Prolog
Alany, England, November 1300
Es war ein stürmischer Abend Ende November als Anna einem Fremden die Tür öffnete. Das erste, was sie sah, waren die dunkelbraunen Augen des Mannes, der sich in einen schwarzen Umhang hüllte. Sie sah ihn erstaunt an.
„Was wollt Ihr?“ Fragte Anna ernst. Der Fremde sah sie nur starr an.
„Ich brauche eine Unterkunft. Nur für diese Nacht. Der Sturm ist zu stark.“ Anna fiel auf, dass der Mann einen starken Französischen Akzent hatte. Sein Englisch aber war einwandfrei.
„Ich bitte Euch.“
Anna sah kurz nach hinten zu ihren drei Kindern, die, in dicke Decken gehüllt, auf dem großen Familienbett lagen. Dann sah sie zu dem Fremden zurück. Seine braunen Haare waren nass, über sein Gesicht flossen Regentropfen. Schließlich siegte ihr Mitleid.
„Kommt herein, mein Herr. Wärmt Euch an dem Feuer und macht es Euch ge-mütlich.“ Sagte sie, öffnete die Tür ein Stück und wies mit der linken in den warmen Innenraum. Dies ließ sich der Fremde nicht zweimal sagen. Er trat ein und ging sogleich zu der Feuerstelle in der Mitte des Raumes, wo er seine Hände wärmte. Anna schloss die Tür hinter sich und trat auf den Mann zu. Sie betrach-tete ihn von oben bis unten. Er hatte lange Haare, die er zu einem Zopf gebunden hatte, am Kinn trug er einen kleinen Bart. Die Hände, die er über die Flammen hielt, waren groß und kräftig, allerdings schon ziemlich zerschlissen, was darauf schloss, dass er vielleicht Handwerker oder ein Krieger war. Um seinen Hals baumelte ein Rosenkranz mit einem goldenen Kreuz, er schien also wohlhabend zu sein. In diesem Moment sah er sie an. Ein schwaches Lächeln bildete sich an seinen schmalen Lippen. Sie lächelte verlegen zurück. ‚Er sieht George sehr ähnlich‘ dachte sie bei sich. Bei dem Gedanken an ihren vor gut zwei Monaten verstorbenen Ehemann wurde ihr unwohl zumute.
„Wollt Ihr vielleicht Euren Mantel ausziehen? Wir könnten ihn zum trocknen aufhängen, wenn Ihr mögt.“ Sagte Anna. Er sah sie kurz an und nickte dann. Anna ging zu ihm hinüber und löste die Schleife an seinem Kragen. Er sah ihr dabei zu, wie sie mit ihren geschickten Fingern den Knoten öffnete, den selbst er nur mit viel Geduld entwirren konnte. Anna nahm ihm den Mantel von den Schultern. Darunter kam ein weiterer Umhang zum Vorschein. Dieser war wohl früher einmal strahlend weiß gewesen zu sein, jetzt war er hellgrau verfärbt. Auf der linken Brust war ein riesiges rotes Kreuz aufgenäht. Sofort wusste Anna, dass es sich um einen Templer handelte, der vor ihr stand.
„Achtet nicht darauf.“ , Sagte der Fremde, als er Annas erstaunten Blick sah, „Ich bin nicht in kämpferischer Absicht hier.“ Anna antwortete nicht, sondern ging zu einem Haken, der an der Wand hing, und hängte den Umhang darüber. Dann drehte sie sich langsam um. Anna hatte noch nie einen Templer gesehen, geschweigedenn in ihrem eigenen Haus. Sie hatte nur oft von dem gehört, was dieser kriegerische Orden im Heiligen Land vollbrachte.
„Wollt Ihr vielleicht etwas trinken, mein Herr?“ fragte Anna leise, um sich ab-zulenken.
„Gerne. Aber bitte nennt mich nicht ‚Herr‘. Nennt mich einfach Guy, wenn es Euch recht ist.“ Antwortete er mit einem Lächeln.
