Aschenpfläumchen (Teil 1)

Neo Occam

Mitglied
oder…

…wie Serendip mithilfe einer Ombudsfee und eines Außendienst-Einhorns mit Gebietsschutz einer Unterdrückten und einem Übermütigen zu gemeinsamem Glück verhalf und wie er nebenbei die Welt vor dem Einsturz bewahrte


In einer längst vergangenen Zeit, als Eltern ihren Kindern vor dem Einschlafen noch keine Märchen zu erzählen wussten, weil die gerade eben erst erlebt wurden, begab sich Folgendes.

Serendip saß eines Abends in einer Schenke irgendwo im Königreich Cinderelien. Gerade hatte er für die Zeitfee Uhrsula den abhanden gekommenen Nachmittag eines Fauns aufgespürt. Die Suche nach der verlorenen Zeit hatte ihm nicht viel eingebracht. Uhrsulas Kunde, ein gewisser Niekinski, hatte noch während der Garantiefrist bei der Fee reklamiert und so hatte sie auf eigene Kosten nachbessern müssen. Wie nicht anders zu erwarten, hatte sie deshalb bei Serendips Honorar geknausert. Wenigstens hatte sie noch ein wenig Freizeit draufgelegt. Die verbrachte er nun grübelnd vor einem Krug Wein. Er war seines unsteten Lebens überdrüssig. Viele Jahre schon durchstreifte er wie ein einsamer Wolf abenteuernd die Welt. Er verdiente nicht schlecht mit der Weltenretterei, hatte in all den Jahren sogar ein erkleckliches Sümmchen beiseitegelegt. Doch das half ebenso wenig wie zweifelhafte Ehre und flüchtiger Ruhm gegen die Sehnsucht nach einem Mittelpunkt im Leben. Mit seiner Ernüchterung war er nicht allein, wie er beim letzten Stammtisch festgestellt hatte. Manch verdienter Kollege hatte über das Heldenhafte Reißen geklagt, die rheumatischen Beschwerden, die das ständige Nächtigen am Lagerfeuer mit sich brachte. Sie hatten ihre heimlichen Träume vom Sesshaftwerden ausgetauscht, einander die nächtlich einsame Sehnsucht nach Löffelchenliegen gestanden. Hatten gestanden, wie gern sie heimlich ‚Schlaflos im Sattel‘ anguckten und ein Tränchen dabei verdrückten. Und zu vorgerückter Stunde in den zeitlosen Augenblicken zwischen tiefster Nacht und dem ersten kühlen Hauch des taufeuchten Morgengrauens hatten sie von der Sinnkrise in den klammen Heldenherzen gesprochen. Beim zaghaften Glimmen des erwachenden Morgens hatten sie einander bei den Händen gefasst und wehmütig das Lied vom Rettich gesungen, das uralte Lied der Weltenretter:

Heut Rettich diese Welt und morgen jene.
Bald Rettich alle Welt, dann geh ich heme…


Eine fliederfarbene Wolke schwebte unvermittelt über Serendips Tisch, riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Im Handumdrehen verwandelte sie sich in eine ausnehmend hübsche Weibsperson, die rittlings auf seine Knie plumpste, so nah, dass beider Nasenspitzen sich berührten. Eine Locke ihrer fliederfarbenen Haarpracht kitzelte seine Stirn. Eine Fee. Offensichtlich. Sie lehnte sich zurück, stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab und musterte Serendip, als wollte sie prüfen, ob sie auf dem Richtigen gelandet war. Sie duftete betörend nach Flieder. Ihr schlichtes weinfleckiges Gewand ließ sie aussehen wie eine der Bedienungen. Niemand beachtete sie.

„Sei gegrüßt, edler Serendip“, sprach die Fee.

„Ich bin Lylla, Fee in den Diensten der Feenamtlichen Märchenverwaltung, Referat III C – Märchensteuerung und Qualitätskontrolle. Seit Jahr und Tag verfolge ich aufmerksam deine Taten. Sie sind vorbildlich, tadellos und von unnachahmlicher Eleganz. Du bist unser bestes Pferd im Stall, brachtest mit Abstand die meisten Märchen zu einem glücklichen Ende. Ich bin hier, dich dafür mit einer Prämie zu belohnen.“

Ihre lilienhaften Arme schlangen sich um seinen Hals. Fliederfarbene Augen ruhten freundlich auf den seinen.

„Ich habe tief in dein Herz geschaut und weiß, wonach es sich sehnt. Ich schenke dir dein ganz eigenes Märchen, in dem du die Prinzessin deines Herzens erobern kannst!“

Selbst ihre Lippen hatten die Farbe des Flieders.

