Annettes Weg

Ruedipferd

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Annettes Weg

Dr. Gernot Reichert kannte die Familie von Wichern nicht nur aus der Erzählung seines Vaters, welcher ihn über Jürgens geplanten Geschlechtswechsel informiert hatte. Seine Tochter besuchte dieselbe Grundschule wie der kleine Julian. Es freute ihn deshalb sehr, behilflich sein zu können. Das erklärte er der elegant gekleideten Frau, die vor ihm in seinem Sprechzimmer Platz genommen hatte. Annette bedankte sich und lächelte.
Dr. Reichert wurde ernst. „Frau von Wichern, ich nenne Sie jetzt so, weil ich Sie als Frau erlebe. Es sind weder weibliche Kleidung noch Schminke, die Sie zur Frau machen. Die Ausstrahlung, die von Ihrer Persönlichkeit ausgeht, spiegelt Ihre Weiblichkeit wider. Das zu erkennen, ist für mich als Arzt wichtig. Ich muss nicht nur ausschließen, dass Sie an einer psychiatrischen Erkrankung leiden, sondern mich auch, soweit das möglich ist, davon überzeugen, dass bei Ihnen wirklich Transsexualität vorliegt.“
Natürlich. Annette sah ihn zufrieden an. „Das verstehe ich, Herr Doktor. Ich habe lange genug gebraucht, um mir meine weibliche Seele einzugestehen. Ich hatte mir als Mann ein gutes Leben aufgebaut. Die tiefe innere Gewissheit eine Frau zu sein, rief einiges an Panik hervor. Es geht darum, was gesellschaftlich und medizinisch auf mich zukommen wird. Das meiste an den künftigen zwischenmenschlichen Problemen erahnt man, wenn man nicht völlig am realen Leben vorbei lebt. Ich wusste also, worauf ich mich einlassen werde. Aber nachdem ich das erste Mal in Duisburg auf die anderen transsexuellen Frauen getroffen war, gab es für mich kein Halten mehr. Mir war plötzlich klar geworden, dass ich als Mann nicht mehr weiterleben konnte. Der Schnitt musste her, egal, was er bringen würde. Ich hatte schon damit gerechnet, bei meiner Mutter auf Verständnis zu stoßen. Dass sich mein Bruder und meine Schwägerin, sowie alle anderen Bekannten und die Mitarbeiter der Firma so loyal verhalten würden, kam für mich überraschend. Das Schlimmste für mich war und ist allerdings der sinnlose Tod meiner Freundin Lisa. Sie haben sicher davon gehört?“
Gernot Reicherts Bild von Annette hatte sich durch deren Worte bereits bestätigt. Sie stand mitten im Leben und war sich der Schwierigkeiten, die sie auf dem Weg ins neue Geschlecht erwarteten, voll bewusst. An ihrer Transsexualität hegte er keinen Zweifel. Alles klang plausibel. Sie zeigte keinerlei Anzeichen einer geistigen Erkrankung. Der Tod seines Kollegen in Köln hatte ihn erschrocken und fassungslos gemacht. Ein Freund rief ihn an und erzählte ihm davon. Er nickte traurig. „Ja, natürlich. Ich habe es zuerst in der Zeitung gelesen. Ein ehemaliger Kommilitone aus Dortmund kannte den Kollegen und rief mich an. So eine furchtbare Geschichte. Wir haben uns lange darüber unterhalten, wie es dazu kommen konnte. Ich bin fassungslos. Wie kommen Sie mit dem Tod ihrer Freundin zurecht?“ „Ich habe mit gesteigertem Aktionismus reagiert. Vor allem wollte ich, dass die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden. Lisas Tod war so sinnlos. Verarbeitet habe ich es nicht und ich weiß auch nicht, wie man so einen Verlust verarbeiten kann.“ „Das ist völlig normal und unterstreicht das Bild, welches ich mir während unseres Gesprächs jetzt von Ihnen machen konnte. Angesichts Ihres künftigen transsexuellen Wegs schlage ich Ihnen vor, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Anders werden Sie so ein traumatisches Erlebnis vielleicht nicht bewältigen können. Wir brauchen ohnehin eine psychotherapeutische Stellungnahme für unser Gutachten. Da kann man eventuell zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wäre das machbar und hilfreich für Sie? Ich bin zwar selbst Psychologe, aber als Gutachter kann ich Sie nicht gleichzeitig therapeutisch behandeln.“
Annette hatte selbst schon an eine psychotherapeutische Begleitung gedacht und wunderte sich über das Angebot ihres künftigen Gutachters nicht. „Ich habe Pläne, was meine Freundin Lisa angeht. Aber ich muss mein eigenes Leben neu gestalten und mich als Frau in die Gesellschaft integrieren. Den Antrag auf Vornamensänderung habe ich zusammen mit dem Antrag auf Änderung des Personenstandes bereits bei Gericht eingereicht. Der rechtliche Weg ist jetzt eine Frage der Zeit, bis wann Sie Ihr Gutachten fertigstellen können. Zweitgutachterin wird Frau Doktor Wenzel sein. An eine zusätzliche psychologische Hilfe habe ich selbst schon gedacht. Es wird vielleicht schwierig werden, jemand zu finden, der sich mit Transsexualität auskennt. Die meisten Therapeuten haben lange Wartezeiten.“ Annette blickte Gernot Reichert, der nur ein Jahr älter als sie selbst war, geradewegs in die Augen. „Gut“, antwortete dieser, „das technische Procedere ist kein Problem. Ich benötige einen Lebenslauf von Ihnen, aber bitte nur den beruflichen Teil tabellarisch. Es gehört natürlich Professionalität zur Begutachtung dazu. Wir wollen eine vernünftige Arbeit bei Gericht abliefern. Ich möchte Sie bitten, Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern und Ihrem Bruder zu beschreiben. Berichten Sie mir vor allem über die Kinder- und Jugendjahre. Es muss kein Roman werden, ich bin weder Verleger noch Lektor. Aber ich muss von meinem Gutachten überzeugt sein, und dazu möchte ich Sie kennen lernen. Alles, was Sie hier sagen, behandele ich übrigens streng vertraulich. Ich werde nichtmedizinische Statements, die Ihr Leben betreffen, vorher mit Ihnen absprechen, bevor ich sie ins Gutachten übernehme. Das ist eine Frage des gegenseitigen Vertrauens und gehört für mich ohnehin zur ärztlichen Schweigepflicht dazu. Ich schreibe nichts auf, von dem die Patientin nicht möchte, dass es Außenstehende erfahren. Ich werde das Gutachten mit Ihnen gemeinsam durchlesen, bevor ich es dem Gericht zusende. Der Richter weiß das. Ein solches Gutachten ist privater Natur, denn ein Geschlechtswechsel ist beim Amtsgericht im privatrechtlichen Bereich anhängig und nicht im strafrechtlichen. Alles, was juristisch damit zusammenhängt, muss für den Patienten transparent sein und bedarf seiner Zustimmung. Ich arbeite seit vier Jahren eng mit dem zuständigen Amtsrichter zusammen und Probleme gab es bislang nie. Bezüglich der psychotherapeutischen Begleitung sprechen Sie doch bitte mal mit Ihrer Mutter. Die hat sehr viele Kontakte und ich denke, sie wird jemand finden, der sich Zeit für Sie nimmt. Sonst muss ich mal sehen, wen wir fragen können. Haben Sie schon Vorkehrungen hinsichtlich Ihrer medizinischen Behandlung getroffen?“
Annette sah ihren Arzt etwas erschöpft an. Sie wusste von den anderen Frauen, dass ein kompletter Geschlechtswechsel, der im juristischen Fachjargon „große Lösung“ genannt wurde, kein Spaziergang war, und musste erst einmal schlucken. Da kam noch Einiges auf sie zu.
Andererseits war es vielleicht eine gute Möglichkeit, über ihr bisheriges Leben nachzudenken. Sie schmunzelte etwas. Martin und ihr neuer Job als Firmenanwältin würden sich noch etwas gedulden müssen.
„Sie haben Recht, Herr Dr. Reichert. Vor den Erfolg hat unser Herrgott die Arbeit gesetzt. Sie bekommen eine schöne Lebensbeschreibung von mir. Ich werde mir alles von der Seele kritzeln. Aber es könnte etwas dauern. So etwas geht nicht über Nacht.“
„Genauso war das gedacht, Frau von Wichern. Den einjährigen Alltagstest lege ich Ihnen nicht auf. Den leben Sie schon und Ihre Eingliederung als Frau in die Hamburger Gesellschaft läuft bereits auf vollen Touren. Ihr Neffe hat Sie als Tante akzeptiert, wie ich hörte, und darauf können Sie wirklich stolz sein. Ich kenne Julian durch meine eigene Tochter. Er ist sehr direkt. Wenn irgendetwas nicht stimmig ist, sagt er es frei heraus. Spaß beiseite. Den rechtlichen Teil will ich nebenher abarbeiten. Aber ich brauche natürlich Grundlagen für das Gutachten, das wissen Sie selbst. Ich hege an Ihrer Transsexualität eigentlich keinen Zweifel. Doch wir sollten uns die Zeit nehmen, die wir brauchen. Und ich sehe bei Ihnen eine gute medizinische Behandlung als Ziel. Ich halte es mit meinen Patienten und Patientinnen stets so, dass unsere Beziehung auf Ehrlichkeit beruht. Es geht schließlich um das Wohl der Patienten. Natürlich sind die Gerichtsgutachten und der Weg zur Krankenkasse zwei verschiedene Schritte, die nicht viel miteinander zu tun haben, aber es zeigte sich in der Vergangenheit, dass ein gemeinsamer Weg mit dem Gutachter nicht immer der schlechteste ist. Ich konnte bereits einige Krankenkassen von Operateuren überzeugen, gegen die sich die Kassen aus Kostengründen erst vehement sträubten.“
Annette nickte. „Ja, aber das ist bei mir anders. Ich habe vor, alle Operateure aufzusuchen und mich zusammen mit meiner Mutter beraten zu lassen. Wir wollen auch zu Dr. Charon nach Paris fliegen. Die Operationskosten zahlen wir privat.“ „Gut, Frau von Wichern. Haben Sie jetzt noch irgendwelche Fragen? Ich denke, das war erst einmal genug für heute. Meine Sekretärin wird Ihnen den ersten richtigen Termin geben und keine Angst, so schnell brauche ich Ihre Lebensbeschreibung nicht. Lassen Sie sich Zeit. Denken Sie immer daran: Gut Ding braucht Weile.“ Annette lachte. Gernot Reichert war ihr von Anfang an sympathisch gewesen. Ihre Mutter hatte ihr gestanden, kurze Zeit, bevor sie ihren Vater kennenlernte, mit seinem Vater geliebäugelt zu haben. Annette konnte die Gefühle ihrer Mutter gut nachempfinden.
„Danke, Herr Doktor. Ich spreche gleich mit Ihrer Vorzimmerdame und stürze mich zuhause in die Arbeit. Wenn Ihr Duisburger Kollege ebenso einfühlend gewesen wäre, würde er sicher heute noch leben. Auf Wiedersehen.“ Gernot Reichert stand auf und brachte seine neue Patientin zur Tür. „Ja, ich verstehe den Kollegen genauso wenig. Aber leider sind auch wir Ärzte nicht unfehlbar.“