„Also gut, Guy. Ich bin Anna.“ Darauf ging sie zu einem Behälter hinüber, aus dem sie mit einer Kelle Wasser in einen Becher aus Holz füllte.
Guys Blick fiel auf die drei schlafenden Kinder auf dem Lager. Sie alle hatten hellbraunes Haar und sahen gut genährt aus. Sie schliefen friedlich. Anna reichte ihm den Becher. Das Wasser schmeckte wunderbar, es war klar und kalt.
„Zieht Ihr Eure Kinder allein auf, Anna?“ fragte Guy.
„Ja. Seit mein Mann tot ist. Er starb vor zwei Monaten an einer Lungenentzün-dung, es war schnell vorbei mit ihm.“
„Das tut mir Leid für Euch.“ Sie schwiegen kurze Zeit.
„Und Ihr? Was ist mit Eurer Familie, Guy?“ fragte Anna ihn.
„Ich wurde früh zu den Templern gegeben, mit zehn Jahren vielleicht. Ich kann mich kaum noch an meine Mutter erinnern. Nur ihre langen, goldenen Haare sind mir bis jetzt noch in Erinnerung geblieben. Ihr Name war Claudette, glaube ich. Mein Vater, Etienne, war ebenfalls ein Templer. Ich sehe ihm heute sehr ähnlich. Außerdem hatte ich noch drei Geschwister. Zwei Brüder, Jehan und Bernard, sowie eine Schwester, Marie. Von den Templern wurde ich zu Enthalt-samkeit und Abgeschiedenheit erzogen, ich durfte meine Familie nicht mehr sehen und war im heiligen Land unterwegs. Zuletzt war ich Kommandeur von Tripolis und Antiochia. Und vor etwa zwei Wochen bin ich hier in England an-gekommen.“ Anna hatte ihm gespannt zugehört. Noch nie hatte sie solche Ge-schichten gehört.
„Ihr habt also ein sehr abenteuerliches Leben, nicht wahr?“ Guy sah sie lä-chelnd an.
„War Euer Leben kein Abenteuer?“
„Nein, ich bin hier in Alany geboren und aufgewachsen, habe hier geheiratet und meine Kinder bekommen. Ich habe nur das Leben einer einfachen Bäuerin geführt.“
„Wie heißen Eure Kinder?“
„Die älteste, sie ist fünf, heißt Joanne. Der kleine Junge, Ian, ist drei und meine jüngste, Elaine, ist zwei. Ich bin also niemals allein.“
„Wollt Ihr nicht noch einmal heiraten?“ fragte Guy vorsichtig.
„Nein. Ich habe George am Sterbebett versprochen, nach seinem Tod nicht mehr zu heiraten. Auch wenn er nicht mehr da ist, so bin ich noch immer mit ihm verbunden. Unser Ehering ist das Zeichen dafür.“ Anna blickte ihn ernst an. Er hörte ihr aufmerksam zu und sah in ihre blauen Augen. Diese Frau war etwas besonderes, das wusste er.
„Brauchen die Kinder nicht einen Vater? Ich meine, der Junge könnte von ihm vieles lernen. Wie man kämpft, wie man jagt, wie man ein Feld bestellt…“
„Das wird er wohl mit den anderen Jungen des Dorfes lernen müssen. Dafür ist er jetzt noch viel zu klein.“ unterbrach Anna ihn.
„Mutter?“ Eine leise, aber klare Stimme kam vom Lager her. Anna wandte ihren Kopf ab. Vor ihnen stand ein kleines Mädchen mit zotteligen Haaren und einem dünnen Nachthemd. Es rieb sich verschlafen in den Augen und sah den Fremden an.
„Wer ist das, Mutter?“ fragte es, worauf Anna auf das Mädchen zu ging, sich vor ihr hinhockte und auf Guy zeigte.
„Das ist Guy, ein Mann aus Frankreich. Er ist hier, weil es draußen so stür-misch ist. Guy wird heute nacht hier schlafen und morgen früh wird er uns wie-der verlassen. Er ist wahrscheinlich schon weg, wenn du morgen aufwachst.“
„Und warum bleibt er nicht hier, bei uns? Ich vermisse Vater so sehr.“ Anna sah Guy an. Er lächelte kurz, bevor er den Becher erneut an die Lippen setzte.
