Stefan Sternau
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Am nächsten Abend war Frank bei Josefine und Josef eingeladen. Als er aus seiner Wohnung trat, zog gerade seine wirklich verdammt hübsche Nachbarin Yvonne vorbei, mit einem Typ. Frank dachte: „Ich bleibe mal ganz objektiv und sachlich. Aber dieser Kerl hat doch einfach ein Dutzend-Gesicht, ja eine 0815-Visage. Bei aller Objektivität, er hat eine Ohrfeigen-Fresse. Es ist doch schade, dass manche Frauen einen so schlechten Geschmack besitzen.“ Ob es mit Yvonne und ihm je etwas würde (wenn sie einmal zu einem guten Geschmack fände)? Wahrscheinlich nicht.
Frank ging zu seinem "Positiv-Parkplatz" - und fand ein Knöllchen hinter der Scheibe. Mit 15 Euro schon fast eine "Knolle". Auch das noch. Aber das Positive Denken konnte er dafür nicht verantwortlich machen. Schließlich hatte er sich diesen Parkplatz vorgestellt. Und der lag nun einmal im Halteverbot - das hatte er nicht bedacht. Beim nächsten Mal würde er besser aufpassen oder sich das Halteverbot-Schild einfach wegdenken. Während der Fahrt spürte er, dass ihn der Besuch eigentlich wenig lockte. Vor allem fühlte er einen Horror, sich womöglich wieder endlos Feriendias ansehen zu müssen. Andererseits wollte er mal mit anderen Menschen über das Positive Denken sprechen, Menschen, die er schon länger kannte und die selbst nicht irgendeiner Richtung des Positiv-Denkens anhingen, von daher - hoffentlich - neutraler urteilen konnten.
Doch als er kam, war schon der Dia-Projektor aufgebaut und der Raum verdunkelt. "Zieh dich schnell aus, es geht gleich los", begrüßte ihn Josef. Frank stöhnte. Er dachte mit Schrecken an das letzte Dia-Marathon. Josef war quasi ein Vorläufer der Selfie-Generation. Während die mit ihrem Smartphone immer ihr grinsendes Gesicht neben Sehenswürdigkeiten und Promis aufnehmen, so arbeitete Josef noch ganz altmodisch mit analoger Kamera und Dias - aber das Ergebnis war im Grunde dasselbe. "Was steht denn diesmal auf dem Programm?" "Unsere letzte Ägypten-Reise." Gott ergeben nahm Frank Platz. Er wusste schon, was jetzt auf ihn zukam. "Das bin ich, wie ich vor der Chephren-Pyramide stehe." Natürlich scharf auf Josef gestellt, unscharf die Pyramide im Hintergrund. - "Das bin ich neben der Sphinx." - "Hier sitzen wir beide vor dem Nil-Panorama." Frank wollte Josefine etwas zu dem Bild fragen, wurde jedoch von Josef zischend zur Ruhe ermahnt. - "Oh, hier ist nur ein Kamel drauf, das ist ein Irrtum, denn da bin ich ja gar nicht zu sehen." "Vielleicht doch", flüsterte Frank für sich. - "Das bin ich, wie ich in die Cheops-Pyramide gehe." Jetzt reichte es Frank. Er stand auf und ging wortlos zur Tür.
"Was ist los?" fragte Josef.
Franks Antwort: "Das bin ich, wie ich rausgehe."
"Ach, du magst keine Dias", stellte Josef beleidigt fest. "Das hättest du auch direkt sagen können. Nur dir zuliebe habe ich den Projektor aufgebaut."
Ehe sich Josef in seinem Beleidigtsein häuslich niederlassen konnte, kam Frank wieder durch die Tür und fiel gleich mit der Tür ins Haus: "Hört mal, Ihr beiden, ich möchte Euch etwas fragen. Seit einiger Zeit betreibe ich das Positive Denken. Was haltet Ihr eigentlich davon?"
Josefine war wie immer schneller als Josef.
"Positives Denken? Ist das nicht dieses Gerede: Denke das Beste und du wirst der Beste? Von diesem Typ, 'Dienstag' heißt der glaube ich. ("Nein, 'Montag'", korrigierte Frank, aber sie hörte nicht hin.) Klar, dem geht es gut, denn er verkauft seine Bücher wie warme Semmeln. Weil die Leute denken, wenn sie nur positiv denken, brauchen sie gar nicht mehr zu denken, alles läuft wie von selbst. Dabei nützt es überhaupt nichts, sich schöne Gedanken zu machen, solange das wirkliche Leben beschissen ist."
