Kapitel 5 – Reise ins Ungewisse (überarbeitet)
Durch die Wildnis ging es im strengen Galopp. Die einstig starke Gruppe um Tanako bestand nur noch aus drei Elben und einem Baby. Dabei hoffte der Anführer der Elbengruppe, dass es sich bei Anysa um den gesuchten Asranyias handelte. Sonst wäre alles verloren, noch bevor es richtig begonnen hatte.
Verloren hatte Anysa im Alter von ein paar Tagen bereits ihre gesamte Familie. Tanako empfand Mitleid für das kleine Baby. Er blickte Anysa an, wie sie friedlich in seiner Tasche schlief. „Kleine Prinzessin“ flüsterte er dem Mädchen zu. „Ich werde dich mit meinem Leben beschützen. Egal in welcher Zeit und in welcher Welt dies nötig wäre.“ Anysa gab einen kleinen Seufzer von sich, als ob sie die Worte des Elben verstanden hätte. Er gab ihr diesen Schwur nicht, weil sie der Asranyias war, wobei er sich dessen sicher war. Nein, viel mehr, weil er das Kind in sein Herz geschlossen hatte. Ein Gefühl, das er sich nicht erlauben durfte. Schnell lenkte er seine Gedanken den wichtigen Dingen zu.
Tanako richtete seinen Blick wieder gerade aus. So schnell es nur ging, folgten sie dem Weg gen Norden, dem Portal und somit der Sicherheit entgegen. Allmählich wurden die Bäume spärlicher und eine Lichtung kam zum Vorschein. Diese war so groß, dass Tanako nur schemenhaft den gegenüberliegenden Waldrand erkennen konnte. Doch galt die Aufmerksamkeit des Elben eher dem Objekt in der Mitte der Lichtung.
Imposant erhob sich ein schwarzer Rundbogen vor den Augen der Elben, das einsdrucksvolle Wykportal. Vier Mannshöhen groß streckte es sich dem wolkenlosen Himmel entgegen und war circa fünf Meter breit. Das Sonnenlicht wurde von dem dunklen Gestein verschluckt. Schön und furchteinflößend zugleich wirkte es auf dieser Waldlichtung fehl am Platz und gehörte dennoch hierher. Ein Widerspruch in sich, wie das ganze Leben. Ein leichtes Schmunzeln war auf Tanakos Gesicht zu sehen.
Sindor kam an Tanakos Seite. “Wir haben es geschafft“, sagte er zuversichtlich. Er wollte noch mehr mit Tanako besprechen, als ein Geräusch ihn sich umdrehen ließ. Sein helles Elbengesicht wurde aschfahl, als er die Söldner aus dem Wald preschen sah. Als diese die Elben erblickten, trieben sie ihre Pferde noch mehr an.
“Ich halte sie auf!“, rief Lernordo in den Lärm der näher kommenden Pferde und preschte den Söldnern entgegen, ohne eine Antwort von Tanako abzuwarten. Sindor wendete sein Pferd und verringerte schnellstmöglich die Distanz zum Portal. Tanako warf einen Blick über die Schulter zu Lernordo, der bereits im Kampfgetümmel verschwunden war. Das Klirren von Schwertern war zu hören. Doch konnte er sich nicht um Lernordo sorgen, da sich zwei Söldner vom Kampfplatz entfernten und nun auf Tanako und Sindor zu eilten. Sindor, bereits am Portal, kramte in seiner Satteltasche und förderte ein schwarzes Säckchen zu Tage. Schnell öffnete er die Schnüre und ließ den Inhalt, ein silbernes Pulver, in seine Hand rieseln. Bei diesem Pulver handelte es sich um Chomprid, gewonnen aus dem Felsen des Gebirges Rückrat Landorys. Chomprid war nur dort zu gewinnen, wo der adarakanische Teil dieses Gebirges mit dem Teil aus Meridor zusammentraf. Schwer zugänglich war es nur den Elben bestimmt, den besonderen Ort zu finden. Mit diesem Pulver konnten die Portale benutzt werden.
Sindor ging mit dem Chomprid in der Hand zu dem linken Ende des Portals. Dort befand sich am Fuße ein Kelch, einen Meter hoch. Das Portal wurde beidseitig mit den schönen Kelchen geziert. Der Kundschafter ließ die Hälfte des Pulvers in den Kelch rieseln, die andere Hälfte kam in das rechte Gefäß.
Nachdem Sindor das Pulver in beide Kelche gefüllt hatte, sprach er ein paar magische Formeln; die einzige Magie, die er beherrschte. Sogleich begann das Portal sanft zu vibrieren, ein leises Summen war zu vernehmen. Das Innere des Portals fing an zu leuchten, anfänglich nur schwach, dann immer stärker. Das Leuchten begann am Gestein und setzte sich bis in die Mitte fort. Der gesamte Innenkreis war von einer Helligkeit erfüllt, die die Sonne in den Schatten stellte. Es sah aus wie Wasser, das in Bewegung geraten war und kleine Wellen warf.
“Das Portal ist bereit“, rief Sindor Tanako zu. Dieser sah, wie Lernordo gegen eine Übermacht kämpfte. Obwohl nur noch eine Hand voll Söldner, konnte der Elbenkrieger nicht gegen die geballte Macht bestehen. Als er einen Söldner tödlich verwundete, traf ein anderes Schwert seinen ungeschützten Körper und schickte ihn zu Boden. Tanako machte einen Schritt zu Lernordo. Doch Sindor war bereits bei ihm und hinderte ihn, dem Elbenkrieger zur Hilfe zu eilen.