„Das kann er nun einmal nicht, Joanne. Er hat noch eine sehr lange Reise vor sich und kann nicht hier bleiben. Und Vater wird uns allen für immer fehlen. Aber er wird in unser aller Herz sein, das verspreche ich dir. Und jetzt geh wie-der ins Bett, Joanne. Morgen wird es wieder ein anstrengender Tag.“ Anna drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die linke Wange, kurz darauf verschwand das Mädchen wieder.
„Entschuldigung, Guy. So verhält sie sich sonst nie.“ Sagte Anna.
„Könnt Ihr Euch nicht vorstellen, warum sie es getan hat?“ fragte er. Anna sah ihn verwirrt an.
„Nein... Sie hat das heute zum ersten Mal gemacht.“
„Sie unterdrückt ihre Gefühle, bemerkt Ihr das nicht? Sie vermisst ihren Vater schrecklich und zerreißt sich innerlich. Ihr versucht Eure Gefühle zu unterdrü-cken, damit Eure Kinder nicht bemerken, wie schlecht es Euch geht. Der Verlust des Vaters war für sie noch schlimmer als der Verlust des Ehemannes für Euch.“ Anna hatte ihn die ganze Zeit ernst angesehen, ihre Augen funkelten wütend.
„Ihr könnt doch gar nicht wissen, wie das ist! Ihr habt noch nie eine Ehefrau verloren, da Ihr ja keine haben dürft! Ich habt noch nie diese Trauer und den Schmerz gespürt, den ich gerade durchleben muss! Die letzten zwei Monate wa-ren ein einziger Alptraum. Ständig fragten mich die Kinder, wo denn ihr Vater wäre, und immer musste ich ihnen das gleiche sagen: Euer Vater ist auf einer langen Reise, die sehr lange dauern wird. Wisst Ihr eigentlich, wie weh es tut, seinen eigenen Kindern zu sagen, dass sie ihren Vater nie wieder sehen wer-den?!“ Anna hatte mehr geflüstert als geschrieen, denn sie wollte die Kinder nicht wecken. Aber Guy war erstaunt. Er hatte nun erfahren, wie sehr sie unter dem Tod ihres Mannes litt. Vorsichtig stellte er den Becher auf einen Tisch und ging zwei Schritte auf sie zu.
„Es tut mir leid, Anna. Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist. Ich bin nicht hier her gekommen, um Euch Vorwürfe zu machen. Es ist schließlich nicht mei-ne Sache.“
„Und warum tut Ihr es dann? Ich komme schon alleine zurecht. Und nun will ich Euch bitten, dass Ihr zu Bett geht. Ich bin müde.“ Anna wandte sich ab und ging zu ihrem Lager, wo sie sich hinlegte. Guy stand eine ganze Weile lang noch wie angewurzelt an der selben Stelle, bevor er es ihr gleichtat.
Mitten in der Nacht wurde er plötzlich von jemandem geweckt.
„Guy? Ich muss mit Euch sprechen.“ Obwohl er noch halb im Schlaf war, konnte er erkennen, dass es sich um Annas Stimme handelte. Langsam drehte er sich um und öffnete die Augen. Er sah Annas Gesicht über sich, ihre Augen sa-hen verweint aus. Er richtete sich auf.
„Was ist los, Anna?“
„Ich wollte mich bei Euch entschuldigen. Ich habe nachgedacht und habe jetzt verstanden, was Ihr mir sagen wolltet. Ich unterdrücke meine Gefühle und will sie nicht zeigen. Und meine Kinder lüge ich an...das geht nicht mehr.“ Guy sah sie die ganze Zeit nur an und beobachtete ihre blauen Augen.
„Ich habe gewusst, dass Ihr es verstehen werdet. Irgendwann.“ Sagte er leise.