Frank sprang mutig in die Bresche, um Montag zu verteidigen.
"Das siehst du wirklich zu negativ. Wie Montag schreibt - und ja nicht er allein - bauen wir mit unseren Gedanken unsere Welt. Oder anders gesagt: Wir ernten das, was wir mit unseren Gedanken gesät haben. Ist die Saat gut, wird auch die Ernte vortrefflich sein.“
"Ach, sieh an", stichelte Josefine. "Unser Frank ist unter die Landwirte gegangen. Und wie poetisch er sich zugleich ausdrückt. Leider sind es nur alte Kartoffeln, die du uns hier auftischst. Das ist der Asbach-uralt-Idealismus, welcher behauptet: Der Geist, die Ideen, das Denken oder das Bewusstsein bestimmen unser materielles Sein, also unser konkretes Leben. Spätestens seit Marx und seinem dialektischen Materialismus wissen wir jedoch, dass es genau umgekehrt ist. Unser materielles Dasein, vor allem die wirtschaftlich-politischen Verhältnisse bzw. die individuellen Lebenssituationen determinieren unser Denken und Bewusstsein. Die Menschen müssen nicht positiv denken, sondern die Gesellschaft reformieren oder besser revolutionieren, damit es ihnen wirklich gut geht."
Jetzt mischte sich Josef ein:
"Ihr habt beide unrecht. Ihr glaubt beide, das Negative, das Leid, das Unglück lasse sich aus der Welt schaffen, sei es durch eine Verschönerung der Gedanken oder durch eine Verbesserung der Gesellschaft. Dem ist nicht so.
Der Mensch ist einfach zum Scheitern bestimmt bzw. verurteilt, von seiner anthropologischen oder biologischen Konstruktion her. Das lässt sich in vielfältiger Weise begründen. Um nur eine Möglichkeit zu nennen: Die verschiedenen Hirnbereiche des Menschen, vor allem der Neokortex und das alte Stammhirn harmonieren überhaupt nicht miteinander. Denken und Triebe sind nicht in Einklang zu bringen. Von daher hat der berühmte Arthur Koestler den Menschen als 'Irrläufer der Evolution' bezeichnet. Und genau das ist er - alles andere als die 'Krone der Schöpfung'."
"Aber es ist doch ganz offensichtlich, dass es glücklichere und unglücklichere Menschen gibt", warf Frank ein. "Wie erklärst du diese Unterschiede?"
"Das ist richtig", gab Josef zu. "Neben der allgemeinen menschlichen Anlage, die für alle gleich ist, besitzen die Menschen eben individuell unterschiedliche Erbanlagen. Schon das Altertum unterteilte in vier Temperamente: sanguinisch, cholerisch, phlegmatisch und melancholisch. Sicher lebt zum Beispiel ein sanguinischer Mensch glücklicher als ein melancholischer. Aber diese individuellen Unterschiede sind nur relativ. Kein Mensch ist - im Innersten - wirklich glücklich und zufrieden. Insofern ist unsere Diskussion auch letztlich unsinnig. Lasst uns lieber weiter meine Ägypten-Dias ansehen."
Jetzt kam aber Josefine in Fahrt:
"Was du da sagst, ist unsinnig. Du vertrittst einen primitiven Biologismus, ja Sozialbiologismus. Als ob alles, sogar die Gesellschaftsstrukturen, durch unsere Gene für alle Zeit festgelegt wären. Das ist ein Standpunkt für Leute, die zu faul oder unfähig sind, sich gegen den Monopolkapitalismus zu wehren. Und die damit die bestehenden Herrschaftsverhältnisse sprich Unrechtsverhältnisse stützen."
Das wollte Josef nicht auf sich sitzen lassen:
"Du bist unverbesserlich. Du hinkst mit deinen gesellschaftsmäkeligen Tagträumen hoffnungslos der Zeit hinterher. Wach auf, Apo-Oma. 1968 ist lange vorbei. Falls du es noch nicht mitbekonunen hast: Der Kommunismus ist tot, und der Marxismus ist noch toter als tot. Nicht die Gesellschaft, sondern unsere menschliche Natur macht uns zu dem, was wir sind."
Frank widersprach:
"Die Lehre vom Positiven Denken lehrt aber, dass der Mensch frei ist, selbst über sein Leben zu entscheiden. Er ist weder von der gesellschaftlichen Umwelt noch von der biologischen Anlage abhängig. Wie schreibt doch Montag: 'Wenn wir nur positive Gedanken in uns züchten, sie hegen und pflegen, dann wird der Garten unseres Lebens wundervoll erblühen."
