Alles, nur kein Stillstand

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Simon Hebel geht es gut. Er sitzt in seiner Mittagspause am Rande des Schiffshebewerk Rothensee am Mittellandkanal bei Magdeburg. Der Blick geht weit die Wasserstraße entlang, bis hinter die Ufer der Elbauen. Nicht viele Schiffsbewegungen im Moment, alles ist ruhig, verharrt im Stillstand. In solch einer Situation liest Simon gerne die Einträge im Gästebuch der riesigen Anlage. Oft enden die Kommentare mit der Bemerkung: “Der Herr Hebel, der kann aber gut erklären!

Mit einer solchen Aussage ist Simon aufgewachsen. Seine ersten schulischen Leistungen sind allerdings eher mittelmäßig. Nur seine Oma Hilde, wenn sie aus Norddeutschland zu Besuch kommt, stört dies nicht. Sie schwächt aufkeimende Kritik immer mit einem wohlmeinenden, “Aber erklären kann er gut,” ab. Simon kann außerdem gut Zusammenhänge verstehen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er rechtzeitig erkennt, dass diese Kombination im Leben von Vorteil sein könnte. Nach dem Hauptschulabschluss zieht er das volle Programm des Zweiten Bildungswegs durch. Er studiert Soziologie und erwirbt zusätzlich einen Abschluss in Wirtschaftspsychologie. Dem Ruf, Dozent oder Lehrer in einer Bildungsanstalt zu werden, folgt er nicht, denn da sieht er für sich die Gefahr des Stillstands durch Verbeamtung. Der junge Akademiker beginnt seine Karriere in einer internationalen Consulting-Agentur. Nach drei erfolgreichen Jahren dort hat er genügend erfahren und verstanden, um eigene Wege zu gehen. Simon Hebel wird freiberuflicher Business Consultant, was nichts anderes bedeutet, als ein Lobbyist tätig zu sein. Und was er hier macht, macht er gut, denn er kann ja gut erklären und gut Zusammenhänge verstehen. Das, was dieser junge, dynamische Geist in der Gesellschaft seines Landes bewerkstelligt, was er vorantreibt, ist einmalig. Er bleibt dabei immer im Hintergrund; die prominenten Plätze in Talkshows und bei Veranstaltungen überlässt er gerne anderen. Und es gibt viele solcher Gelegenheiten. Kaum ein Politiker des Landes, vom Gemeindevertreter bis hinauf in die Spitzen der Regierung, der nicht von seinem Einfluss profitiert. Und es sind nur wenige Influencer in den neuen Medien, oder Ratgeber in Magazinen, die nicht von ihm gesteuert werden, er ist gewissermaßen der Trendsetter für die Trendsetter der Nation.

Eines der bedeutendsten Projekte, das er anschiebt, ist der Bau der sogenannten festen Fehmarnbelt-Querung, ein Unterwassertunnel zwischen Dänemark und Deutschland. Diese Maßnahme ist politisch bereits fest beschlossen, doch verharrt irgendwann im Stillstand, es besteht Erklärungsbedarf. Die mehr als stümperhaften Erklärungsversuche verschiedener Politiker der Region, der Vorteil einer solchen Baumaßnahme bedeute eine Einsparung von einer Stunde Fahrzeit zwischen Hamburg und Kopenhagen, ist lachhaft. Er erklärt den Herren, dass man groß denken muss, um Großes zu erreichen; das mit dem Wachstum haben einige von ihnen bereits vorher verstanden. Simon tritt nun erstmalig mit einem von ihm gestalteten Projekt vor die Öffentlichkeit. Seine Argumentation leuchtet ein, er kann ja gut erklären. Die von ihm projizierte Vision, auf dem Landweg vom Nordkap in Norwegen bis zum Bosporus in der Türkei gelangen zu können, ohne dabei eine einzige Fähre benutzen zu müssen, wird mit großer Begeisterung aufgenommen. Dass so etwas auch schon bisher möglich wäre, allerdings über den Umweg durch Russland, übergeht er mit leichter Hand, dies ist zzt. ohnehin keine zu empfehlende Option. Nur einige wenige Landbewohner dort im hohen Norden sehen darin keinen Vorteil, sie demonstrieren gegen das Projekt. Es sind einfache Menschen, viele mit schlichten Schildern des Protests in ihren Händen. Sie sehen ihren Lebensraum durch den Bau raumgreifender Trassen in Gefahr. Zu seinem großen Entsetzen entdeckt Simon bei einem der Protestmärsche seine Oma Hilde inmitten des Protestzuges. Was ist geschehen? Seine liebe alte Großmutter auf solch einer Demo? Er kann es sich nicht erklären.

Diess ist der Wendepunkt im Leben des Simon Hebel. Er zieht sich aus allen Geschäften zurück. Seine jüngste Tochter aus zweiter Ehe überredet ihn, sich helfen zu lassen. Stillstandphobie lautet die Diagnose der Fachärzte, schwer zu behandeln, aber heilbar. Und dann will er es noch einmal wissen, was es mit Stillstand und Wachstum so auf sich hat. Simon beginnt Hühner zu züchten, die keine Eier mehr legen, es gäbe auf die Weise also kein Wachstum der Population mehr, absoluter Stillstand. Aber Hühner und Eier würden ebenfalls fehlen, das will auch niemand.

Frustriert wendet er sich wieder seinen Therapeuten zu, er erklärt ihnen sein Problem, die Zusammenhänge erkennen diese sofort. Eine Untersuchung ergibt, der Patient leidet unter einer Veränderung an der Hirnregion Substantia nigra, in der Stillstand und Motorik gesteuert werden. Die Neurologen erklären es Simon, er wäre eben doch kein Dynamiker mit Stillstandphobie, sondern ein Stillständler mit einer Dynamikphobie. Gut erklärt, der Zusammenhang ist für ihn nachvollziehbar. Ein implantierter Chip zur Steuerung der neurologischen Aktivitäten löst das Problem.

Nun muss noch eine passende Tätigkeit für Simon Hebel gefunden werden. Den ihm angebotenen Job als Wasserrutschen-Erprober in einem Freizeitpark lehnt er ab, weil ihm diese Beschäftigung zu schnell-dynamisch erscheint. Der nächste Vorschlag, Etikettenbekleber für Äpfel im Alten Land, erscheint ihm wiederum zu monoton. Auch die Empfehlung, in der Retouren-Abteilung einer Agentur für Brennholzverleih zu arbeiten, spricht ihn nicht an. Dann kommt das Angebot, als Touristenführer auf einem Schiffshebewerk dieses gigantische Bauwerk interessierten Besuchern zu erklären. Das ist genau das Richtige für ihn. Simon Hebel hat seinen Platz im Leben gefunden. Es gibt in dem Job viel zu erklären, und Stillstand und Fortschritt halten sich hier die Waage.
 
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