„Und ich weiß jetzt, warum Ihr hier seid.“ Sagte Anna.
„Warum?“
„Ich denke, der Herr hat Euch geschickt. Er wollte mich von meiner Trauer und meinem Schmerz erlösen. Mit Euch.“
„Das glaubt Ihr?“
„Ja.“ Vorsichtig hob er seine Hand und legte sie an ihre linke Wange. Sie er-schrak ein wenig, denn seine Hand war kühl.
„Vielleicht habt Ihr recht. Vielleicht bin ich vom Herrn gesandt.“ Flüsterte er. Er sah sie an. Sie sah in seine dunklen Augen und überwand ihre Scheu. Lang-sam kamen sie sich näher. Als sich ihre Lippen berührten verflog all ihre Angst und Trauer, denn sie wusste, dass es richtig war, was sie tat.
Sie liebten sich lange und zärtlich, alles um sie herum war vergessen. Anna vergaß ihre Trauer, Guy vergaß seine Verfolger und seine Flucht. Für eine ge-wisse Zeit waren sie frei.
Als Anna am nächsten Morgen aufwachte, war das erste, was sie bemerkte, dass Guy nicht mehr da war. Einzig sein wertvoller Rosenkranz lag neben ihr auf dem Lager. In diesem Moment wusste sie, dass sie ihn wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Und sogleich kehrte all ihre Trauer und ihr Schmerz zurück, den sie für nur so kurze Zeit vergessen hatte.
Nur kurze Zeit später bemerkte sie, dass sie ein Kind erwartete. In all den Mo-naten nach ihrer gemeinsamen Nacht, in der ihr Leib sich anfing zu wölben, ver-gaß sie Guy nie. Niemand in Alany wusste, dass sie von einem Templer auf der Flucht schwanger war.
Im August des Jahres 1301 brachte sie einen gesunden und strammen Jungen zur Welt, dem sie den Namen ihres Großvaters gab: Owen, der junge Krieger.
Anna erzählte Owen nie, wer sein Vater war. Er hatte nie danach gefragt.
Alany, England, November 1300
Es war ein stürmischer Abend Ende November als Anna einem Fremden die Tür öffnete. Das erste, was sie sah, waren die dunkelbraunen Augen des Mannes, der sich in einen schwarzen Umhang hüllte. Sie sah ihn erstaunt an.
„Was wollt Ihr?“ Fragte Anna ernst. Der Fremde sah sie nur starr an.
„Ich brauche eine Unterkunft. Nur für diese Nacht. Der Sturm ist zu stark.“ Anna fiel auf, dass der Mann einen starken Französischen Akzent hatte. Sein Englisch aber war einwandfrei.
„Ich bitte Euch.“
Anna sah kurz nach hinten zu ihren drei Kindern, die, in dicke Decken gehüllt, auf dem großen Familienbett lagen. Dann sah sie zu dem Fremden zurück. Seine braunen Haare waren nass, über sein Gesicht flossen Regentropfen. Schließlich siegte ihr Mitleid.
„Kommt herein, mein Herr. Wärmt Euch an dem Feuer und macht es Euch ge-mütlich.“ Sagte sie, öffnete die Tür ein Stück und wies mit der linken in den warmen Innenraum. Dies ließ sich der Fremde nicht zweimal sagen. Er trat ein und ging sogleich zu der Feuerstelle in der Mitte des Raumes, wo er seine Hände wärmte. Anna schloss die Tür hinter sich und trat auf den Mann zu. Sie betrach-tete ihn von oben bis unten. Er hatte lange Haare, die er zu einem Zopf gebunden hatte, am Kinn trug er einen kleinen Bart. Die Hände, die er über die Flammen hielt, waren groß und kräftig, allerdings schon ziemlich zerschlissen, was darauf schloss, dass er vielleicht Handwerker oder ein Krieger war. Um seinen Hals baumelte ein Rosenkranz mit einem goldenen Kreuz, er schien also wohlhabend zu sein. In diesem Moment sah er sie an. Ein schwaches Lächeln bildete sich an seinen schmalen Lippen. Sie lächelte verlegen zurück. ‚Er sieht George sehr ähnlich‘ dachte sie bei sich. Bei dem Gedanken an ihren vor gut zwei Monaten verstorbenen Ehemann wurde ihr unwohl zumute.