Am Nachmittag besuchte Annette ihren Bruder in der Firma. Sie wollte mit ihm über ihre neue Aufgabe sprechen und ihn bitten, ihr noch etwas Zeit zu lassen. Martin freute sich über den unerwarteten Besuch. Gemeinsam standen sie einen Augenblick am Fenster und blickten auf den Hamburger Hafen hinunter. „Hoffentlich kann ich mich überhaupt auf meine Arbeit konzentrieren, bei diesem herrlichen Ausblick.“ Martin legte zärtlich den Arm um seine Schwester. „Ja, das Problem kenne ich. Es ist schon faszinierend hier oben zu stehen und zu den Ozeanriesen zu schauen. Wann willst du bei uns anfangen?“ Annette genoss die Aussicht noch eine Weile und erzählte ihrem Bruder von ihrem Besuch bei Gernot Reichert. „Ich würde gerne noch eine kleine Schonfrist haben“, meinte sie. Martin wusste, dass sich Annette sehr viel vorgenommen hatte. Und vielleicht würden ihr unvorhergesehene Probleme begegnen. Er hatte sie als Bruder Jürgen geliebt und ertappte sich immer mehr dabei, sie jetzt als seine Schwester nicht nur zu lieben, sondern auch beschützen zu wollen. „Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Wir haben mit Doktor Winkler einen guten Anwalt. Du wirst dir die Aufgaben mit ihm teilen. Es ist alles inzwischen sehr umfangreich geworden, deshalb sind zwei Firmenanwälte für uns eine gute Lösung. Ihr könnt euch so auch gegenseitig vertreten, wenn mal einer krank ist oder Urlaub hat. Dein Job hier läuft dir nicht weg. Ich mache mir mehr Gedanken über deinen Weg und hoffe, dass nichts schief geht.“ Annette nahm ihre Kaffeetasse in die Hand und trank. „Schön, den konnte ich jetzt gut gebrauchen. Ich bin ganz gerührt, Martin. Ich danke dir sehr für dein Verständnis. Aber ich versuche, positiv zu denken. Etwas Schlimmeres als Lisas Tod kann es eigentlich nicht mehr geben. Ich habe da noch etwas auf dem Herzen. Fabienne würde gerne wieder fahren. Siehst du eine Möglichkeit, ihr einen Job als Kapitänin anzubieten?“ „Daran hatte ich schon gedacht. Kapitän Ladowski will in zwei Monaten in einen längeren Urlaub starten. Vielleicht hat sie Lust ihn zu vertreten. Ich frage sie nachher. Sie war lange nicht mehr unterwegs und muss sich an ein neues Kommando erstmal gewöhnen. Irgendwann findet sich ein eigenes Schiff für sie.“ Annette freute sich. Das sagte sie auch ihrem Bruder. „Ich will deine Zeit nicht überbeanspruchen. Danke für alles, Bruderherz.“ Mit einem Kuss verabschiedeten sich die beiden.