“Lernordo“, rief Tanako, “kommt her. Das Portal ist geöffnet.“ Doch kam dies nun zu spät. Perdur rammte in dem Moment Lernordo das Schwert erneut in die Brust. Lernordo schaute ungläubig auf das Heft des Schwertes, das aus seiner Brust ragte und brach tot zusammen.
Perdur zog sogleich sein Schwert aus dem Elb und kam mit schnellen Schritten auf Tanako zu. Dieser drehte sich zu Sindor um und gemeinsam überbrückten sie die wenigen Meter zum sicheren Portal. „Die Pferde müssen wir hier lassen“, sagte der Kundschafter. „Sie finden alleine wieder nach Haus.“
Vor dem Portal stehend musterte Tanako dieses eingehend. Sindor jedoch verschwendete keine Sekunde mehr und trat mit den Worten “Folgt mir!“ in das Innere. Augenblicklich war der Kundschafter verschwunden. Tanako drehte sich zu Perdur um, der nur noch ein paar Meter entfernt war. “Dafür werdet Ihr bezahlen“, richtete er das Wort an den Anführer der Söldner. Er wartete eine Antwort nicht ab, sondern folgte Sindor, Anysa schützend an sich haltend. Als er verschwunden war, schloss sich sofort das Portal.
Perdur blieb unmittelbar davor stehen. Er blickte dorthin, wo vor einer Sekunde noch dieses leuchtende Wasser war. Er ging an das rechte Ende des Portals und schaute in den Kelch. Nichts war zu sehen, er war völlig leer.
“Lacorto!“, rief er den Magier. Dieser eilte an seine Seite und blickte ihn fragend an. “Aktiviert das Portal, sofort!“, verlangte er unwirsch. Lacorto betrachtete das Wykportal, schüttelte dann den Kopf. “Ich kann es nicht aktivieren, da ich nicht im Besitz von Chomprid bin. Des Weiteren benötigt man eine magische Formel, die ich auch nicht kenne. Es ist uns erst seit ein paar Wochen bekannt, wozu die Portale genutzt werden und womit sie aktiviert werden. Woher sie aber dieses weiße Pulver bekommen, weiß ich auch nicht, noch kenne ich die Runen für die Aktivierung.“
Perdur packte ihn am Kragen. “Wozu seid Ihr dann überhaupt gut? Bin ich denn nur von Versagern umgeben?“, schrie er ihn an. Perdur schleuderte ihn ein paar Meter weg, sodass er unsanft auf dem Boden aufkam. Tanako war ihm schon wieder entwischt. Wütend ballte er die Hände zu Fäusten. Das hätte nicht passieren dürfen. Er hatte so viele Männer zur Verfügung und auch noch einen Magier. Wie sollte er das Scheitern der Mission dem Meistermagier erklären?
“Lacorto“, sagte er zornig, “stellt eine Verbindung zu Nordazu her. Sofort!“ Der Magier tat, wie ihm geheißen. Er war eigentlich sehr erschöpft. Das viele Wirken von Magie der letzten Tage hatte ihn viel Kraft gekostet, weshalb er auch bei dem letzten Kampf keine tragende Rolle mehr gespielt hatte. Dennoch versetzte er sich in tiefe Meditation, horchte bei geschlossenen Augen auf das Gefüge der Magie. In dieses Gefüge stieß er einen Ruf aus und wartete auf Antwort. Sie erfolgte wenige Augenblicke später. Meistermagier Nordazu musste auf diesen Ruf gewartet haben. Er spürte, wie Nordazu sich seines Körpers bemächtigte. Eine Art Vergewaltigung der Seele. “Was habt ihr zu berichten?“, fragte Lacorto mit der Stimme von Nordazu.
Perdur stellte sich aufrecht hin und antwortet mit fester Stimme: “Tanako ist mit dem Kind entkommen. Sie sind durch eines dieser Portale geflohen. Die Verfolgung ist nicht möglich.“ Sogleich erfolgte die Antwort in einem donnernden: “Was?“
„Euer Versagen kann Euch den Kopf kosten“, zischte Nordazu drohend. „Sie hatten einen Magier bei sich, Tanako Van’ Lorindo Wa und etliche Elbenkrieger“, versuchte sich Perdur zu rechtfertigen. Doch ließ sich Nordazu nicht auf seine Argumente ein. „Es kann doch nicht so schwer sein, eine schwangere Elbin zu töten oder dieses Balg“, schrie der Meistermagier. „Es waren zwei Kinder, eines ist bereits tot“, korrigierte Perdur ihn. „Zwei Kinder? Seid Ihr sicher?“
„Ja, ganz sicher. Eines hatte der Vater. Er ist im Wyke mit dem Kind ertrunken. Das zweite Baby wird auch bald sterben, wenn Ihr mir noch mal eine Chance... .“
„Nichts werde ich“, unterbrach Lacorto mit Nordazus Stimme den Anführer der Söldner. „Ihr habt mich enttäuscht und werdet die gerechte Strafe dafür erhalten. Kehrt augenblicklich nach Ciag zurück.“
„Aber Herr“, versuchte Perdur ihn umzustimmen, doch ließ dieser keinen Einwand zu. „Ich diskutiere nicht mit Versagern!“, zischte sein Herr ihn an. Bevor Perdur etwas erwidern konnte, entschwand Nordazu aus dem Körper des Magiers. Langsam kam dieser wieder zu sich, schwankte etwas, bis er sich fangen konnte. Seine Stirn war übersät von Schweißperlen, er setzte sich auf den Boden, von Schwäche gezeichnet. Lang spürte er die Fänge seines Meisters, dessen Aura, die sich wie ein Parasit in seinen Körper eingenistet hatte.