So sehr sich Josef und Josefine gerade angegriffen hatten, gegen Frank solidarisierten sie sich sofort. "Du redest doch Quatsch!" riefen sie wie aus einem Munde.
Josefine giftete jetzt richtig los:
"Aha, eben kamst du uns noch als poetischer Bauer, jetzt als dichterischer Gärtner. Lass mich bloß mit diesem Denk-Softi 'Donnerstag' in Ruhe. Das sogenannte Positive Denken ist doch nur eine neue Variante des männlich-chauvinistischen Ego-Imponiergehabes: Groß-Manns-Sucht. Früher hieß es: 'Ein Mann sieht rot.' Das war der harte Kerl, der mit körperlicher Gewalt rücksichtslos seine Interessen durchsetzte, vor allem gegen die Frauen. Jetzt wird propagiert: 'Ein Mann sieht rosa.' Denn jetzt will der größenwahnsinnige Mann mit seinem rosigen Denken alles zu seinem Vorteil und Gewinn manipulieren. Natürlich wieder ohne Rücksicht auf die berechtigten Bedürfnisse der Frauen. Das ist genau das gleiche wie früher. Ja, es ist sogar noch schlimmer. Denn die frühere Unterdrückung war wenigstens offen und klar erkennbar, die heutige wird durch rosasüßliche Schäfchen-Wolken überdeckt."
Auch von Josef bekam Frank sein Fett weg:
"Dein Positiv-Denken leugnet die Gewalt der Gene, die Diktatur unserer Erbanlagen. Und es leugnet die hoffnungslose Lage des Menschen, der im Kosmos und in sich selbst verloren ist. 'Ich leide, also bin ich.' Das ist das wahre Motto unseres Seins. Schon der leidende Christus am Kreuz hat uns gezeigt, was die 'condition humaine', die menschliche Existenz eigentlich ausmacht: das Existieren in und für die Verzweiflung. Christus ist nicht gestorben, um uns zu erlösen, sondern um uns zu demonstrieren, dass das Leben ein Martyrium ist. Leider haben die Christen das missverstanden."
Frank fühlte selbst etwas von der Verzweiflung, die Josef eben beschworen hatte. Was konnte er gegen diese großkalibrigen Argumente noch einwenden? Aber er kam gar nicht in die Verlegenheit, etwas sagen zu müssen bzw. zu können. Denn nachdem Josefine und Josef vereint ihre Breitseiten gegen ihn abgeschossen hatten, widmeten sie sich wieder um so erbitterter dem Kampf gegeneinander. Als Frank doch versuchte, noch einmal eine Ehrenrettung seines Positiven Denkens zu starten - er kam einfach nicht mehr zu Wort. Nicht einmal sein Trick "Lasst uns doch einige Ägypten-Dias gucken", konnte den gerade das Wort führenden Josef stoppen. Frank hörte den beiden noch eine Weile zu und überließ sie dann ihrem Streit. Offensichtlich hatte das Thema "Positives Denken" ihnen nur dazu gedient, eine weitere Runde in ihrem Lieblingsstreit zu führen. Als Frank ihnen "Tschüss" zubrüllte, nickten sie ihm immerhin kurz zu, was er schon als Erfolg buchte.
War der Abend sonst ein Erfolg gewesen? Was hatte er ihn gelehrt? Obwohl Josefine und Josef ziemlich übertriebene und vor allem ganz widersprüchliche Standpunkte vertreten hatten, fühlte sich Frank doch verunsichert. Zwar hatte er "sein" Positives Denken verteidigt, aber auch aus einer Art Trotz. Im Grunde zweifelte er derzeit selbst stark am Nutzen dieser Methode. Was er brauchte, war ein Positiv-Lehrer, ein Meister oder sogar ein Guru, jedenfalls eine Autoritätsperson, die das Positive wirklich vorlebte und nicht nur auf den Lippen trug - kein Möchtegern-Positivling wie Meier-Meyer. Vielleicht konnte man oder jedenfalls er das Positive Denken nicht allein aus Büchern lernen, sondern nur unter der direkten Anleitung, in der Initiation durch eine echte Positiv-Persönlichkeit. Aber wie und wo fand er eine solche? Immer und immer wieder zog er in Gedanken an seinem Ohrläppchen, so als ob dieses ihm eine Antwort geben sollte.