Zunächst lief alles nach Plan. Annette fand in Frau Dr. Wenzel eine sehr gut ausgebildete und versierte Zweitgutachterin. Beide vereinbarten, die Lebensbeschreibung abzuwarten und erst danach weitere Gespräche zu führen. Dank Magdas ärztlicher Kontakte bot sich eine Psychotherapeutin an, sie in ihren bereits ausgebuchten Terminkalender einzuschieben. Mit Feuereifer stürzte sich Annette daraufhin auf die geforderte Beschreibung ihres bisherigen Lebens.
Ihre Kinderjahre konnte sie gut erzählen. Das Pony und ihr Vater nahmen einen erheblichen Platz in ihren Erinnerungen ein. Während sie schrieb, dachte sie daran, sich vielleicht in naher Zukunft endlich den Traum vom eigenen Dressurpferd zu erfüllen. Das wäre sicher eine Abwechslung. Etwas sportliche Betätigung und Ausgleich täten ihr gewiss gut.
Sie saß gerade an ihrem PC, als das Handy klingelte. Ihre Schwägerin Renate war dran. Sie hatte keine Zeit, um Julian um zwölf Uhr von der Schule abzuholen und fragte Annette, ob sie einspringen kann. Es war erst zehn Uhr und Annette hatte gerade wieder ein Kapitel zu Ende geschrieben. Eine Pause könnte wirklich nicht schaden. Sie sagte deshalb gleich zu und freute sich auf die nette Abwechslung.
Pünktlich stand Annette mittags kurz vor zwölf Uhr vor der privaten Grundschule ihres Neffen und wartete auf das Klingelzeichen. Sie stieg aus dem Auto und vertrat sich gerade noch die Beine, als eine Horde schreiender kleiner Menschen aus dem Schulgebäude stürmte. Julian kam etwas langsamer zur Tür heraus. Er schien Annette nachdenklicher als sonst zu sein, wenn sie ihn zu Hause traf. In seinem Schlepptau liefen zwei kleine Mädchen hinterdrein.
Annette begrüßte die Kinder arglos und freundlich. Die Mädchen sahen sie an. „Bist du jetzt eine Frau oder ein Mann?“, fragte eines ganz direkt. „Du hast für eine Frau aber eine tiefe Stimme“, meinte die Freundin. Julian schluckte. Ihm war die Situation sichtlich unangenehm. Dass aus Onkel Jürgen Tante Annette geworden war, gefiel ihm anfangs gar nicht so. Aber er wollte artig sein und seinen Eltern nicht widersprechen. Sein Papa nahm ihn oft mit, wenn er zur Arbeit fuhr und Julian durfte aus dem Fenster auf den Hafen sehen. Einmal durfte er seinen Papa sogar auf eines der großen Schiffe begleiten. Mit Onkel Jürgen war er immer in den Zoo gegangen, wenn dieser die Familie besuchte. Julian fragte sich, ob Tante Annette das mit ihm weiter machen würde. Inzwischen hatten sich seine Befürchtungen zwar in Luft aufgelöst, aber die anderen Kinder in der Schule wollten von ihm wissen, warum er statt eines Onkels nun plötzlich eine Tante hatte. Einige waren ganz unsicher geworden. Die Eltern unterhielten sich zu Hause darüber und seine Schulkameraden verstanden die Gespräche der Erwachsenen nicht. Julian war eigentlich nicht auf den Mund gefallen, doch heute wurde es ihm einfach zu viel. Er hatte den Mädchen gesagt, sie sollten ihn endlich in Ruhe lassen. Plötzlich stand statt seiner Mama Tante Annette vor der Tür, um ihn abzuholen. Und die doofen Mädchen mussten sie natürlich noch nach der Stimme fragen! Julian war genervt und wollte so schnell wie möglich nach Hause.
Der Schreck fuhr Annette in die Knochen. Sie fühlte sich überrumpelt. Auf eine derartige Situation war sie gedanklich nicht vorbereitet. Irgendwie musste sie Farbe bekennen und gleichzeitig einen Weg finden, die Kinder zufriedenzustellen. Alle Kinder, schoss es ihr durch den Kopf. Hatte Julian wegen ihr Probleme in der Schule bekommen? Das wollte sie nie und nimmer. Ach herrje, an so etwas hatte sie nicht gedacht. Kleine Kinder sind sehr direkt und manchmal grausam ehrlich. In ihrem Kopf ratterte es. Ihr Anwaltsgehirn schaltete sich dazu. Ehrlichkeit, nur das kann eine dauerhafte Lösung sein. Aber wie sollte sie sich jetzt äußern? Sie musste denken wie ein Kind. Einfach und ehrlich. Wie erlebt man als Kind die Welt und die Erwachsenen? „Ich bin eine Frau, aber ich bin als Junge geboren worden und habe viele Jahre als Mann gelebt. Daher kommt meine tiefe Stimme“, erzählte sie ihren kleinen Zuhörern wahrheitsgemäß. In der Zwischenzeit gesellten sich mehr Kinder zu der Gruppe. „Das geht doch gar nicht“, platzte ein ungefähr sechsjähriger Junge heraus. „Wenn du einen Piescher hast wie ich, dann kannst du gar keine Frau sein.“ Annette schlug die Hände vor den Mund. Einerseits war die Situation herrlich drollig, andererseits aber sah sie den Ernst in der Komik. Da gab es wirklich viel, was sie nicht bedacht hatte. Bisher war sie nur mit Erwachsenen zusammengetroffen.
Sie hatte Glück im Unglück. Die Schulleiterin war rechtzeitig erschienen, um das totale Chaos noch abzuwenden. „Torsten, das war ein sehr guter Einwand. Wir werden uns morgen darüber in der Klasse unterhalten. So, meine Herrschaften, jetzt geht es in die Freizeit. Kommt gut nach Hause.“
Sie wandte sich freundlich Annette zu. „Mia Reinders, ich bin die Lehrerin und leite die Schule und Sie sind Frau von Wichern, die Tante unseres Julian, nehme ich an?“, fragte sie und reichte Annette ihre Hand.
„Ja, die bin ich. Meine Schwägerin bat mich, den Racker von der Schule abzuholen, weil sie heute verhindert ist. Ich habe wohl einiges an Irritationen bei den Kleinen ausgelöst.“
„Die Sorge sehe ich Ihnen an. Aber ganz so schlimm ist es nicht. Machen Sie sich keine Gedanken. Ich werde mich morgen mit den Kindern unterhalten. Die Lehrpläne sehen diese Thematik zwar erst in der weiterführenden Schule vor, aber wenn das Problem auftaucht, muss man es beim Schopfe packen. Ich glaube, es ist sogar noch viel leichter mit den Kindern im Grundschulalter darüber zu sprechen, als später, wenn sie mit ihren eigenen Pubertätsproblemen befasst sind. Ihre Transsexualität hat sich hier wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Das bleibt in der Hamburger High Society leider nicht aus. Die Leute reagieren natürlich unterschiedlich. Und die Kids schnappen es zu Hause auf und platzen irgendwann damit ungefiltert heraus.
Sie stehen noch am Anfang ihrer Behandlung?“
Annette war über die direkte Frage überrascht und schluckte, fühlte sich aber in Gesellschaft der geradlinigen jungen Frau sofort wohl. Sie musste wohl umdenken und lernen, über sich Auskunft zu geben und zu sich zu stehen. Ehrlichkeit war auch bei Erwachsenen in gewissen Situationen der Schlüssel zum besseren Verständnis. „Ja, ich habe mit Gutachtergesprächen begonnen und muss mich langsam weiter vortasten. An die Stimme hab ich gar nicht gedacht. Klingt sie sehr verräterisch?“
Mia Reinders spürte Annettes Unsicherheit und beeilte sich, sie zu beruhigen. „Ich bin Lehrerin für Deutsch und Biologie, Frau von Wichern. Es wäre schrecklich, wenn ich nicht wüsste, was Transsexualität ist. Aber eine ehemalige Schulkameradin von mir ist überdies Frau zu Mann transsexuell. Wir trafen uns neulich auf einem Klassentreffen wieder. Ich erkannte sie, beziehungsweise ihn erst gar nicht. Deswegen bin ich nun etwas mehr sensibilisiert. Es ist schon zu hören, um auf Ihre Frage zurückzukommen. Aber da wird sich sicher einiges ändern, wenn Hormonbehandlung und Stimmübungen einsetzen. Die Epilation kommt wegen des Bartwuchses auch noch hinzu. Wir Frauen haben es viel schwerer als die Männer, das ist genau wie im Leben“, lachte sie und drückte Julian freundlich an sich. „Du hast aber eine nette Tante, Julian. Du kannst stolz auf sie sein“, ergänzte sie.
Annette errötete. „Danke schön, wir wollen Sie dann auch nicht länger aufhalten. Auf Wiedersehen und nochmals vielen Dank, Frau Reinders.“ „Tschüss, Frau von Wichern. Bis morgen, Julian.“
Julian streichelte Annette, als sie im Auto saßen, über den Hals. „Tut mir leid, Mädchen sind doch wirklich doof“, meinte er bedauernd. Annette herzte ihren Neffen. „Nein, das sind sie gar nicht. Sie wissen nur nicht Bescheid. Das ist alles. Wenn man über eine Sache Bescheid weiß, ist sie gar nicht so schwer“, antwortete sie zärtlich.
„Ach, du meinst, es ist wie beim Rechnen? Wenn man es kapiert hat, sind die Aufgaben ganz leicht?“, fragte der Sechsjährige. „Genauso ist es. Und nun bring ich dich zur Mama. Sie musste noch auf Handwerker warten, deswegen konnte sie heute nicht kommen.“ „Okay, ich bin jetzt etwas müde. Gehen wir am Wochenende wieder in den Zoo zu den Elefanten?“, fragte Julian und war in seinem Sitz eingeschlafen, bevor Annette antworten konnte.
Natürlich musste Annette ihrer Schwägerin und den anderen Familienmitgliedern von dem Vorfall erzählen. Martin hielt sehr viel von Mia Reinders als Lehrerin und lobte sie als einen Glücksgriff für die Schule.
„Allerdings darf man nicht vergessen, dass es sich bei der Grundschule um eine private Institution handelt“, meinte er. „Die Lehrer sind trotz gewisser Regeln den Lehrplan betreffend in erster Linie den zahlenden Eltern verpflichtet.“
Über den Einwand des kleinen Torsten lachten alle, wie Renate einige Tage später nach der eigens zu dem Thema einberufenen Elternversammlung erzählte. Die Mehrheit der Eltern nahm beruhigt auf, dass Mia Reinders die Problematik kindgerecht mit den Schülern behandeln wollte. Nur eine Mutter äußerte Bedenken. Die Schulleiterin verabredete ein Gespräch mit ihr. Die englische Frau eines Unternehmers ließ sich umstimmen, als Mia Reinders sie persönlich aufsuchte und ihr erklärte, dass Julians Tante keine Gefahr für die kleine Tochter wäre. Als Lehrerin wunderte sie sich über die augenscheinliche Unwissenheit, merkte aber schnell, dass die besorgte Mutter, die nicht gut Deutsch sprach, Transsexualität mit Pädophilie verwechselt hatte. Julian tobte nach kurzer Zeit wieder fröhlich herum. Transsexualität war in der Schule kein Thema mehr.