Perdur interessierte dies nicht. Er wendete sich von Lacorto ab und befahl seinem einzig verbliebenen Söldner den Rückzug nach Ciag. An Lacorto gewandt meinte er kalt: „Wenn Ihr mit Schlafen fertig seid, dann folgt mir. Nordazu lässt man nicht warten.“ Ohne eine Antwort abzuwarten drehte er sich um, überquerte die große Lichtung und war wenig später im Wald verschwunden. Lacorto richtete sich langsam auf, ging mit wackeligen Beinen zu seinem Pferd und folgte dem Söldner.
Nordazu seufzte leise und schüttelte den Kopf. „Versager!“, murmelte er vor sich hin. Bei Perdur war er sich sicher gewesen, dass dieser nicht scheitern würde. Das würde Konsequenzen haben für den Söldner. Eine gerechte Strafe musste er sich noch einfallen lasse. Vielleicht einen Monat lang Wäsche waschen und putzen im Schloss von Ciag. Ja, das wäre eine bessere Strafe als jede Folter. Die Demütigung wäre perfekt und Perdur würde nicht noch einmal versagen.
Nordazus Gedanken kehrten zu den Kindern zurück. In der Prophezeiung stand nichts von mehreren Kindern, aber war auch nie nur von einem Kind die Rede. Der Meistermagier spürte die Anwesenheit des Asranyias deutlich im Gefüge der Magie. Diese Präsenz war die ganze Zeit zugegen, wodurch Nordazu noch vor der Kontaktaufnahme mit Perdur von dessen Scheitern überzeugt war.
Die Aura des Asranyias war zu vergleichen mit einem Kiesel, der in einen Teich fiel und Wellen verursachte. Dieser Kiesel repräsentierte den Heilsbringer, der Teich spiegelte die Magie wieder. Solange die Wellen bestanden, lebte der Asranyias. Bei dessen Geburt war das Gefüge der Magie kurzzeitig derartig aus dem Ruder gelaufen, dass kaum ein Wirken von Magie möglich war. Es kam Nordazu so vor, als ob ein Felsbrocken in den Teich gefallen sei und alles zum Zittern gebracht hatte. Erst nach ein paar Stunden wurde die Flut zu einer sanften Wellenbewegung. Daraus konnte der Meistermagier die enorme Kraft des Asranyias erahnen. Eine Macht, die unbedingt ausgeschaltet werden musste, solange sie noch nicht eingesetzt werden konnte. Er schloss die Augen und sah das Gefüge der Magie vor sich. Ja, der Asranyias lebte, die Wellen existierten immer noch. Der Meistermagier musste sich des Problems anderweitig annehmen. Dieses Mal durfte es kein Versagen geben. Gelang es den Elben, das Kind in Sicherheit zu bringen, würde es für ihn nur schwieriger, diese geballte Macht zum Erliegen zu bringen. Oder vielleicht konnte er sich die Magie selber zu Eigen machen?
Ungläubig schüttelte er den Kopf wegen des Versagens Perdurs. Anscheinend wussten die Elben, dass ihnen Söldner auf der Spur waren. Sonst hätten sie das Elbenweib nicht aus dem Dorf geholt. So wie Perdur berichtet hatte, waren etliche Elben bei der Schwangeren, darunter ein Elbenmagier und Tanako Van’ Lorindo Wa. Gefährliche Gegner, diese Elben. Das wusste auch er. Doch hatte Perdur eine schlagkräftige Truppe zu seiner Verfügung. Nordazu glaubte nicht, dass bei der Reise in der Zwischenwelt soviel Männer ums Leben gekommen waren, dass sie den Elben unterlegen waren. Lacorto wurde extra auf diese Reise mit entsandt.
Nordazu setzte sich in seinen schweren Stuhl, nahm sich Papier und Feder und notierte eine kleine Nachricht in leicht geschwungener Schrift. Als er seine Anweisungen vermerkt hatte, faltete er den Brief zusammen. Er griff nach einer Kerze, die auf seinem Tisch stand und ließ auf den Brief ein bisschen Wachs tröpfeln. Mit seinem Ring versiegelte er die Nachricht. Anschließend begab er sich zur Tür und verließ sein Arbeitszimmer. Dem Flur folgte der alte Mann in südlicher Richtung, bis er eine Kreuzung erreichte. Sein Weg führte ihn weiter nach rechts bis zu einer Treppe, die ihn zum Schlosshof brachte.
Eine Viertelstunde hatte er für die Strecke vom obersten Stockwerk bis hierher gebraucht. Er überlegte bereits, ob er sein Arbeitszimmer nicht in einem der unteren Stockwerke unterbringen sollte. Da wäre der Weg nicht so lang. Die Diener, die ihm begegneten, verbeugten sich stets unterwürfig und mit einer Spur Angst. Ein kleines Lächeln erschien auf dem verrunzelten Gesicht des Meistermagiers. Ja, so sollte es sein. Ein jeder wusste um die Gefährlichkeit seiner Person. Nur Torak war zu dumm, das zu erkennen. Und als ob er den Teufel gerufen hätte, sah Nordazu den Kriegsherrn über den Hof rennen. Mit schnellen Schritten und in offenbar schlechter Laune stieß er jeden beiseite, der ihm zu nahe kam und überschüttete denjenigen mit einem Schwall von Flüchen. Torak ging in den Pferdestall und kam mit seinem gesattelten Pferd wieder heraus. Er schwang sich in den Sattel, wendete brutal das Tier, so dass es sich aufbäumte. Nur mit Mühe schaffte er es, das Tier unter seine Kontrolle zu bekommen. Wie ein Wahnsinniger preschte er an den Schlosstoren vorbei. Unkontrollierbare Wut war ein gefährlicher Feind, dachte sich Nordazu. Sie konnte es schnell zu einer Fehleinschätzung einer Situation kommen und somit zum Tode führen. Dass Torak in seiner Wut seiner Umgebung keinerlei Beachtung schenkte, bewies die Tatsache, dass er den Meistermagier nicht bemerkt hatte, obwohl dieser mitten auf dem Hof stand.