„Wie du vielleicht weißt, sind unbemannte Märchenprinzessinnen meldepflichtig. Sollen sie verheiratet werden, muss das in der Märchenwelt öffentlich ausgeschrieben werden. Das ist eine meiner Aufgaben. Hier…“

Lylla schnippte mit den Fingern. Ein dicker Foliant plumpste aus dem Nichts auf den Tisch. Er war in schweres Leder gebunden, speckig vom häufigen Gebrauch. Der Weinkrug wackelte bedrohlich.

„…ist ‚Der PRInzessinnen SCHickliche Reihung Mittels BEwertung ihres Liebreizes’, kurz: PRISCHREMBEL. Das feenamtliche Werk enthält die gesammelten aktuellen Ausschreibungen zu verheiratender Prinzessinnen. Suche dir eine aus!“

Lylla nahm Serendips Gesicht in beide Hände.

„Keine Garantie. Kein Umtausch.“

Sie hielt kurz inne, als suchte sie nach passenden Worten.

„Da wäre noch eine Kleinigkeit. Eine winzige. Anstößigste erotische Entgleisungen gefährden gerade den Ausgang einiger weniger Märchen. Die Feenamtliche Märchenverwaltung ist darob ein wenig beunruhigt. Unterwegs wirst du zuerst in den betroffenen Märchen vorbeischauen und sie für mich zu einem glücklichen Ende bringen. Sonst wird es nichts mit deiner Liebsten. Ich werde ein Auge auf dich haben!“

Sie knutschte unseren verdutzten Helden ab, dass ihm Hören und Sehen verging. Eine Fee. Zweifelsohne. Und ja, ihre Zunge schmeckte nach Flieder.

„Beinahe hätte ich die Bedienungsanleitung für dein Märchen vergessen“, nuschelte sie, ohne mit dem Küssen aufzuhören.

„Regt es dich auf, geht es dich an!“

Dann war sie verschwunden. Wo sie gerade noch gesessen hatte, verpuffte ein Fliederwölkchen.

Serendip schenkte sich nach. Eine einzelne kleine Fliederblüte dümpelte im Weinkrug. Süßer Fliederduft umschmeichelte ihn, während er die PRISCHREMBEL studierte. Sie enthielt in drei Kapiteln die Steckbriefe Hunderter Heiratswilliger: die der gewöhnlich märchenhaften Prinzessinnen, gefolgt von denen der ungewöhnlich märchenhaften und endlich denen der außergewöhnlich märchenhaften. Innerhalb der Kapitel waren die Prinzessinnen nach ihrer Lieblichkeit in aufsteigender, mittels des Prinzesslichen Lieblichkeitskoeffizienten LP ermittelter Reihung sortiert, wie das Vorwort verriet. LP errechnete sich demnach kinderleicht, indem man die Summe des Brustumfangs UB und des Hüftumfangs UH mit dem Wirkungsgrad ? ihres Lächelns multiplizierte und das Ergebnis durch den Taillenumfang UT dividierte, und zwar anhand folgender unmittelbar einleuchtender Formel:

LP = (UB + UH) * ? / UT

Je höher der LP-Wert, desto lieblicher die Person, las Serendip. Gespannt blätterte er sich durch die Steckbriefe. Zu jeder Heiratskandidatin stand geschrieben, wie ihr Herz zu erobern sei. Eine sei leider eingeschlafen, hieß es da, und müsse wachgeküsst werden; eine andere wolle partout nicht ins Bett, es sei denn, kräftige Prinzenhände versohlten ihr den Hintern. Diese gelte es aus einer Höhle zu befreien, wo ein Untier es an den Fels gekettet habe; jene sei so schrecklich zappelig, sie gebe sich nur dem hin, der sie in Ketten lege. Manche kamen von vornherein nicht in Frage, wie die Zwillingsprinzessinnen Sadomee und Sodemie, die zusammen Pferde züchteten und Männer züchtigten und auch sonst alles gemeinsam täten und tierliebe willige Zwillingsprinzen suchten. Oder wie der Ringkämpfer Prinz Transfranz, der für sein Leben gern Prinzessinnenkleider trage und dem Erstbesten gehören wolle, dem es gelinge, ihn mit seinem Büstenhalter zu fesseln. Oder wie Prinzessin Bytsch aus der Oberschlamperei, die in ein wohlhabendes Königreich mit Prinzenüberschuss einzuheiraten gedenke. Andere waren nicht uninteressant. Prinzessin Malwarea beispielsweise, die einen verruchten Kerl brauche, der es ihr ganz besonders dreckig besorge. Oder Prinzessin Wehschnittchen. Sie begehre einen wenig wehleidigen Prinzen. Dem wolle sie mit spitzen Fingernägeln Liebesschwüre in den Rücken ritzen, während er sie besitze. Könne er ihr diese vorlesen, wolle sie ihn behalten. Oder Prinzessin Glitta Glitsch von Fistingen, die sich jedem Beliebigen verspreche, sofern es ihm nur gelänge, ihren Schoß von innen zu lecken. Doch leider: So verlockend sie im Einzelfall auch sein mochten, keine einzige Prinzessin rührte Serendips Herz. Schon wollte er die PRISCHREMBEL enttäuscht zuschlagen, alles für einen üblen Feenschabernack haltend, da entdeckte er ganz am Ende ein dünnes Kapitelchen. Es war mit ‚OBACHT! VORSICHT!! GEFAHR!!!‘ überschrieben und enthielt nur einen einzigen Steckbrief. Das Porträt der jungen Frau zog ihn sofort magisch an. Prinzessin Eisglut heiße sie, stand darunter zu lesen. Von einem kalten Blick aus ihren eisblauen Augen habe einst sogar die Eisfee Gelatella einen Mordsschnupfen bekommen. In ihrem glühenden Herzen jedoch wabere der heiße Brodem der Mutter aller Leidenschaft. Beides, Eis und Glut, habe sich in diesem Wesen von schrecklichster Schönheit in schauriger Harmonie zusammengefunden. Die Prinzessin herrsche über das sagenhafte Reich Sinth, las Serendip wie gebannt weiter. Dort förderten Zwerge für sie unermessliche Schätze aus den Tiefen der Erde. Einen Mann suche sie, der Sinth ihr zu Ehren regiere, auf dass die beiden ausschweifend glücklich in verschwenderischem Reichtum lustvoll lebten bis ans Ende ihrer Tage. Jedem Freier werde sie eine x-beliebige Zahl Rätsel aufgeben. Und wer auch immer die Rätsel löse, den wolle sie zum Manne nehmen. Aber ihre fürchterliche Zwergenleibwache töte auf der Stelle jeden, der versagt. Nie zuvor hatte Serendip eine Frau gesehen, die sich an Lieblichkeit mit ihr hätte messen können! Kein Wunder, dass ihr LP-Wert als ‚Geheime Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch‘ ausgewiesen war. Unvermittelt erwachte ihr Porträt zum Leben. Die Prinzessin blickte ihn an, musterte ihn mit eiskaltem Blick. Er erschauerte. Reif schlug sich auf seinen Augenbrauen nieder. Jetzt schenkte sie ihm ein warmes Lächeln, das ihm den Schweiß auf die Heldenstirn trieb. Eine nie gekannte Glut erglomm in seiner Brust, entflammte sein Herz, das unversehens lichterloh brannte. Er hatte sich verliebt! Die musste er haben! Als sei sie mit ihrer Wirkung zufrieden, erstarrte die Prinzessin wieder zu einem leblosen Porträt. Serendip konnte gerade noch geistesgegenwärtig ihren Steckbrief aus der PRISCHREMBEL reißen, dann war der Wälzer auch schon verschwunden.

„Sei bedankt, Lylla!“ sprach Serendip. „Eisglut von Sinth ist die Prinzessin meines Herzens!“

Doch die Fee meldete sich nicht mehr.

*​
 

ariel

Mitglied
Hallo Neo Occam,

auch wenn ich derartiges sonst nicht lese, mir gefällt dieses Märchen, gut möglich, wegen des Schreibstils, der frisch, witzig mit leich erotischer Note daherkommt. Teilweise hatte ich den Eindruck, und klang es für mich auch so, real aus dem Leben gegriffen und und fantasievoll transponiert.

VG
A
 

Neo Occam

Mitglied
Hallo ariel,

entschuldige bitte, dass meine Reaktion auf sich warten ließ. Ich finde mich hier erst langsam zurecht.

Vielen Dank für deinen Kommentar. Besonders freut mich, dass du ihm etwas abgewinnen kannst, obwohl er nicht deinen bevorzugten Genres zuzurechnen ist.
Du hast Recht: Er ist auch ein wenig autobiografisch. Die Auseinandersetzung mit dem Altern, die eine oder andere Sinnfrage... In meinen Texten versuche ich, spielerisch damit umzugehen.

Viele Grüße
Neo
 



 
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