Annette freute sich auf den ersten Termin mit ihrer Psychotherapeutin. Sie hoffte, ihre Hilflosigkeit bei der Problematik, die sie im Umgang mit den Kindern so deutlich gespürt hatte, in Zukunft besser bewältigen zu können. Die Psychologin erklärte ihr zu Beginn der Sitzung, dass Transsexualität nicht zu therapieren sei und sie somit nur die Diagnose der Kollegen bestätigen könnte. Dafür genügten in der Regel drei bis vier Sitzungen.
Annette drückte ihre Enttäuschung aus. Sie erzählte warum und berichtete von den Kindern. „Ich fühlte mich plötzlich so unsicher“, meinte sie.
„Wundert Sie das?“, konterte Margit Littmann. „Ich verstehe nicht“, antwortete Annette irritiert.
„Wenn Sie mit einer männlichen Stimme in einem Kleid auftreten, brauchen Sie sich doch nicht wundern, wenn ein kleines Mädchen von sechs Jahren Sie nach dem Geschlecht fragt. Das Kind steht mit beiden Beinen auf der Erde.“ Margit Littmann hatte Annette in Sekundenschnelle analysiert. Ihre Antwort war daher mehr eine Frage, die erwartungsgemäß von Annette völlig falsch interpretiert wurde. Ohne es zu ahnen, saß diese mitten in der Therapiestunde.
Langsam dämmerte es Annette. Sie hatte Schuldgefühle wegen ihrer Problematik. Margit Littmann bestätigte ihren Verdacht. „Daran arbeiten wir beim nächsten Mal“, meinte diese lakonisch und lächelte. „Auf Wiedersehen, Frau von Wichern.“
Annette verließ die Praxis leicht aufgewühlt. Sie war mit dem Auto gekommen und erschrak, als sie in Gedanken versunken, fast eine rote Ampel überfahren hätte. Magda bot ihr sofort an, künftig mit in die Stadt zu kommen und in der Zwischenzeit einkaufen zu gehen oder Kaffee zu trinken. Wozu hatte sie Herrn Sander, ihren Chauffeur? Dann könnte sich Annette ganz auf ihre Gespräche konzentrieren.
„Frau Littmann ist eine gefragte Psychotherapeutin und versteht ihr Handwerk hervorragend“, bemerkte Magda. „Nur Autofahren sollte man nach ihren Terminen nicht gleich.“
Tja, das war wohl tatsächlich nicht ratsam. Annette drückte ihre Mutter. „Danke Mama, du bist die beste Mutter der Welt“, lachte sie. „Ich weiß, mein Kind“, antwortete Magda seufzend.
Seit Tagen arbeitete Annette an der Lebensbeschreibung. Auch die Ereignisse der letzten Monate kamen darin vor. Annette dachte oft an Lisa, widmete ihr etliche Seiten und weinte herzzerreißend.
Sie rief Anna ein paarmal an und erfuhr, dass diese mit Hilfe ihrer Schwester die Scheidung eingereicht hatte. Heinz Maruhn war eines Abends sturzbetrunken und pöbelnd in Essen aufgetaucht. Eine einstweilige gerichtliche Verfügung untersagte ihm anschließend, sich dem Haus von Annas Schwester zu nähern.
Anna ließ über ihre Anwältin mitteilen, dass sie bereit wäre, ihren Mann im Krankenhaus zu besuchen, sofern dieser eine Entziehungskur machen wollte. An der Ehescheidung gab es allerdings nichts zu rütteln. Sie hatte danach nichts wieder von ihrem Mann gehört. Damit lief das Trennungsjahr für die Maruhns.
Annas großes Problem war Dirk. Einerseits konnte sie ihm niemals Lisas Tod verzeihen, aber er blieb ihr Sohn, auch wenn er für viele Jahre ins Gefängnis musste.
Annette riet ihr, sich dem Hausarzt anzuvertrauen und vielleicht psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Eventuell hätte sie dann die Kraft, Dirk im Gefängnis zu besuchen, um mit ihm über Lisas Tod zu sprechen. Anna wusste von Annette, dass er seine Tat inzwischen bedauerte. Annette hatte zugehört, als Dirk zu Lorans Tod und der gefundenen Waffe im Schrebergarten befragt wurde und ihr am Abend alles erzählt. Dirk war nicht wieder zu erkennen. Er merkte, dass er aus der Sache nicht mehr herauskommen würde. Das Auffinden der Pistole hatte alle seine Hoffnungen auf ein mildes Urteil zunichte gemacht. Aber vor allem Lisas Tod tat ihm leid und bewegte ihn. Anna versprach, sich Gedanken zu machen. Sie fand eine Halbtagsstelle als Verkäuferin und war vormittags in einer Bäckerei tätig. Das sicherte ihr ein geringes Einkommen. So gesehen konnte sie endlich ein einigermaßen normales Leben führen.