Nordazu setzte sich wieder in Bewegung und erreichte wenig später sein Ziel; den Verschlag seiner Kuriervögel. Es handelte sich hierbei um schwarz gefiederte Tiere, ein jeder größer als eine Ratte und mit enorm gefährlichem Schnabel und Krallen versehen. Keiner der Diener wagte sich in die Nähe des Verschlages, da die Vögel alsgleich wild mit den Flügel zu schlagen begannen und einen markerschütternden Schrei ausstießen. Nordazu öffnete den Verschlag und hielt ruhig seine Hand hinein. Einer der Vögel sprang ganz zahm auf seine Hand und ließ sich von dem Meistermagier nach draußen bringen. Die Krallen des Vogels bohrten sich schmerzhaft in seine Hand, doch spürte Nordazu diese Winzigkeit erst gar nicht. Er griff mit der freien Hand in die Tasche unter seinem Gewand und holte den erst kürzlich geschriebenen Brief heraus. Schnell hatte er ihn am Bein des Tieres befestigt und flüsterte dem Vogel sein Ziel zu. Nordazu hob seinen Arm mit viel Schwung in die Höhe, so dass der Vogel genug Schwung bekam und mit einem lauten Schrei davon flog. Nordazu schaute ihm so lange nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann verschloss er wieder den Verschlag und begab sich zurück zu seinem Arbeitszimmer.
Kein Versagen mehr, dachte er sich. Nicht mit den Murlocks aus dem Gebirgszug vom Rückrat der Welt. Sehr bald würde er eine Antwort erhalten, morgen früh schon. Ein kleines bösartiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Es war ein Lächeln der Vorfreude, das der Asranyias bald tot sein würde. Und dann begann endlich die große Stunde von ihm, von Meistermagier Nordazu Galyris Holdro.
Der große Elb spürte nichts mehr. Ihm kam es nicht so vor, als ob er eine Reise antreten würde. Er spürte nichts beim Eintritt in das Wykportal, noch spürte er die Reise hindurch. Es war weder warm noch kalt. Keine Geräusche waren zu hören, keine anderen Lebewesen zu sehen. Es schien, als sei Tanako das einzige Wesen hier. Instinktiv hielt er Anysa an sich gedrückt. Selbst Farben gingen in dem grauen Zwielicht, in das er getreten war, unter. Er konnte keinen Boden entdecken, spürte aber, dass er auf festem Untergrund lief. Fast schien es, als ob er in einen Nebel geraten wäre. Er drehte sich um seine Achse, doch war der Eingang des Wykportals nicht zu sehen. Dabei hatte er doch nur einen Schritt hinein gemacht. Auch blieb Sindor weiter spurlos verschwunden. Tanako rief nach dem Kundschafter, bekam aber keine Antwort. Seine Stimme klang hohl und irgendwie gedämpft, egal wie laut er rief. Ein Mensch wäre jetzt wahrscheinlich in Panik geraten, da der Weg zurück offensichtlich nicht mehr möglich war und auch der Weg vor ihm nicht erkennbar war. Doch die elbische Gelassenheit akzeptierte diese Tatsache. Tanako wusste, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gab, als ein Mensch je erahnen würde. Einen Schritt setzte er vor den anderen, dann war plötzlich sein linkes Bein verschwunden. Er zog es zurück und es erschien wieder vor ihm. „Hier ist also der Ausgang“, murmelte er vor sich hin. Er machte denselben Schritt noch einmal, sein Bein verschwand erneut. Kurz darauf schob er seinen Körper langsam nach, berührte mit dem Gesicht das graue Zwielicht, ohne irgendetwas zu spüren und war wenig später aus der Zwischenwelt entstiegen.
Der Nebel begann sich zu lichten, Schemen wurden erkennbar und leise Geräusche waren zu hören. Mit dem nächsten Schritt sah er Bäume vor sich. Er kam ins Stolpern , da er einen Absatz übersehen hatte. Jemand fing ihn auf, bevor er vollends stürzte. Es war Sindor, der ihn glücklich anlächelte. „Seid Ihr beide wohlauf?“, erkundigte sich der Kundschafter und blickte ihn mit nunmehr besorgten Augen an. „Uns geht es gut“, antwortete Tanako erleichtert. „Es war eine eigenartige Reise. Sie kam mir wie Stunden vor, doch ist der Stand der Sonne unverändert.“ Sindor nickte ihm beipflichtend zu. „Ja, man muss sich erst daran gewöhnen. Die Reise hat nicht mehr als ein paar Sekunden gedauert, Tanako. Aber man gewöhnt sich an das eigenartige Gefühl.“
„Immerhin habt Ihr so viele hundert Meilen zurückgelegt“, sagte eine ihm unbekannte Stimme. Tanako richtete seinen Blick an Sindor vorbei und entdeckte zu seinem Erstaunen eine Gruppe von Elben, aus sechs Personen bestehend. Verwundert wollte er eine Frage stellen, als derselbe Elb, der gerade das Wort an ihn gerichtet hatte, weiter sprach: „Ihr scheint erstaunt zu sein, uns zu sehen, Tanako Van’ Lorindo Wa. Mein Name ist Filsondre On’ Le Merman.“ Der Sprecher verbeugte sich vor Tanako. „König Marek sandte uns zur Sicherheit aus, Euch am Onaliportal zu treffen. Er ahnte, dass Ihr verfolgt werdet und wollte die Mission nicht gefährden. Wir warten bereits seit geraumer Weile auf Euch und hatten Anweisung, erst abzureisen, wenn neue Befehle aus Tharul eintreffen.“ Filsondre blickte ihm in die Augen und reichte Tanako die Hand. Dieser nahm sie herzlich an. „Es freut mich sehr, Euch hier zu sehen, Filsondre. Meine Kameraden sind tapfer gestorben, als sie den Asranyias beschützten. Leider ist die Mutter des Babys bei der Geburt gestorben und der Vater ist mit dem Sohn in den Fluten des Wyke verschollen“, fasste Tanako kurz die Geschehnisse zusammen. „Ihr seht also, wir können jede Hilfe gebrauchen. Auch wenn meine Verfolger nicht durch dieses Portal kommen können, so wird der Meistermagier einen anderen Weg finden“, erklärte der große Elb und verdeutlichte so, dass er schnellstmöglich aufbrechen wollte.
