Als die Zeit noch Zeit hatte

B.Wahr

Mitglied
Als die Zeit
noch nicht fliegen konnte

Ganz früher, als die Zeit noch ein ganz junges Mädchen war und überall stehen blieb, wo´s ihr gefiel, da war die Welt noch ganz schön gemütlich!

Kein Mensch hatte eine Uhr!
Und wenn auch nur ein Mensch eine gehabt hätte, so hätte er sie gar nie und nimmer gebraucht.

Denn damals wußten die Menschen noch nicht, was eine Stunde, Minute oder Sekunde ist. Und wie kurz!
Sie maßen die Zeit nach Glückspunkten.

Und wenn 12 Glückspunkte erreicht waren, dann war für sie wieder ein schöner Tag vorbei.

So hatte jeder Mensch damals viel, ja sehr viel Zeit:
Zeit für andere Menschen, Zeit für schöne Dinge,
Zeit für Tiere, Zeit für Pflanzen
und auch Zeit für sich selbst.

Damals, als die Zeit noch ein junges Mädchen war,
schaute sie überall mal herein.
Und da, wo es ihr besonders gefiel,
weil die Leute lustig und fröhlich waren,
da blieb sie besonders lange stehen.
Da konnte sie stundenlang mit den Menschen herumalbern und sich selbst ganz vergessen.
Damals machte ihr das gar nichts aus!

Erst wenn sie vom vielen Herumtollen ganz hundehundemüde war, verteilte sie an alle Menschen schnell noch zwölf Glückspunkte,
damit auch wirklich jeder wußte,
daß dieser schöne Tag nun zu Ende war.
Und jeder Mensch freute sich über die Glückspunkte,
die kleinen wie die großen, die jungen wie die alten.
Und keiner wollte länger aufbleiben,
wenn er seine Glückspunkte hatte.

Alle schliefen sie schnell, glücklich und zufrieden
in den neuen Tag hinein.
Tag für Tag und jeden Tag aufs Neue.
Und fast wäre das ja auch so geblieben bis heute,
wenn nicht.....!

Ja, wenn aus dem hübschen, kleinen und gemütlichen Zeitmädchen nicht etwas ganz anderes geworden wäre!
Doch, der Reihe nach:

Dem damals noch so jungen Mädchen Zeit gefiel es sehr,
daß die Menschen so große Freude daran hatten, wenn sie ihre 12 Glückspunkte verteilte.
Und es gefiel ihr ganz besonders,
daß es überall so fröhlich und lustig wurde,
wenn sie ankam.

Als sie kaum etwas älter geworden war,
begann sie plötzlich,
stundenlang zu grübeln,
bevor sie loszog
um jedem Menschen seine täglichen 12 Glückspunkte zu bringen.
Trotzdem kam sie noch jeden Tag persönlich.

Manche Menschen merkten schon,
daß sie immer später kam.
Sie ahnten, daß es Veränderungen geben würde.
Und sie erzählten ihre Befürchtungen weiter.
So wurde die Freude der Menschen über die täglichen Glückspunkte von Tag zu Tag kleiner.
Die Stimmung war von da ab nie mehr so ausgelassen wie zuvor.
Schon Stunden vor der Zeit fragten sich die Menschen:
“Na, wird sie heute nochmals kommen?
Wird sie uns vergessen oder verlassen?”
Und voller Ungeduld schauten sie jeden Abend
aus den Fenstern und Türen ihrer Häuser.





Kam sie dann endlich die Straße herunter,
dann war die Freude natürlich groß.
Aber nur kurz.
Denn kaum hatte ein Mensch seine 12 Glückspunkte in der Hand, da dachte er auch schon wieder an morgen und fragte sich ängstlich:
“Werde ich morgen auch wieder 12 bekommen?
Oder nur 11 oder 10 oder gar keine?
Wird uns die schöne Zeit überhaupt noch besuchen?”

Der schönen Zeit aber, der ging´s in dieser Zeit gar nicht gut.
Das Grübeln bekam ihr nicht
und kostete sie eine Menge Zeit.
Ja, manchmal lief der Zeit sogar die Zeit davon.

An einem Freitag, den 13. vergaß sie es tatsächlich,
13 Menschen mit 12 Glückspunkten zu beglücken.

Diese Menschen und ihre Bekannten und Verwandten
glauben doch tatsächlich bis heute, daß die Zahl dreizehn eine Unglückszahl sei.
Obwohl es doch ein Zufall und Versehen war und kein Unglück.
Und obwohl es doch ein Glück war, daß die Zeit damals nur 13 und nicht 14, dreizehnhundert oder gar vierzehntausend Menschen vergessen hat!

Die Zeit grübelte und grübelte,
wie sie alles besser machen könnte und blieb nirgends mehr stehn.
Weil sie nie mehr stehen blieb, wurden auch die Menschen immer noch ungeduldiger und waren nie mehr so fröhlich, lustig und albern wie zuvor.

Weil es bei den Menschen jetzt lange nicht mehr so gemütlich war, wie es einmal gewesen war,
kam und ging die Zeit ab dieser Zeit immer schneller.
Keine Minute mehr blieb sie stehn.
Wie eine Maschine eilte sie von Haus zu Haus,
wünschte sich, daß sie fliegen könnte
und rannte nach Hause
um schnell weiterzugrübeln.

Eines Tages aber - gerade als sie ihre letzten 12 Glückspunkte abgegeben hatte hörte sie -die Haustür´war gerade erst ins Schloß gefallen - laut und deutlich:
“Wir brauchen eine neue Zeit, so hat das doch keinen Wert mehr. Die kommt doch nur noch wann sie will und zu wem sie will!
Mit der kann man doch überhaupt nicht rechnen!”