Einen Monat später meldete sich Anna um Annette mitzuteilen, dass Dirks Prozess frühestens im Januar oder Februar des nächsten Jahres stattfinden würde. Es ging ihr nun wesentlich besser, aber sie fand noch nicht den Mut, Dirk zu besuchen. Stattdessen verbrachte sie viele Stunden an Lisas Grab. Es erschien Annette, als wollte Anna etwas wiedergutmachen. Sie fragte sie danach und erhielt eine verblüffende Antwort. Anna erzählte, sie würde erst jetzt ein richtiges Verhältnis zu Lisa bekommen. Sie sprach mit ihr und stellte sie sich als Tochter vor. Sie hatte sie nie in Frauenkleidern gesehen und malte sich aus, wie hübsch Lisa als Mädchen ausgesehen hätte. Anna lebte in ihrer eigenen kleinen Welt. Auf diese Weise verarbeitete sie den Tod. Lisa wäre immer bei ihr und beriet sie beim Kleiderkauf. Annette ängstigte sich zunächst etwas, aber so wie Anna sich darstellte, hatte alles Hand und Fuß. Anna versprach, sich zu melden, wenn sie Probleme hätte. Annette rief einen Tag später noch einmal Annas Schwester an. Die sah allerdings keinerlei Anlass zur Sorge und konnte Annette beruhigen. Anna hat ihren eigenen Weg gefunden, um mit der Situation klar zu kommen.

Annette war während der Sommermonate viel unterwegs. Zu den Gutachtergesprächen und Therapiesitzungen gesellte sich der erste Besuch bei Magdas Gynäkologin wegen ihrer Hormonbehandlung.
Die Frauenärztin untersuchte sie gründlich, nahm Blut ab und wollte einen vollständigen Gesundheitscheck von ihr, welcher von Annettes Hausarzt vorgenommen wurde. Als alle Ergebnisse vorlagen, sprach nichts mehr gegen die Weiterbehandlung mit Hormonen.
Die Ärztin klärte Annette eindringlich über alle Risiken auf. Hormone, wie sie von biologischen Frauen eingenommen würden, könnten negative Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf System haben und Leber sowie Nieren belasten. Bei zu niedriger Dosierung könnten Hitzewallungen auftreten.
Mit ambivalenten Gefühlen verließ Annette die Praxis. Magda erzählte, dass ihr bald kleine Brüste wachsen würden und riet dringend von Silikonimplantaten ab. Viele biologische Frauen bezahlten den Wunsch nach größeren Brüsten bereits bitter mit ihrer Gesundheit. Annette sollte sich entsprechende Büstenhalter besorgen und erst einmal abwarten, was die Natur bei ihr hervor brächte.
Auch Annettes Frage nach einer Operation an den Stimmbändern lehnte Magda vehement ab. Die Risiken, danach einen totalen Stimmverlust zu erleiden, wären nicht absehbar. Stattdessen suchte Annette mit Magdas Hilfe eine Stimmtherapeutin auf, die ihr nach wenigen Sitzungen etwas helfen konnte. Die Stimme war Ausdruck der Seele und trotz des in der Jugend stattgefundenen Stimmbruchs, vibrierte die Stimme einer Frau anders als die eines Mannes, erklärte die Logopädin, die bereits viele transsexuelle Frauen behandelte. Mit gezielten Übungen kann man die Schwingungen beeinflussen. Es gibt etliche biologische Frauen mit sehr tiefen Stimmen. Annette erfuhr, dass sie den Stimmbruch nicht rückgängig machen konnte. Sie entschloss sich daher, mit der Logopädin an dem zu arbeiten, was möglich war und sich über alles andere nicht allzu viel zu sorgen.

Sie war guter Dinge. Ihre Lebensgeschichte hatte sie fertiggestellt. Dr. Reichert schlug vor, Annette sollte den Bericht einem Verlag anbieten oder ihre Geschichte selbst als Buch zu veröffentlichen. Gerade Lisas tragische Geschichte war es wert, gelesen zu werden. Die Idee klang nicht so schlecht, fand Annette. Diese vielen Frauen, die sie inzwischen in der Selbsthilfegruppe kennengelernt und von denen sie gehört hatte - den wenigsten ging es so gut wie ihr. Kaum jemand konnte aus eigener Tasche passende Therapeuten, Ärzte oder Gutachter bezahlen. Sie mussten sich alles, jeden einzelnen Schritt, von den Krankenkassen hart erkämpfen und am Ende mit dem vorlieb nehmen, was sie von dort bekamen. Und wenn es ein Dr. Loran war ...