„Die neue Ausgangslage ändert unseren Plan. Ich sehe, Ihr habt ein Kind bei Euch. Ihr werdet nicht nach Tharul reisen, sondern direkt nach Anagard. Dies ist der schnellste Weg. Wir werden Euch begleiten. Die Pferde stehen bereit, wir brechen sofort nach Anagard auf“, erklärte Filsondre. Ohne Anysa weiter eines Blickes zu würdigen, drehte er sich um und ging zu dem anderen Elbenkrieger. Tanako und Sindor konnten sich ein Pferd aussuchen, da Filsondre mehr Pferde mitgebracht hatte, als notwendig wären. Die restlichen Tiere, die eigentlich für die anderen Elben in Tanakos Gruppe gedacht waren, wurden freigelassen. Sie werden nach Tharul zurückkehren, wie es der Meister der Pferde ihnen beigebracht hatte.
Filsondre führte die nunmehr auf acht Elben angewachsene Gruppe um Anysa an. Es ging an den westlichen Ausläufern des Hyranigebirges über zweihundert Meilen im schnellen Tempo entlang. Es blieb keine Zeit, die wunderschöne Natur zu genießen, die das Gebirge zu bieten hatte. Das elbische Volk war stolz auf dieses Fleckchen Erde. Adarak wurde nicht ohne Grund als das schönste Land auf Landory bezeichnet. Herrliche Wälder mit den verschiedensten Baumarten, die es sonst nirgends gab, lassen die Augen der Besucher leuchten. Einzigartige Lebewesen hatten hier ihr Zuhause. Flüsse, die im Sonnenlicht glitzerten, als läge Diamantenstaub darin. Berge, manche so hoch, dass ihre Spitzen in der Wolkendecke verschwanden und auf denen immer Schnee lag. Bei klarer Sicht sah man ihre majestätischen Kronen, funkelnd und glitzernd in der Sonne. Stolz zeigte sich die Natur von ihrer schönsten Seite, egal zu welcher Jahreszeit.
Dieses Land wurde den Elben Jahrhunderte lang streitig gemacht. Immer wieder versuchten die Menschen der Mark, in Adarak einzudringen. Vor vielen hundert Jahren kam es zum Krieg um Adarak. Nur die Diplomatie der Elben und die vollständige Aufgabe Morwinda’s führten zum Frieden. Morwinda, einst das gesamte Zwei-Strom-Tal umfassend, war nun Bestandteil der Nordmark. Zur Zeit herrschte ein Bürgerkrieg in der Mark, so dass die Menschen mit sich selbst beschäftigt waren und Adarak vorerst in Ruh ließen. Viele Familien flohen in das Yanuzi Gebirge, dem natürlichen Grenzwall der Ostmark zu dem Land der Elben.
Zumeist zog es die Menschen auf die adarakanische Seite, wo Orte wie Iliahs Heimatdorf Dara gegründet wurden. Hier lebten Menschen und Elben im friedlichen Miteinander. Es blieb nicht aus, dass es zu Reibereien zwischen den verschiedenen Rassen kam. Menschen und Elben waren von Natur aus grundverschieden. Die Menschen sahen die Natur oft als ihren Feind an, den es galt, zu unterwerfen. Sie holzten ganze Wälder ab, verschmutzen die Seen und traten die Seele der Natur mit Füßen. Dieses Verhalten war den Elben zuwider. Jeder Versuch, ihnen den Einklang mit Natur und Tier näher zu bringen, scheiterte bereits im Ansatz. Aus diesem Grund zogen sich die Elben immer weiter zurück, verschwanden aus den Grenzdörfern und kehrten nie wieder zurück.
Es war ein schleichender Prozess, aber unaufhaltsam. Würde König Marek den Menschen jedoch verbieten, Adarak zu betreten und die Grenzen schließen, würden das die Bewohner der Mark als kriegerischen Akt ansehen und womöglich einen Krieg vom Zaun brechen. Das elbische Volk sah keine Bedrohung in den Menschen, auch nicht, wenn es zu einem Krieg kommen würde. Zurzeit herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände in der Mark, so dass eine geeinte Armee nicht aufzustellen wäre. Der Zwist der Königssöhne führte unweigerlich zum Krieg. Vielmehr sah der Elbenkönig das Problem darin, dass die Mark geschwächt war gegenüber einer Invasion seitens Anarubas. Die Elben isolierten sich zusehends, brachen die Kontakte zu den Menschen ab, behielten sie aber dennoch im Auge. Denn das Schicksal der Menschheit entschied letztlich auch das der Elben. Überfiele Anaruba die Mark und konnte er sie sich einverleiben, war dies eine echte Bedrohung für Adarak.
