All inklusive!

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Sammis

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All inklusive

Fünfzehn Jahre habe ich gebraucht. Aber jetzt sieht es wirklich gut aus!
Drei Jahre, um die schulische Vorbildung aufzupolieren und weitere fünf für’s Studium.
Die restliche Zeit mit Job- und Wohnortwechsel verbracht – egal, das ist Vergangenheit!

Zweiundvierzig Jahre zähle ich heute, hab mir wirklich Zeit gelassen. Du bist alt geworden, mein Freund. Egal, jetzt ist jetzt!

Die Schulzeit war hart, das Studium ein einziger Kampf! Dann all die Firmenwechsel und das ewig Neuanfangen. In jeder weiteren Firma wieder bei Null. Ahnungslos, wo es lang geht, von Kollegen bestenfalls wohlwollend belächelt.
Jetzt nicht mehr!

In meiner Branche sind vier Jahre eine verdammt lange Zeit! Keiner, mit Ausnahme der Geschäftsleitung, hat eine nur annähernd so lange Firmenzugehörigkeit vorzuweisen. Endlich wissen, was, wann, wie zu tun ist! Entscheidungen treffen! Um Rat gefragt werden. Ohne mich läuft hier nicht mehr viel!
Es ist ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden! Von Kollegen respektiert und geschätzt zu werden, ist weit besser, als der meiste Sex.

Mit der hart erarbeiteten Kariere kam dann auch das große Geld. Nicht das ganz Große, aber doch so viel, dass ich mir heute die meisten meiner Wünsche ohne finanzielle Risiken problemlos erfüllen kann.

Mercedes Cabrio. Vollausstattung, versteht sich.
Einhundertundsechzig Quadratmeter Eigentumswohnung. Penthouse, natürlich.
Sechswöchiger Karibikurlaub, all inklusive. Selbstredend.

Alles in allem läuft es richtig gut!
Und dann gestern Abend. Oh ja, gestern Abend!

Vor einigen Tagen hatte mich ein Freund angerufen und überredet, zu einem Zusammentreffen ehemaliger Studenten zu kommen.
Wirklich überreden musste er mich nicht. Am Telefon sollte es ein wenig so klingen, insgeheim war ich froh, wieder einmal unter Leute zu kommen. Wegen meines zeitfressenden Berufslebens verkümmerte mein soziales Dasein doch sehr.
Mit einigen Studienkollegen hatte ich mich recht gut verstanden. Tatsächlich freute ich mich auf dies Zusammentreffen! Auch der Anreise wegen. Später Herbst, angenehm warm für diese Jahreszeit. Die ländliche Abgeschiedenheit, in der das Treffen stattfinden würde, lockte verheißungsvoll. Den Sommer über fand sich kaum Zeit meinen Wagen ausgiebig spazieren zu fahren.

Dann also der gestrige Tag. Alles lief prächtig. Die Wettervorhersage hatte ausnahmsweise recht behalten, Hoch Erna hielt stand, die Fahrt verlief reibungslos und die Landschaft war atemberaubend!
Fünfzehn, maximal zwanzig Kilometer vor meinem eigentlichen Ziel tat ich etwas, was ich ansonsten strikt vermied. Ich schreibe es meiner Stimmung zu, die sich des herrlichen Tages wegen in unverhoffte Höhen geschraubt hatte.

Wenige hundert Meter nach einer Tankstelle lies ich ein junges Pärchen zu mir in den Wagen steigen. Eigentlich nehme ich generell keine Anhalter mit.
Bereits im nächsten Dorf stieg der Mann des vermeintlichen Paares, zu meiner Verwunderung, schon wieder aus. Verschwand und war vergessen.
Nicht so das Mädchen. Nicht Annabel!

Annabel, die bis dahin hinten gesessen hatte, gesellte sich zu mir nach vorn.
„Ich heiße Annabel!“, sagte sie. Ihre Augen, ihr Mund, alles in Annabels Gesicht strahlte!
Ich glaube, bereits ab diesen Sekunden war es um mich geschehen.

Sie plapperte ohne Unterlass, die ganze Zeit über. Innerhalb kürzester Zeit glaubte ich, ihre komplette Lebensgeschichte erfahren zu haben. Dann begann Annabel damit, mich auszufragen. Sie übersprang alle Konventionen und kam sogleich zum Punkt.
Wie ich sie finde? Ob ich Kinder mag? Wie ich mir die perfekte Partnerschaft vorstelle? Ob ich Wert auf einen großen Busen lege? All so ein Zeug, und zuallererst wollte Annabel wissen, ob ich eine Freundin habe?

Seltsamer Weise empfand ich keine ihrer Fragen als unverschämt oder verfrüht. Ich Antwortete ebenso selbstverständlich und ungeniert ehrlich, wie Annabel fragte.
Eine Stunde oder länger dauerte ihr Verhör. Irgendwann glaubte ich mich zu erinnern, vor Minuten die Abfahrt zum Treffpunkt passiert zu haben. Welches Treffen?
Nachdem alles gefragt und gesagt war, lotste mich Annabel zu ihrer Wohnung.
Dort angekommen fanden wir uns, wie von selbst, in ihrem Schlafzimmer wieder. Wir neckten und liebkosten einander, als wäre es das natürlichste der Welt.
Später gingen wir Einkaufen, kochten, aßen, kuschelten auf dem Sofa und lauschten ihrer Musik. Danach liebten wir uns ein ums andere Mal mit einem Gefühl von Vertrautheit, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Über alles konnten wir sprechen, und sprachen wir. Erst spät in der Nacht schliefen wir ein.

Mir ist kalt. Ich vermag kaum, klar zu denken, meine Hände zittern. Meine Beine versagen mir den Diest. Alles fühlt sich dumpf an. Leise, von weitem her, glaube ich Sirenen zu hören. Mir ist so entsetzlich kalt!

Ja, es steht richtig gut um mich.
Job, Karriere, Geld.
Traumfrau, Liebe, Glück.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit all das zu erreichen und obendrein einen solchen Menschen zu treffen? Und wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit in solch einer Gegend beim Kaufen von Frühstücksbrötchen vor der Bäckerei überfahren zu werden?
 



 
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