Die Hormontabletten zeigten schon sehr bald ihre Wirkung. Annette verhielt sich an dem einem Tag mal himmelhochjauchzend und heulte an den anderen Tagen wie ein Schlosshund. Sie litt unter ständigen Stimmungsschwankungen und Gefühlsausbrüchen und meinte zu Magda, sie hätte das Gefühl, ihre gesamte Pubertät noch einmal zu erleben.
Die Mutter merkte bald, was sie sich ins Haus geholt hatte. Ihre Tochter gebärdete sich tatsächlich mehr und mehr wie ein Teenager. Magda ertappte sich dabei, ihr am Abend die Uhrzeit für ihre Heimkehr anordnen zu wollen und konnte gerade noch rechtzeitig den Mund schließen. Sie kam nicht mehr dazu, um ihren Mann zu trauern oder sich um ihre eigenen kleinen Wehwehchen zu kümmern. Annette hielt ihre Mutter mit ständig neuen Ideen auf Trab, kleidete sich teilweise ziemlich unpassend und nicht ihrem biologischen Alter entsprechend, so dass ihre Mutter sich oft genötigt sah, einzugreifen.
Die Epilation des sehr starken Bartes gestaltete sich mühevoll und schmerzhaft. Leider halfen da keine weiblichen Hormone. Es würde viele Sitzungen brauchen, bis ihr Gesicht einigermaßen glatt wäre. Zudem sollte sich Annette einen Dreitagebart stehen lassen, damit genügend Angriffsfläche für die Entfernung der Haarwurzel vorhanden war. Jedes Haar musste mit samt Wurzel erfasst werden.
Um sich deshalb vor den Blicken anderer Menschen auf der Straße zu schützen, wickelte sie sich einen Schal um Kopf und Mund. Im Hochsommer glaubte sie dadurch noch mehr aufzufallen und beobachtete Passanten unterwegs argwöhnisch. Sie litt unsäglich unter ihrem Aussehen und traute sich schon bald nicht mehr aus dem Haus. Eine Epilation war langwierig, hörte sie von Frauen, die sie bereits hinter sich hatten. Annette fragte nach und fiel aus allen Wolken.
Das sollte noch mindestens ein ganzes Jahr so weitergehen? Die Aussicht stürzte sie in eine leichte Depression.
Als positiver Nebeneffekt blieben ihr allerdings die Haare auf dem Kopf erhalten. Eine Perücke war nicht notwendig und ihr Friseur zauberte ihr einmal wöchentlich eine hübsche Frisur. Sie ging mit ihrer Mutter zur Maniküre und lernte, sich richtig zu schminken. Die epilationsfreie Zeit ließ sich dadurch immerhin gut überbrücken.
Die Hormone taten ein Übriges zu ihrem Aussehen. Das herbe Männergesicht verschwand, ihre Züge wurden weicher. Die Fettverteilung änderte sich langsam. Sie bekam rundere Hüften und Oberschenkel. Der Busen strammte. Nach und nach entwickelten sich kleine Brüste.
Magda war zufrieden. Die erfahrene Frau versuchte, ihre Tochter davon zu überzeugen, es dabei zu belassen. Sie führte lachend ihre eigene Brust an, die auch nicht groß war und trotzdem ihrem verstorbenen Vater stets gefallen hatte.
Annettes überdrehtes Teenagerverhalten legte sich mit der Zeit. Die meisten Transsexuellen erleben bei der Geschlechtsangleichung ihre Pubertät noch einmal neu. Doch die Entwicklung läuft schneller ab, als bei Jugendlichen. Annette wurde „erwachsen“. Sie fühlte sich wieder in ihre Studentenjahre zurückversetzt. Der Wunsch nach einem eigenen Pferd nahm Gestalt an. Sie wollte alles über Pferdehaltung wissen und las viel darüber. Es gab Unmengen an Fachliteratur zu dem Thema. Magda unterstützte sie, meinte aber, sie sollte erst ihre gesamte körperliche Entwicklung abschließen, um genug Zeit für das Tier aufbringen zu können. Annette verstand den Einwand der Mutter und beschränkte sich zunächst auf die Lektüre zu ihrem Hobby. Trotzdem fuhr sie oft zu einem nahegelegenen Reitstall und schaute den Reitern beim Unterricht zu. Sie spürte, dass große Veränderungen in ihr stattfanden und dankte Magda durch kleine Aufmerksamkeiten. Ihre Mutter hatte es wirklich nicht leicht mit ihr. Blumensträuße und Theaterkarten kamen deshalb genau richtig an.

Über die geschlechtsangleichende Operation erhielt Annette durch die anderen Frauen aus der Gruppe viele Informationen. Sie telefonierte deswegen oft mit Ines, denn die Zeit der Angleichung war sehr schwer und Annette selbst bildete dabei keine Ausnahme.
Weil sie es aber wirtschaftlich und finanziell viel leichter hatte, fasste sie den Entschluss, wie Ines in einer Selbsthilfegruppe tätig zu werden. Anstatt sich die wichtigen Informationen übers Internet besorgen oder sich auf die Erzählungen anderer Betroffener verlassen zu müssen, dachte Annette daran, eine eigene Beratungsstelle aufzubauen, in der alle, die mit ihrer Geschlechtsidentität Probleme hatten, egal ob Mann oder Frau, umfassende Hilfe erhalten konnten. Sie wollte unbürokratisch und kostenlos juristischen Beistand anbieten, Kurse zur Selbstfindung veranstalten und die Hilfesuchenden individuell begleiten. Dazu wollte sie mit Psychologen, Gutachtern und Ärzten zusammenarbeiten und alle anderen nötigen Fachrichtungen wie Logopäden oder Epilation einbeziehen.
Magda, die selbst Wohltätigkeitsveranstaltungen ins Leben gerufen hatte und viel Erfahrung beim Sammeln von Spendengeldern besaß, begrüßte den Gedanken. Annette könnte einen Teil ihres nicht unbeträchtlichen Erbes in ein Stiftungsvermögen einzahlen und so die Finanzierung auf eine feste Grundlage stellen, meinte sie.
Annettes Psychotherapeutin Dr. Margit Littmann erwies sich als Koryphäe auf ihrem Fachgebiet. Sie unterstützte nicht nur diese hervorragende Idee, sondern begleitete Annettes psychische Veränderungen durch alle Höhen und Tiefen. Sie half ihr, als Frau eine stabile Persönlichkeit zu werden. Gernot Reichert und Frau Wenzel fertigten im Spätherbst die Gutachten.
Annette hatte sich entschlossen, zunächst den von allen Frauen favorisierten Dr. Charon in Paris als Operateur aufzusuchen. Es gab auch in Deutschland gute Ärzte für die Operation. Magda riet ihrer Tochter deswegen zur Ruhe. Man sollte noch mehr Erkundigungen von bereits operierten Frauen einholen und alle in Frage kommenden Ärzte erst einmal selbst kennenlernen.
Die jeweilige Komplikationsrate und die Operationstechnik zu kennen war wichtig. Magda studierte Berichte zu den Methoden aufmerksam. Am Schluss tendierte auch sie zu Dr. Charon und ließ sich zunächst einen Termin für ein Vorgespräch geben. Sie verband den Besuch mit einem einwöchigen Kurzurlaub, suchte zusammen mit Annette ein schönes Hotel aus, und bat Martins Sekretärin, zwei Flüge zu buchen.
Ende November brachen Mutter und Tochter nach Frankreich auf und ließen sich vom Flair der Seine-Metropole verzaubern. Dr. Charon überzeugte als ruhiger Arzt, ein Künstler seines Faches, kompetent und vor allem den Frauen gegenüber äußerst charmant.
Als sie aus der Praxis kam, schwärmte Annette geradezu von ihm. „Die Bilder sahen allesamt sehr ansprechend aus. Ganz so, wie es mir die anderen bei sich gezeigt und erzählt haben. Was meinst du, wollen wir gleich den Termin festlegen oder sollen wir die drei anderen Ärzte in Deutschland auch noch besuchen?“, fragte sie Magda, als beide am Nachmittag über den Champs-Elysees schlenderten.
„Auf jeden Fall. Du musst immer zwei Meinungen einholen. Der Teufel steckt manchmal im Detail, obgleich mir nicht nur der Operateur gefällt, sondern eigentlich alles Hand und Fuß hatte, was er erzählte und uns zeigte. Lass uns jetzt Paris genießen und Anfang Dezember klappern wir die deutschen Ärzte ab“, entgegnete Magda zufrieden.
In der zweiten Dezemberwoche saßen beide Frauen mit Magdas Gynäkologin zusammen. Annettes Körper hatte sich inzwischen hervorragend entwickelt. Sie sprach gut auf die Hormonbehandlung an. „Leichte Stimmungsschwankungen sind normal“, meinte die Ärztin. „Alles in allem kann sich das Ergebnis sehen lassen. Sie sind nun eine schöne junge Frau geworden. Ganz gleich, wer Sie operiert, ist der Eingriff nicht rückgängig zu machen. Komplikationen können nach jeder Operation auftreten, so etwas ist nie vorhersehbar und individuell verschieden. Sie werden Ihre Scheide regelmäßig dehnen müssen. Das erfordert Disziplin und Durchhaltevermögen. Ein Spaß wird der Aufenthalt im Krankenhaus nicht. Natürlich werde ich Sie hier weiter betreuen. Haben Sie sich inzwischen für einen Operateur entschieden?“
Annette nickte. „Ja, ich werde am dritten Januar nach Paris fliegen, der Eingriff findet am fünften Januar statt.“ Nun war es offiziell. Magda nahm Annettes Hand. „Es ist allein deine Entscheidung, mein Kind. Ich war und bleibe nur deine Beraterin.“
Die Ärztin lächelte. „Sie haben mit Dr. Charon eine gute Wahl getroffen. Ich hätte das aber für die anderen Kollegen genauso gesagt. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Dann kommen Sie am 29. Dezember bitte zur Blutabnahme und zum Röntgen in die Praxis, damit Sie die notwendigen Unterlagen dabei haben. Ich werde in Gedanken bei Ihnen sein. Rufen Sie mich an, wenn Sie wieder telefonieren können. Über die Nachsorge informiert mich der Kollege dann schriftlich. Ich freue mich über ein Telefonat, falls noch etwas Besonderes zu beachten ist.“
Die Frauen verabschiedeten sich und wünschten einander schöne Weihnachten. „Das wird das letzte Weihnachtsfest mit männlichem Körper sein. Nächstes Jahr feiere ich komplett als Frau“, lachte Annette, nachdem Mutter und Tochter die Arztpraxis verlassen hatten.