Aus eben diesen Gründen verhielten sich die Elben ruhig. Sie versuchten, das Schlimmste zu verhindern, was Menschen anrichten könnten. Wenn ein Baum gefällt wurde, pflanzte ein Elb einen neuen. Verschmutzten sie den Fluss, versuchten die Elben, ihn wieder zu reinigen. Sie verhinderten, dass bei einer Jagd, die nicht aus Hunger, sondern nur des Spaßes wegen unternommen wird, die Jäger ihre Ziele nicht trafen, sofern es in ihrer Macht stand. Aus den ganzen negativen Eigenschaften der Menschen schien es, als ob sie einer Rettung nicht würdig wären. Und dennoch war es anders. Denn unter den vielen Menschen gab es einige mit einem guten Herzen, wie es bei Andero der Fall war. Menschen, die einander liebten, die andere mit ihrem Leben schützten.
Die Elben versuchten, die menschlichen Fehler zu beheben. Sie hofften, dass sich die Mark wieder vereinte, der Bürgerkrieg beendet würde und die jetzigen Flüchtlinge wieder in ihre Heimat gingen.
Es ging bei der Rettung des Asranyias nicht nur darum, die Mark und angrenzende Länder vor Meridor zu schützen, sondern auch darum, Adaracks Überleben zu sichern. Und dies war nur möglich, in dem die Menschen dem Land der Elben fernblieben und Anaruba in seinem Land Meridor blieb.
Schnell wie der Wind ritten die Elben mit dem Baby entlang der Ausläufer des Yanuzi Gebirges. Am ersten Tage schafften sie nur dreißig Meilen. Weil Sindor und Tanako erst am späten Nachmittag durch das Onaliportal gekommen waren, konnten sie nun auf Grund des schwindenden Tageslichts nicht mehr weiter reiten. Tanako blieb nur wenig Zeit, sich das Onaliportal genauer anzusehen. Für ihn sah es genauso aus wie das Wykportal. Später erfuhr er, dass die sieben Portale alle identisch waren.
Als sich die Sonne von der Welt mit einem grandiosen Sonnenuntergang verabschiedete, suchten die Elben sich einen geeigneten Lagerplatz und schlugen schließlich an einer windgeschützten Stelle ihr Lager auf. Es war völlig sinnlos, die Pferde in der Dunkelheit weiter voran zu treiben. Das Risiko, dass sie sich verletzten, war einfach zu groß. Endlich hatten sie Zeit, dem Naturschauspiel voller Ehrfurcht entgegen zu blicken. Die Sonne hüllte die Berge in ein grelles Rot , ließ sie glühen, als ob sie in Flammen stehen würden. Jeder Sonnenuntergang war ein Erlebnis, egal wie oft man ihn schon beobachtet hatte.
Tanako liebte es, die Sonne zu beobachten, wenn sie die Welt mit ihren Strahlen weckte oder sich zur Ruhe begab. Aufgewachsen an den östlichen Ausläufern des Hyranigebirges, beobachtete Tanako einst jeden Tag den Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Dabei sah er zu, wie die Sonne hinter den Bergen verschwand. Manchmal aber ging er auch auf die andere Seite der Berge und wartete solang, bis die Sonne den Horizont geküsst hatte. Um dieses Schauspiel miterleben zu dürfen, musste er mehrere Tage durch das Hyranigebirge laufen, um auf die andere Seite zu kommen. Ein schwieriger Weg, den er jedoch gern auf sich nahm. Oftmals war für ihn auch nur der Weg das Ziel.
Der Elb beobachtete das Naturschauspiel bis zu seinem Ende. Ein Blick zu Anysa sagte ihm, dass sie die Musik des Sonnenunterganges gespürt haben muss. Mit einem friedlichen Lächeln schlummerte sie in seinen Armen. Ehrfurcht vor der Natur wollte er sie lehren. Sanft strich er dem kleinen Mädchen über den winzigen Kopf. Anysa schaute zu ihm auf, gab ein kleines Gähnen von sich und fing unvermittelt an zu achen. Unverständliches brabbelt sie vor sich hin und streckte die kleinen Händchen nach ihm aus. Tanako holte sie aus der improvisierten Tragetasche und hielt sie vor sich hin. Kleine Finger tasteten sein Gesicht ab und kniffen ihn in die Nase.
Vom ersten Tag an, wo er die Kleine gesehen hatte, liebte er sie wie seine eigene Tochter. Seit ihrer Geburt wurde sie verfolgt und man versuchte unablässig, sie zu töten. Sie war eine Vollwaise, man hatte ihr die Eltern und ihren Zwillingsbruder genommen. Bisher konnte er seine kleine Prinzessin immer beschützen. Doch wie lange noch? Bei Andero und Iliah hatte er versagt. Doch das Verschwinden von Aris wog noch schwerer. Tanako glaubte nicht, das Anysas Zwillingsbruder noch am Leben war.
Kein Baby konnte diese Strömung des Wyke überlebt haben. Nun musste er seine ganze Kraft auf Anysa verwenden. Zusammen mit dem kleinen Mädchen würde er durch das Portal von Anagard gehen, um in einer anderen Welt zu leben und sie dort zu schützen. Dies war zumindest der Plan des Elbenkönigs, wenn auch etwas anders gedacht, und entsprach auch dem Wunsch Tanakos. Ein wohl duftender Geruch riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte nicht bemerkt, wie Sindor in der Zwischenzeit des Lagerfeuer geschürt und eine Suppe zubereitet hatte. Tanako stand auf und ging zu seiner am Boden liegenden Satteltasche. Ein kurzer Blick hinein zeigte ihm, dass von den Milchfläschchen für Anysa nicht mehr viel übrig waren. Sie mussten dringend Nahrung für das Baby besorgen. Tanako nahm eine Flasche heraus, erwärmte sie kurz über dem Feuer und hielt sie Anysa hin. Mit ihren kleinen Fingern hielt sie die Flasche fest und trank sichtlich genüsslich ihre Milch. Das niedliche Schauspiel zauberte ein Lächeln auf alle Gesichter.