„Wollt Ihr vielleicht Euren Mantel ausziehen? Wir könnten ihn zum trocknen aufhängen, wenn Ihr mögt.“ Sagte Anna. Er sah sie kurz an und nickte dann. Anna ging zu ihm hinüber und löste die Schleife an seinem Kragen. Er sah ihr dabei zu, wie sie mit ihren geschickten Fingern den Knoten öffnete, den selbst er nur mit viel Geduld entwirren konnte. Anna nahm ihm den Mantel von den Schultern. Darunter kam ein weiterer Umhang zum Vorschein. Dieser war wohl früher einmal strahlend weiß gewesen zu sein, jetzt war er hellgrau verfärbt. Auf der linken Brust war ein riesiges rotes Kreuz aufgenäht. Sofort wusste Anna, dass es sich um einen Templer handelte, der vor ihr stand.
„Achtet nicht darauf.“ , Sagte der Fremde, als er Annas erstaunten Blick sah, „Ich bin nicht in kämpferischer Absicht hier.“ Anna antwortete nicht, sondern ging zu einem Haken, der an der Wand hing, und hängte den Umhang darüber. Dann drehte sie sich langsam um. Anna hatte noch nie einen Templer gesehen, geschweigedenn in ihrem eigenen Haus. Sie hatte nur oft von dem gehört, was dieser kriegerische Orden im Heiligen Land vollbrachte.
„Wollt Ihr vielleicht etwas trinken, mein Herr?“ fragte Anna leise, um sich ab-zulenken.
„Gerne. Aber bitte nennt mich nicht ‚Herr‘. Nennt mich einfach Guy, wenn es Euch recht ist.“ Antwortete er mit einem Lächeln.
„Also gut, Guy. Ich bin Anna.“ Darauf ging sie zu einem Behälter hinüber, aus dem sie mit einer Kelle Wasser in einen Becher aus Holz füllte.
Guys Blick fiel auf die drei schlafenden Kinder auf dem Lager. Sie alle hatten hellbraunes Haar und sahen gut genährt aus. Sie schliefen friedlich. Anna reichte ihm den Becher. Das Wasser schmeckte wunderbar, es war klar und kalt.
„Zieht Ihr Eure Kinder allein auf, Anna?“ fragte Guy.
„Ja. Seit mein Mann tot ist. Er starb vor zwei Monaten an einer Lungenentzün-dung, es war schnell vorbei mit ihm.“
„Das tut mir Leid für Euch.“ Sie schwiegen kurze Zeit.
„Und Ihr? Was ist mit Eurer Familie, Guy?“ fragte Anna ihn.
„Ich wurde früh zu den Templern gegeben, mit zehn Jahren vielleicht. Ich kann mich kaum noch an meine Mutter erinnern. Nur ihre langen, goldenen Haare sind mir bis jetzt noch in Erinnerung geblieben. Ihr Name war Claudette, glaube ich. Mein Vater, Etienne, war ebenfalls ein Templer. Ich sehe ihm heute sehr ähnlich. Außerdem hatte ich noch drei Geschwister. Zwei Brüder, Jehan und Bernard, sowie eine Schwester, Marie. Von den Templern wurde ich zu Enthalt-samkeit und Abgeschiedenheit erzogen, ich durfte meine Familie nicht mehr sehen und war im heiligen Land unterwegs. Zuletzt war ich Kommandeur von Tripolis und Antiochia. Und vor etwa zwei Wochen bin ich hier in England an-gekommen.“ Anna hatte ihm gespannt zugehört. Noch nie hatte sie solche Ge-schichten gehört.
„Ihr habt also ein sehr abenteuerliches Leben, nicht wahr?“ Guy sah sie lä-chelnd an.