Annette begann bereits vor den Feiertagen mit den notwendigen Reisevorbereitungen. Magda wollte mitfliegen und ließ sich von Martins Sekretärin wieder in ihr Hotel einbuchen. An Heilig Abend saß die Familie, nach dem obligatorischen Friedhofsbesuch und dem anschließenden Kirchgang, beim gemeinsamen Weihnachtsessen zusammen. Julian sprengte die Veranstaltung mit seiner Neugierde auf die Geschenke. Er hatte sein Weihnachtsgedicht, das er in der Schule lernen musste, noch nie so schnell aufgesagt, wie in dem Augenblick, als er vor dem großen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer der Villa stand und im Augenwinkel bereits sein erträumtes knallrotes Elektroauto erblickte.
Ganz so schnell kam er damit aber nicht in den Garten. Es klingelte an der Tür und der Weihnachtsmann persönlich besuchte den jüngsten männlichen Spross der Familie. Julian ließ sich nicht beirren und sagte brav noch ein Gedicht auf. Der Weihnachtsmann verschwand wieder, denn er musste noch mehr Kinder besuchen. Annette sollte sich einen Mantel anziehen. Julian bestand darauf, dass sie bei der Probefahrt seines Luxusautomobils anwesend war. Das Fest wurde trotz der besinnlichen Augenblicke, in denen die Erwachsenen des verstorbenen Firmenchefs gedachten, schön.
Die Frauen aus der Duisburger Gruppe riefen Annette an, wünschten ihr Glück für die OP und frohe Weihnachten. Die Hamburger hatten sich etwas Besonderes einfallen lassen. Nach dem üblichen Vorweihnachtstreffen verabredete man sich zur gemeinsamen großen Silvesterparty. Annette hatte sich angeboten, für die Dekoration zu sorgen. Ein kaltes Büfett baute das Lokal auf, das auch die Getränke bereitstellte und einen Discjockey für die Musik anheuern wollte.
Mit zwei weiteren Frauen hatte sich Annette für den Nachmittag verabredet, um den Saal zu schmücken. Am Vormittag ließ sie sich zunächst mit Magda von Herrn Sander zum Friedhof fahren. Still standen sie am Grab des Vaters.
Die Mutter wollte den Jahreswechsel bei Martin in der Villa verbringen. Sie würden um Mitternacht telefonieren. Annette nahm die S-Bahn nach Hause und beschloss, bereits nachmittags ihr Auto in der Garage stehen zu lassen. Beim Dekorieren würde es sicher schon etwas Sekt geben.