Da wünschte sie sich noch mehr als sonst,
daß sie ganz schnell und ganz weit fliegen könnte
und war soo traurig, wie noch kein Mensch, den sie besucht hatte.
Erst rannte sie, bis sie ganz außer Atem war,
dann blieb sie völlig erschöpft und außer Puste
an einem Sandkasten stehen,
an dem ein kleiner Junge spielte.

Gedankenverloren und schon wieder grübelnd
schaute sie dem Sandkastenspiel des Buben zu.
Doch plötzlich sprang sie auf, rief: “Hurra, ja - das ist es!”
Gab dem überraschten Buben einen schmatzigen Kuß auf die Stirn und sprang hopplahopp davon.

Obwohl sie ja damals noch nicht fliegen konnte
flog sie fast davon - so schnell lief sie!
“Hurra, das ist es! Hurra jetzt kriegt ihr´s!”
rief sie immer wieder und rannte und rannte
so schnell, daß ihre Füße kaum den Boden berührten.
(Wahrscheinlich hat die Zeit genau da das Fliegen gelernt!)

Kaum zuhause angekommen,
ließ sie die Ereignisse nochmals ganz schnell an sich vorbeiziehen:
Den Streß des Glückspunktverteilens.
Der Menschen Forderung nach einer neuen Zeit.
Den Fall der tausend trockenen Sandkörner aus Bubenhand.

Dann erfand sie die Sanduhr.

Dann den Stundenzeiger, den Minutenzeiger, den Sekundenzeiger.

Die Turmuhr.
Die Wanduhr.
Dann die Tischuhr.
Die Kuckucksuhr, die Armbanduhr, den Wecker,

die Radiouhr, die Digitaluhr, die Fernsehuhr, die Backofen- und Mikrowellenuhr,
die Computeruhr und viele andere Uhren.
Ihre neueste .......-Uhr hat noch keinen richtigen Namen.
Kennst Du sie schon?

Auch heute noch sitzt die Zeit die ganze Zeit in ihrem Gehäuse und tüftelt an neuen Uhren.
Kein Mensch hat sie seit damals persönlich gesehen.
Ich nicht und Du sicher auch nicht.
Die Uhren der Zeit werden immer genauer,
die Menschen haben ihre “neue Zeit” und müssen sich täglich immer mehr sputen.
Immer schneller, immer schneller...!

Ob sie das wollten? -
Ob die Zeit das wollte? -
Ich glaube nicht!


Ich freue mich darauf, daß auch die Zeit
älter und vernünftiger wird
wie viele Menschen.
Daß sie ihre Schnelligkeit und Hochmut verliert.

Ich denke, irgendwann ist auch sie alt genug,
daß sie sich Zeit nehmen kann für sich selbst und für die anderen.
Sie wird erkennen, daß sie in letzter Zeit genug getan.
Ja, mehr als genug.

Ich bin sicher, daß sie - bevor ihre Zeit abläuft - noch genügend Zeit übrig hat,
um sich ganz ohne Zeitdruck
bei Dir oder mir an den Kaffeetisch oder aufs Sofa zu setzen
um - wie früher - für jeden Tag 12 Glückspunkte zu verteilen.
Alt und reif genug ist sie jetzt.
Uhren und andere Zeitmesser hat sie jetzt genug.
Glückspunkte muß sie noch eine Menge übrig haben.

Ich freue mich jeden Tag auf sie
und bin gespannt, was sie mitbringt!
Und Du?

Bitte rufe mich an oder schreibe mir gleich,
wenn sie bei Dir zuerst vorbeikommt!


Anmerkung des Verfassers: Diese Geschichte habe ich für meine Enkel auf einem AppleMacintosh PPC 5200/75 und dem Shareware- bzw. Freeware-Programm TEXTEDITPLUS verfaßt, mit eigenen Sounds und Bildern hinterlegt - deswegen der merkwürdige Umbruch, den ich jetzt nicht verschlimmbessern möchte. Wem´s gefällt - bitte melden. Das Original paßt auf eine Diskette.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

das gefällt mir ganz ausgezeichnet. und das gibts auch mit tönen und bildern? da würde ich sehr gern mal draufschauen. bilder hab ich ja auch schon zu einigen geschichten gefügt, aber töne? ja, wenn man die zeit richtig nutzt, kann man sich die welt als märchenland gestalten. ganz lieb grüßt
 

B.Wahr

Mitglied
Hallo flammarion,
danke fürs Lesen und die liebenswerte Kritik. Gern schick ich Dir ein ”Original” und hoffe Du kannst auf einen Mac mit Tex-Edit Plus zugreifen... Bei dieser Geschichte ist es mit den Sounds von mir gar nicht so weit her: Da sagt halt so´n Opa: 3xTick-Tick-Tack oder so.... Ich werde die Anmerkung wohl besser wieder rausnehmen?

Dein letzter Satz, war der sarkastisch? ...gestalten glaube ich nicht, vielleicht: “tapezieren”?

Liebe Grüße
B. Wahr
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
nun,

tapezieren geht auch, aber da wird die welt deinem geldbeutel gerecht beschnitten. nee, ick bleib bei gestalten. schon, wegen der gestalten, die sich einfinden sollen. ich freu mich auf post von dir - wird ja wohl ein link sein. ganz lieb grüßt
 



 
Oben Unten