„War Euer Leben kein Abenteuer?“
„Nein, ich bin hier in Alany geboren und aufgewachsen, habe hier geheiratet und meine Kinder bekommen. Ich habe nur das Leben einer einfachen Bäuerin geführt.“
„Wie heißen Eure Kinder?“
„Die älteste, sie ist fünf, heißt Joanne. Der kleine Junge, Ian, ist drei und meine jüngste, Elaine, ist zwei. Ich bin also niemals allein.“
„Wollt Ihr nicht noch einmal heiraten?“ fragte Guy vorsichtig.
„Nein. Ich habe George am Sterbebett versprochen, nach seinem Tod nicht mehr zu heiraten. Auch wenn er nicht mehr da ist, so bin ich noch immer mit ihm verbunden. Unser Ehering ist das Zeichen dafür.“ Anna blickte ihn ernst an. Er hörte ihr aufmerksam zu und sah in ihre blauen Augen. Diese Frau war etwas besonderes, das wusste er.
„Brauchen die Kinder nicht einen Vater? Ich meine, der Junge könnte von ihm vieles lernen. Wie man kämpft, wie man jagt, wie man ein Feld bestellt…“
„Das wird er wohl mit den anderen Jungen des Dorfes lernen müssen. Dafür ist er jetzt noch viel zu klein.“ unterbrach Anna ihn.
„Mutter?“ Eine leise, aber klare Stimme kam vom Lager her. Anna wandte ihren Kopf ab. Vor ihnen stand ein kleines Mädchen mit zotteligen Haaren und einem dünnen Nachthemd. Es rieb sich verschlafen in den Augen und sah den Fremden an.
„Wer ist das, Mutter?“ fragte es, worauf Anna auf das Mädchen zu ging, sich vor ihr hinhockte und auf Guy zeigte.
„Das ist Guy, ein Mann aus Frankreich. Er ist hier, weil es draußen so stür-misch ist. Guy wird heute nacht hier schlafen und morgen früh wird er uns wie-der verlassen. Er ist wahrscheinlich schon weg, wenn du morgen aufwachst.“
„Und warum bleibt er nicht hier, bei uns? Ich vermisse Vater so sehr.“ Anna sah Guy an. Er lächelte kurz, bevor er den Becher erneut an die Lippen setzte.
„Das kann er nun einmal nicht, Joanne. Er hat noch eine sehr lange Reise vor sich und kann nicht hier bleiben. Und Vater wird uns allen für immer fehlen. Aber er wird in unser aller Herz sein, das verspreche ich dir. Und jetzt geh wie-der ins Bett, Joanne. Morgen wird es wieder ein anstrengender Tag.“ Anna drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die linke Wange, kurz darauf verschwand das Mädchen wieder.
„Entschuldigung, Guy. So verhält sie sich sonst nie.“ Sagte Anna.
„Könnt Ihr Euch nicht vorstellen, warum sie es getan hat?“ fragte er. Anna sah ihn verwirrt an.
„Nein... Sie hat das heute zum ersten Mal gemacht.“
„Sie unterdrückt ihre Gefühle, bemerkt Ihr das nicht? Sie vermisst ihren Vater schrecklich und zerreißt sich innerlich. Ihr versucht Eure Gefühle zu unterdrü-cken, damit Eure Kinder nicht bemerken, wie schlecht es Euch geht. Der Verlust des Vaters war für sie noch schlimmer als der Verlust des Ehemannes für Euch.“ Anna hatte ihn die ganze Zeit ernst angesehen, ihre Augen funkelten wütend.
„Ihr könnt doch gar nicht wissen, wie das ist! Ihr habt noch nie eine Ehefrau verloren, da Ihr ja keine haben dürft! Ich habt noch nie diese Trauer und den Schmerz gespürt, den ich gerade durchleben muss! Die letzten zwei Monate wa-ren ein einziger Alptraum. Ständig fragten mich die Kinder, wo denn ihr Vater wäre, und immer musste ich ihnen das gleiche sagen: Euer Vater ist auf einer langen Reise, die sehr lange dauern wird. Wisst Ihr eigentlich, wie weh es tut, seinen eigenen Kindern zu sagen, dass sie ihren Vater nie wieder sehen wer-den?!“ Anna hatte mehr geflüstert als geschrieen, denn sie wollte die Kinder nicht wecken. Aber Guy war erstaunt. Er hatte nun erfahren, wie sehr sie unter dem Tod ihres Mannes litt. Vorsichtig stellte er den Becher auf einen Tisch und ging zwei Schritte auf sie zu.
