, alles mit Gedankenmacht herbeizuzwingen, sondern mehr intuitiv und spontan seinen inneren Impulsen, ja auch seiner inneren Stimme folgen und zugleich geduldiger darauf warten, dass die gewünschten Ereignisse sich quasi wie von selbst ergeben.
Und obwohl er spürte, dass er drauf und dran war, sich in Yvonne zu verlieben - wieder, aber diesmal echt, nicht nur aus der Ferne -, wollte er auch hier nichts forcieren. Wenn er sie nur mit allmöglichen Positivstrategien und Tricks für sich gewann - was er sich bei einer Frau wie Yvonne ohnehin nicht vorstellen konnte -, dann wäre eine Beziehung mit ihr nicht wirklich wertvoll, sondern eine Manipulation. Aber noch wichtiger, als Yvonne näher zu kommen und mit ihr weiter intim zu werden, war Frank jetzt erst einmal, weitere Gespräche mit ihr zu führen. Denn was er am dringendsten brauchte, war eine Klärung seiner Gefühle und seiner Gedanken, nach dem Zusammenbruch der alten Lebensorientierung und dem darauf folgenden Chaos jetzt ein neueres, besseres Gleichgewicht zu finden.