Am Ende des Weges

Ruedipferd

Mitglied
Manuel Magiera

Am Ende des Weges
Klirrende Kälte lag über der Stadt. Es hatte vor einigen Tagen geschneit. Der Schnee auf den Straßen schimmerte nicht mehr ganz weiß, sondern wies verschiedene Schattierungen in Grau- und Brauntönen auf. Er war teilweise bereits getaut, so dass sich die Straßen und Wege nass und matschig präsentierten.
Ein dunkles Auto der gehobenen Klasse hielt auf dem Parkplatz vor dem Haupteingang des Zentralfriedhofs an.
Eine Frau stieg aus und passierte das Portal. Sie war schlank und sehr hochgewachsen. Tief atmete sie durch die Nase ein und blies ihren Atem in langgezogenen Nebelschwaden über den Mund wieder in die eisige Luft hinaus.
Auf dem Friedhof lag der Schnee noch so rein, wie die Natur ihn in Form der kleinen sechseckigen Kristalle vom Himmel hatte fallen lassen. Lediglich der Hauptweg war mäßig geräumt. Die Frau trug einen dunklen Pelzimitatmantel mit Kapuze, in der ihr Kopf tief verborgen der eisigen Kälte trotzte. Lange blondgelockte Haare umspielten ein dezent geschminktes, etwas herb wirkendes Gesicht. Die Beine steckten in schwarzen, bis zu den Knien hochgezogenen Lederstiefeln, deren Absätze kräftige Abdrücke im Schnee hinterließen. Sie hielt eine rote Rose in ihrer rechten Hand. Über ihrer linken Schulter hing die schwarze Lederhandtasche eines italienischen Luxusdesigners.
Der Friedhof war an diesem kalten Dienstagmorgen Ende Februar menschenleer. Die elegant gekleidete Frau schritt zielstrebig an der kleinen Kapelle vorbei nach Norden. Sie ging bis zum Ende des Ganges und bog rechts ab, um am zweitletzten Grab stehenzubleiben.
Carsten Maruhn, geboren am 10.11.1978, verstorben am 26.01.2010, stand in weißer Farbe in rostbraunen Marmor gemeißelt, auf dem Grabstein. Das Einzelgrab sah sehr gepflegt aus. Nur ein leichtes Zucken um die Mundwinkel verriet die Anspannung, unter der die Frau stand.
Laut begann sie mit dem Toten zu sprechen. „Lisa Maruhn gehört dort eigentlich hin“, sagte sie ärgerlich und spürte, wie ein brennender Schmerz ihr Herz durchbohrte. „Carsten gibt es nicht mehr, aber nun gut, deine Namensänderung war noch nicht erfolgt und daher musste der männliche Name auf den Grabstein. Ich mache mir große Vorwürfe, Lisa. Wenn ich damals bloß hier gewesen wäre! Ich hätte es verhindern können. Warum nur, Lisa? Wir hatten doch alles geplant! Ich wollte dich mitnehmen. Wir hätten beide ein neues Leben anfangen können!“
Ihr Kopf hob sich schmerzerfüllt und ihre Augen blickten wie mit einem verzweifelten, wütenden Aufschrei zum Himmel hinauf, als erwarte sie die Antwort von Gott selbst. Ihr unsägliches Leid musste sich, während sie am Grab der besten Freundin stand, entladen.
„Alles Gute, Lisa. Du bist jetzt vielleicht in einer besseren Welt. Niemand kann dir mehr wehtun!“
Tränen rannen über das markante Frauengesicht und zogen tiefe Furchen aus verwischtem schwarzem Mascara auf ihre kalten Wangen. Sie beugte ihre Knie und legte mit liebevollem Blick die Rose in die Mitte des Grabes.
„Es ist eisig, Lisa. Sie wird sich lange halten“, sagte sie leise. „Rote Rosen waren deine Lieblingsblumen, ich habe das nicht vergessen. Ich sehe alles noch wie heute vor mir, als wir einander das erste Mal begegneten.“
Ihre Gedanken wanderten langsam in die Vergangenheit zurück. Sie dachte an den Abend, der ihr Leben so radikal verändert hatte. Es war vor zwei Jahren gewesen. Ihr erster Besuch in der Selbsthilfegruppe stand bevor und sie wollte sich perfekt präsentieren.
Die Frau im Pelzmantel ließ ihrer Erinnerung freien Lauf.
 



 
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