„Es tut mir leid, Anna. Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist. Ich bin nicht hier her gekommen, um Euch Vorwürfe zu machen. Es ist schließlich nicht mei-ne Sache.“
„Und warum tut Ihr es dann? Ich komme schon alleine zurecht. Und nun will ich Euch bitten, dass Ihr zu Bett geht. Ich bin müde.“ Anna wandte sich ab und ging zu ihrem Lager, wo sie sich hinlegte. Guy stand eine ganze Weile lang noch wie angewurzelt an der selben Stelle, bevor er es ihr gleichtat.
Mitten in der Nacht wurde er plötzlich von jemandem geweckt.
„Guy? Ich muss mit Euch sprechen.“ Obwohl er noch halb im Schlaf war, konnte er erkennen, dass es sich um Annas Stimme handelte. Langsam drehte er sich um und öffnete die Augen. Er sah Annas Gesicht über sich, ihre Augen sa-hen verweint aus. Er richtete sich auf.
„Was ist los, Anna?“
„Ich wollte mich bei Euch entschuldigen. Ich habe nachgedacht und habe jetzt verstanden, was Ihr mir sagen wolltet. Ich unterdrücke meine Gefühle und will sie nicht zeigen. Und meine Kinder lüge ich an...das geht nicht mehr.“ Guy sah sie die ganze Zeit nur an und beobachtete ihre blauen Augen.
„Ich habe gewusst, dass Ihr es verstehen werdet. Irgendwann.“ Sagte er leise.
„Und ich weiß jetzt, warum Ihr hier seid.“ Sagte Anna.
„Warum?“
„Ich denke, der Herr hat Euch geschickt. Er wollte mich von meiner Trauer und meinem Schmerz erlösen. Mit Euch.“
„Das glaubt Ihr?“
„Ja.“ Vorsichtig hob er seine Hand und legte sie an ihre linke Wange. Sie er-schrak ein wenig, denn seine Hand war kühl.
„Vielleicht habt Ihr recht. Vielleicht bin ich vom Herrn gesandt.“ Flüsterte er. Er sah sie an. Sie sah in seine dunklen Augen und überwand ihre Scheu. Lang-sam kamen sie sich näher. Als sich ihre Lippen berührten verflog all ihre Angst und Trauer, denn sie wusste, dass es richtig war, was sie tat.
Sie liebten sich lange und zärtlich, alles um sie herum war vergessen. Anna vergaß ihre Trauer, Guy vergaß seine Verfolger und seine Flucht. Für eine ge-wisse Zeit waren sie frei.
Als Anna am nächsten Morgen aufwachte, war das erste, was sie bemerkte, dass Guy nicht mehr da war. Einzig sein wertvoller Rosenkranz lag neben ihr auf dem Lager. In diesem Moment wusste sie, dass sie ihn wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Und sogleich kehrte all ihre Trauer und ihr Schmerz zurück, den sie für nur so kurze Zeit vergessen hatte.
Nur kurze Zeit später bemerkte sie, dass sie ein Kind erwartete. In all den Mo-naten nach ihrer gemeinsamen Nacht, in der ihr Leib sich anfing zu wölben, ver-gaß sie Guy nie. Niemand in Alany wusste, dass sie von einem Templer auf der Flucht schwanger war.
Im August des Jahres 1301 brachte sie einen gesunden und strammen Jungen zur Welt, dem sie den Namen ihres Großvaters gab: Owen, der junge Krieger.
Anna erzählte Owen nie, wer sein Vater war. Er hatte nie danach gefragt.