Sie griff sich deshalb gegen zwei Uhr gut gelaunt ihre Tüten mit Luftschlangen und Girlanden und verließ das Stadtpalais zu Fuß. Die Haltestelle der U- Bahn war nicht weit entfernt. Als sie nach vier Stationen ausstieg, kam sie an einer Gruppe Jugendlicher vorbei, die ein Feuerwerk abbrannten. Annette lächelte, dachte sich nichts weiter und wollte an den drei Jungen im Alter von ungefähr sechzehn bis achtzehn Jahren ungeniert vorbeispazieren.
„Prost Neujahr“, rief ihr einer der Burschen zu. Annette lachte arglos. „Euch auch“, meinte sie. Lustig. Ihre Stimme mochte in diesem Augenblick wohl einen tieferen Klang als sonst angenommen haben. Sie trug eine Hose und weibliche Kleidung, war sorgfältig geschminkt und machte alles andere als eine verräterische Figur.
Trotzdem hatte sie die Jugendlichen, die allem Anschein nach leicht angetrunken waren, irritiert. „Eh, bist du eine Transe, oder was?“, herrschte sie einer der Burschen plötzlich an. Sie kamen immer näher. „Hallo Baby, bist du ein Kerl? Hihi“, meinte nun auch ein anderer und begann, Annette am Arm zu betatschen.
Wie unangenehm! Annette spürte Gefahr. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, das die Situation brenzlig werden könnte. Sie wollte schnell weitergehen und blickte sich hilflos um. Auf der Straße war niemand sonst zu sehen. Das Lokal lag etwas abgelegen, von Bäumen umgeben am Fleet. Der Weg dorthin führte durch eine wenig bewohnte Gegend. Die Jungen begannen sie zu schubsen und zogen ihr die Jacke auf. Sie entrissen ihr die Tüten. Annette bekam Angst und wollte weglaufen. Kurz dachte sie nach. Früher hätte sie sich den Burschen in den Weg gestellt und den Spieß umgedreht. Aber da war sie äußerlich ein Mann gewesen. Ihr wurde schlagartig ihre körperliche Unterlegenheit als Frau bewusst. Annette fühlte zum ersten Mal in ihrem Leben Angst. Das war anders, als für eine Schwimmprüfung vom Dreimeterbrett springen zu müssen. Selbst das Springreiten löste diese tiefe Furcht nicht aus. Damals war sie selbst die Akteurin. Sie bestimmte, was sie tat. Jetzt aber erlebte sie Abhängigkeit vom Wohlwollen anderer und das machte sie hilflos.
„He, bleib hier, Süße. Zeig mal, was du bist, dann lassen wir dich auch in Ruhe“, sagte der Junge, der sie gleich zu Beginn angefasst hatte. Panik erfasste sie. Annettes Muskeln hatten sich bereits zurückgebildet und ihre Kraft war sehr viel weniger geworden. Sie wusste, dass sie sich gegen die drei kräftigen Bengel nicht würde wehren können. Todesangst machte sich breit. Sie dachte an die Segelregatten, die oft sehr gefährlich waren. Damals kam es nicht so sehr auf körperliche Kraft an, sondern auf Geschicklichkeit, Wissen um Windrichtung und Wellenschlag. Aber auch auf Mut. Sie besann sich und mahnte sich selbst zur Ruhe. Die Jungs sind noch halbe Kinder, sie war ihnen geistig überlegen und musste ihre Gedanken in eine andere Richtung lenken. Ablenkung, fiel ihr ein. Ich muss aktiv werden und darf das Feld nicht diesen Halbstarken überlassen. Vielleicht konnte sie mit Worten eine Eskalation der Situation verhindern. Annette lebte zwar nicht mehr als Mann, aber ihr Anwaltsgehirn war dasselbe geblieben. Sie setzte auf Deeskalation und sah die drei direkt an, als sie sprach.
„Bitte, ich hab euch nichts getan. Gebt mir meine Tüten wieder und lasst mich gehen, ja? Ich bin nicht so stark wie ihr. Ihr wollt euch doch sicher nicht an einem Schwächeren vergreifen, das macht keinen Spaß und es ist Silvester“, stammelte sie zitternd und blickte die Jungen flehend an. Irgendwie mussten sich die drei davon angesprochen gefühlt haben. Sie wendeten sich wieder ihrer Knallerei zu. „Hier, Transe, nimm deine Luftballons und hau ab. Kommt, Leute, lasst uns weiter ballern!“, sagte der Älteste aus der Truppe gönnerhaft und nahm sich schnell einige Luftballons und Papierschlangen heraus. Grinsend drückte er Annette ihre Tüten in die Hand. Danach gaben die jüngeren Burschen den Weg frei. Annette hauchte erleichtert: „Okay, danke und guten Rutsch“, und ging, so schnell sie konnte, weiter.
Uff! Gott sei Dank. Was für ein schreckliches Erlebnis! dachte sie. Als sie in der Gaststätte ankam, erzählte sie zitternd, was ihr gerade widerfahren war. Die beiden bereits anwesenden Frauen hörten empört zu. Die Wirtin meinte, eigentlich müsse man so etwas anzeigen, aber am Silvesterabend wäre man auch als normale Frau gegen derartige Pöbeleien nicht gefeit. Es war ja glücklicherweise nichts weiter passiert. Annette sollte erstmal ein Gläschen zur Beruhigung trinken. Einen Moment später standen vier Gläser Kirschlikör auf dem Tisch und die resolute Frau stellte die Flasche nicht erst ins Regal zurück.
Im Laufe des Abends kam wieder Stimmung auf. Annette feierte ausgelassen bis zum nächsten Morgen. Für die Heimfahrt teilte sie sich mit zwei anderen Frauen ein Taxi.
Als sie sich mit Magda über den Vorfall unterhielt, erschrak diese heftig und malte sich aus, was alles hätte passieren können. Gegen unkontrollierte Aktionen von Rabauken und Idioten, wie sie sich ausdrückte, war man machtlos. Andererseits dürfte man nicht klein bei geben, sondern sich selbstbewusst zeigen und an die Vernunft der Angreifer appellieren, wie Annette es getan hatte. Magda nahm ihre Tochter in den Arm. „So etwas kann auch Männern passieren. Versuche dich jetzt abzulenken. Leg dich hin und lies in deinen Pferdebüchern oder überlege, was du sonst noch alles mit nach Paris nehmen willst. Du brauchst nun deine ganze Kraft für die Operation“, sagte sie liebevoll. Der Zuspruch ihrer Mutter fiel bei Annette auf fruchtbaren Boden. „Du hast ja Recht, Mama, wie immer. Was täte ich bloß ohne dich?“, erwiderte sie dankbar. Ihre Mutter hatte wirklich große Mühe mit ihr. „Wie soll ich dir das jemals zurückgeben?“ fragte sie und drückte Magda herzlich an sich. „Das weiß ich beim besten Willen auch nicht, du kleines hilfloses Reh. Eigentlich solltest du mich stützen und nicht umgekehrt. Aber was tut man nicht alles als Mutter für seine einzige Tochter“, witzelte die und schob Annette zur Treppe.

Um acht Uhr am Morgen des dritten Januar, hob die Maschine mit den beiden auf dem Flughafen Hamburg-Fuhlsbüttel in Richtung Paris ab. Annette hatte wider Erwarten gut geschlafen und den hässlichen Vorfall am Silvesterabend vergessen. Ein neues Leben lag vor ihr und sie fragte sich, welche Gefühle sie nach der Operation erwarten würde. In ihren Träumen sah sie sich oft zwischen zwei Säulenhallen stehen. Sie durchschritt die eine Halle, deren Portal sich hinter ihr schloss, um in den nächsten Saal zu treten. Der Eindruck glich dem einer neuen Geburt. Ein anderes Mal schoben sich über ihrem Kopf zwei riesige Platten ineinander, die bisher getrennt waren und sich nun passgenau Nut auf Nut zusammenfügten. Dabei fiel ihr die deutsche Einheit ein und auch bei ihr fügte sich zusammen, was zusammen gehörte.
Während des Fluges lief wieder ihre Kindheit vor ihren Augen ab. Sie wollte schon immer ein Mädchen sein, fühlte sich als Junge, in der zugedachten Rolle, nicht wohl in der Haut.
Wenn sie es richtig überlegte, war sie eigentlich nie ein Mann gewesen. Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Geburt, erwartete sie nun die Zweite.
Wahnsinn! Sie durfte endlich in ihrem gefühlten Geschlecht leben.
Ihre Seele frohlockte bei dem Gedanken, bald in die ersehnte Freiheit fliegen zu können. Annettes männlicher Körper hatte all die Jahre mehr einem Gefängnis geglichen. In zwei Tagen würde nun auch er sich dem einer Frau annähern.
Annette zitterte leicht. Der Weg war richtig und doch musste ein Teil von ihr dafür sterben. Sie war als Junge sozialisiert worden. Nicht alles, was sie in den vergangenen Jahren als Knabe und später als Mann erlebt hatte, war deswegen gleich schlecht gewesen. Ihr innerer Zwiespalt löste sich endlich. Sie fühlte sich nicht mehr zerrissen.
Sie konnte Jürgen nicht töten. Er hatte ihr im vorigen Leben als treuer Begleiter gedient und sie mochte trotz allem die Zeit mit ihm niemals missen. Es erschien ihr, als würde ihr eine besondere Gnade zuteil. Sie gehörte zu den wenigen Menschen, denen zwei Leben geschenkt wurde. Und beiden, sowohl Jürgen als auch Annette, gebührte ein Platz darin.
Durch die Operation wurde vielleicht nicht unbedingt alles einfacher, aber ihr Leben gewann an Klarheit dazu.
Sie hatte sich in den vergangenen Wochen oft gefragt, warum ausgerechnet sie für einen solchen Weg auserwählt worden war und keine Antwort darauf gefunden. Vielleicht gab es auch keine.
Sie gehörte lediglich zur besonderen Vielfalt, die das Leben auf der Erde hervorgebracht hatte. Es gab so viele Beispiele aus der Tier- und Pflanzenwelt für einen Geschlechtswechsel und mannigfaltige Formen des Zusammenlebens, dass sie an die Schamanen der Naturvölker nicht mehr denken musste.
Annette sah zufrieden und im Einklang mit sich selbst aus dem Fenster. Das Flugzeug setzte zur Landung in der französischen Hauptstadt an. Ein tiefer Respekt vor der Schöpfung und große Dankbarkeit erfasste sie. Instinktiv legte sie die Hände zum Gebet ineinander.
 



 
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