Während Anysa trank, berichtete Tanako Filsondre von der Verfolgung durch Perdur.
Bis weit in die Nacht erzählte Tanako von den Geschehnissen. Nüchtern und ohne jede Gefühlsregung zählte er die Fakten auf, wie es Elben zu Eigen war. Keiner unterbrach ihn, alle lauschten seinen Worten. Als er geendet hatte, herrschte eine Weile gespannte Stille. Sie wurde nur durch das Zirpen der Insekten gestört und den Geräuschen des Waldes. Anysa war es, die das Schweigen brach und in ihrer Babysprache auf Tanako einplapperte. Das löste alle aus ihrer Erstarrung und ein jeder begab sich zu seinem Nachtlager. Tanako legte Anysa neben sich und deckte sie liebevoll zu.
Die kleine Prinzessin weckte in ihm Gefühle, die ihm so gänzlich unbekannt waren. Missbilligend runzelte er seine glatte Stirn. Eng packte er den Säugling ein. Anysa fühlte sich wohl und schlief schnell ein. Auch Tanako legte sich zum Schlafen hin. Nach ein paar Stunden wurde er von einem Elben geweckt, um seine Schicht der Wache zu übernehmen. Dieser Elbe legte sich zu Anysa, um sie im Notfall zu schützen.
Tanako setzte sich auf einen Stein, von wo aus er das Lager und den Wald überblicken konnte. Grübelnd dachte er über seine neuen väterlichen Gefühle gegenüber Anysa nach. Sein Verstand sagte ihm, dass solche Gefühle unangebracht waren, Anysa war nicht seine Tochter. Doch sein Herz dachte anders darüber.
Durch die Wildnis ging es im strengen Galopp. Die einstig starke Gruppe um Tanako bestand nur noch aus drei Elben und einem Baby. Dabei hoffte der Anführer der Elbengruppe, dass es sich bei Anysa um den gesuchten Asranyias handelte. Sonst wäre alles verloren, noch bevor es richtig begonnen hatte.
Verloren hatte Anysa im Alter von ein paar Tagen bereits ihre gesamte Familie. Tanako empfand Mitleid für das kleine Baby. Er blickte Anysa an, wie sie friedlich in seiner Tasche schlief. „Kleine Prinzessin“ flüsterte er dem Mädchen zu. „Ich werde dich mit meinem Leben beschützen. Egal in welcher Zeit und in welcher Welt dies nötig wäre.“ Anysa gab einen kleinen Seufzer von sich, als ob sie die Worte des Elben verstanden hätte. Er gab ihr diesen Schwur nicht, weil sie der Asranyias war, wobei er sich dessen sicher war. Nein, viel mehr, weil er das Kind in sein Herz geschlossen hatte. Ein Gefühl, das er sich nicht erlauben durfte. Schnell lenkte er seine Gedanken den wichtigen Dingen zu.
Tanako richtete seinen Blick wieder gerade aus. So schnell es nur ging, folgten sie dem Weg gen Norden, dem Portal und somit der Sicherheit entgegen. Allmählich wurden die Bäume spärlicher und eine Lichtung kam zum Vorschein. Diese war so groß, dass Tanako nur schemenhaft den gegenüberliegenden Waldrand erkennen konnte. Doch galt die Aufmerksamkeit des Elben eher dem Objekt in der Mitte der Lichtung.
Imposant erhob sich ein schwarzer Rundbogen vor den Augen der Elben, das einsdrucksvolle Wykportal. Vier Mannshöhen groß streckte es sich dem wolkenlosen Himmel entgegen und war circa fünf Meter breit. Das Sonnenlicht wurde von dem dunklen Gestein verschluckt. Schön und furchteinflößend zugleich wirkte es auf dieser Waldlichtung fehl am Platz und gehörte dennoch hierher. Ein Widerspruch in sich, wie das ganze Leben. Ein leichtes Schmunzeln war auf Tanakos Gesicht zu sehen.
Sindor kam an Tanakos Seite. “Wir haben es geschafft“, sagte er zuversichtlich. Er wollte noch mehr mit Tanako besprechen, als ein Geräusch ihn sich umdrehen ließ. Sein helles Elbengesicht wurde aschfahl, als er die Söldner aus dem Wald preschen sah. Als diese die Elben erblickten, trieben sie ihre Pferde noch mehr an.
“Ich halte sie auf!“, rief Lernordo in den Lärm der näher kommenden Pferde und preschte den Söldnern entgegen, ohne eine Antwort von Tanako abzuwarten. Sindor wendete sein Pferd und verringerte schnellstmöglich die Distanz zum Portal. Tanako warf einen Blick über die Schulter zu Lernordo, der bereits im Kampfgetümmel verschwunden war. Das Klirren von Schwertern war zu hören. Doch konnte er sich nicht um Lernordo sorgen, da sich zwei Söldner vom Kampfplatz entfernten und nun auf Tanako und Sindor zu eilten. Sindor, bereits am Portal, kramte in seiner Satteltasche und förderte ein schwarzes Säckchen zu Tage. Schnell öffnete er die Schnüre und ließ den Inhalt, ein silbernes Pulver, in seine Hand rieseln. Bei diesem Pulver handelte es sich um Chomprid, gewonnen aus dem Felsen des Gebirges Rückrat Landorys. Chomprid war nur dort zu gewinnen, wo der adarakanische Teil dieses Gebirges mit dem Teil aus Meridor zusammentraf. Schwer zugänglich war es nur den Elben bestimmt, den besonderen Ort zu finden. Mit diesem Pulver konnten die Portale benutzt werden.
