An einem Sommertag auf der Treppe vor der Stiftskirche

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Mistralgitter

Mitglied
es ist zum Glück schattig hier
vom Kirchturm läutet es 11 Uhr
ein alter Mann torkelt vorbei
als ob ihn die vergangene Nacht noch nicht entlassen hätte

auf der Treppenstufe links neben mir spaziert eine Taube
nickt mit dem Kopf nach Taubenart
ich habe kein Futter für sie
auch von dem grauhaarigen Mann mit Brille und Rucksack
bekommt sie nichts
er sitzt ganz aufrecht
lesend
rechts von mir auf den Stufen
feine Gesichtszüge
gebräunt
ob er aus Indien stammt?

gegenüber an der Häuserecke musizieren Straßenmusiker
anscheinend Vater Mutter Sohn Tochter
bescheidene instrumentale Ausrüstung
nur Gitarre und Schellentambourin
dazu singen sie mehrstimmig
rhythmisch abwechslungsreich
Lieder über Glück und Unglück
von Schafen und Ziegen
von verlassenem Land
sicher handeln sie auch von Liebe und Sehnsucht
von Hunger, Vertreibung und Wanderung
große Menschenthemen
Wehmut klingt aus ihrer Musik

eine Mutter mit Zwillingskinderwagen überquert den Platz
daneben läuft ihr kleines Mädchen und ein noch kleinerer Hund
sie bleibt kurz vor den Musikern stehen
wirft etwas Geld in den Hut
geht weiter

Polizisten nähern sich
und sprechen mit den Musikanten
diese verstummen und verlassen den Platz
er ist ärmer geworden
 
Zuletzt bearbeitet:
G

Gelöschtes Mitglied 21900

Gast
Dieser Text übt einen schlichten Zauber aus. Es sind die Bilder, die sich ohne rhetorische Schnörkel mitteilen, Prosa in rhythmisches Vorüberfliegen aufgeteilt. Die letzten beiden Zeilen, wenn ich das sagen darf, mussten gar nicht sein.
Grüße Klaus
 

Mistralgitter

Mitglied
Hallo Klaus,
also das "rhytmische Vorüberfliegen" gefällt mir. So sollte es sein.
Die beiden letzten Zeilen hab ich bei der letzten Überarbeitung erst angefügt - von daher könnten sie auch wieder wegfallen. Und so finde ich es interessant, dass du sie für entbehrlich erachtest.
Ich schlafe noch mal darüber. Danke jedenfalls für deinen Kommentar.

LG
Mistralgitter
 

L'étranger

Mitglied
Hallo Mistralgitter,

ich schreibe zur Zeit ja auch solche Prosagedichte. Bei deinem hier gefallen mir die Stellen nicht, wo du dein Innenleben beschreibst. Die sind ein bisschen langweilig formuliert, z.B.
ich stelle mir vor...
sicher handeln sie von ...
mir gehen traurige Gedanken ...
Ich würde das direkter und dramatischer versuchen.

Gruß Lé.
 

Mistralgitter

Mitglied
Hallo L' éntranger,

danke für den Tipp. Er ist sicher berechtigt, zumindest nachvollziehbar. Bevor ich aber jezt noch zu nachtschlafener Zeit mit einem Schnellschuss antworte, mache ich eine kurze Pause und nehme mir morgen Zeit für eine Überarbeitung. Bis dahin viele Grüße
Mistralgitter
 

Mistralgitter

Mitglied
Hallo L' éntranger,

So, jetzt habe ich die persönlich gehaltenen Kommentarsätze gestrichen. Sie sind in einer der vielen, vielen Überarbeitungsphasen dazugekommen. Jetzt ist der Text wieder nüchterner. Besser?

Gruß Mistralgitter
 

L'étranger

Mitglied
Hallo Mistralgitter,

Ja, finde ich besser.

Grundsätzlich hast du ja die Möglichkeit, die Stimmungen in dem wiederzuspiegeln, was du schilderst und wie du schilderst (so wie es jetzt im Grunde ist).
Und wenn du es doch tun magst, dann rein in die Emotion, entweder als innere Rede oder direkt.

Gruß Lé.
 

revilo

Mitglied
Ich mag diese schlichten Beschreibungen, diese kurzen Sentenzen mitten aus dem Leben. Nur“ diese verstummen“ solltest du vielleicht ändern, wobei ich „diese“ meine. Herzliche Grüße
 

Mistralgitter

Mitglied
Ich wusste mir bei dieser Variante des Textes nicht anders zu helfen - es besteht ja Unklarheit, wer da verstummt, die Polizisten oder die Musiker. Sieht man eigentlich die Vorläufer (oder Varianten) des Textes hier nicht? Ich hab mich jedenfalls noch nicht endgültig entschieden ...
Aber danke für die Beschäftigung mit dem Text!
 



 
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