Sindor ging mit dem Chomprid in der Hand zu dem linken Ende des Portals. Dort befand sich am Fuße ein Kelch, einen Meter hoch. Das Portal wurde beidseitig mit den schönen Kelchen geziert. Der Kundschafter ließ die Hälfte des Pulvers in den Kelch rieseln, die andere Hälfte kam in das rechte Gefäß.
Nachdem Sindor das Pulver in beide Kelche gefüllt hatte, sprach er ein paar magische Formeln; die einzige Magie, die er beherrschte. Sogleich begann das Portal sanft zu vibrieren, ein leises Summen war zu vernehmen. Das Innere des Portals fing an zu leuchten, anfänglich nur schwach, dann immer stärker. Das Leuchten begann am Gestein und setzte sich bis in die Mitte fort. Der gesamte Innenkreis war von einer Helligkeit erfüllt, die die Sonne in den Schatten stellte. Es sah aus wie Wasser, das in Bewegung geraten war und kleine Wellen warf.
“Das Portal ist bereit“, rief Sindor Tanako zu. Dieser sah, wie Lernordo gegen eine Übermacht kämpfte. Obwohl nur noch eine Hand voll Söldner, konnte der Elbenkrieger nicht gegen die geballte Macht bestehen. Als er einen Söldner tödlich verwundete, traf ein anderes Schwert seinen ungeschützten Körper und schickte ihn zu Boden. Tanako machte einen Schritt zu Lernordo. Doch Sindor war bereits bei ihm und hinderte ihn, dem Elbenkrieger zur Hilfe zu eilen.
“Lernordo“, rief Tanako, “kommt her. Das Portal ist geöffnet.“ Doch kam dies nun zu spät. Perdur rammte in dem Moment Lernordo das Schwert erneut in die Brust. Lernordo schaute ungläubig auf das Heft des Schwertes, das aus seiner Brust ragte und brach tot zusammen.
Perdur zog sogleich sein Schwert aus dem Elb und kam mit schnellen Schritten auf Tanako zu. Dieser drehte sich zu Sindor um und gemeinsam überbrückten sie die wenigen Meter zum sicheren Portal. „Die Pferde müssen wir hier lassen“, sagte der Kundschafter. „Sie finden alleine wieder nach Haus.“
Vor dem Portal stehend musterte Tanako dieses eingehend. Sindor jedoch verschwendete keine Sekunde mehr und trat mit den Worten “Folgt mir!“ in das Innere. Augenblicklich war der Kundschafter verschwunden. Tanako drehte sich zu Perdur um, der nur noch ein paar Meter entfernt war. “Dafür werdet Ihr bezahlen“, richtete er das Wort an den Anführer der Söldner. Er wartete eine Antwort nicht ab, sondern folgte Sindor, Anysa schützend an sich haltend. Als er verschwunden war, schloss sich sofort das Portal.
Perdur blieb unmittelbar davor stehen. Er blickte dorthin, wo vor einer Sekunde noch dieses leuchtende Wasser war. Er ging an das rechte Ende des Portals und schaute in den Kelch. Nichts war zu sehen, er war völlig leer.
“Lacorto!“, rief er den Magier. Dieser eilte an seine Seite und blickte ihn fragend an. “Aktiviert das Portal, sofort!“, verlangte er unwirsch. Lacorto betrachtete das Wykportal, schüttelte dann den Kopf. “Ich kann es nicht aktivieren, da ich nicht im Besitz von Chomprid bin. Des Weiteren benötigt man eine magische Formel, die ich auch nicht kenne. Es ist uns erst seit ein paar Wochen bekannt, wozu die Portale genutzt werden und womit sie aktiviert werden. Woher sie aber dieses weiße Pulver bekommen, weiß ich auch nicht, noch kenne ich die Runen für die Aktivierung.“
Perdur packte ihn am Kragen. “Wozu seid Ihr dann überhaupt gut? Bin ich denn nur von Versagern umgeben?“, schrie er ihn an. Perdur schleuderte ihn ein paar Meter weg, sodass er unsanft auf dem Boden aufkam. Tanako war ihm schon wieder entwischt. Wütend ballte er die Hände zu Fäusten. Das hätte nicht passieren dürfen. Er hatte so viele Männer zur Verfügung und auch noch einen Magier. Wie sollte er das Scheitern der Mission dem Meistermagier erklären?
“Lacorto“, sagte er zornig, “stellt eine Verbindung zu Nordazu her. Sofort!“ Der Magier tat, wie ihm geheißen. Er war eigentlich sehr erschöpft. Das viele Wirken von Magie der letzten Tage hatte ihn viel Kraft gekostet, weshalb er auch bei dem letzten Kampf keine tragende Rolle mehr gespielt hatte. Dennoch versetzte er sich in tiefe Meditation, horchte bei geschlossenen Augen auf das Gefüge der Magie. In dieses Gefüge stieß er einen Ruf aus und wartete auf Antwort. Sie erfolgte wenige Augenblicke später. Meistermagier Nordazu musste auf diesen Ruf gewartet haben. Er spürte, wie Nordazu sich seines Körpers bemächtigte. Eine Art Vergewaltigung der Seele. “Was habt ihr zu berichten?“, fragte Lacorto mit der Stimme von Nordazu.
Perdur stellte sich aufrecht hin und antwortet mit fester Stimme: “Tanako ist mit dem Kind entkommen. Sie sind durch eines dieser Portale geflohen. Die Verfolgung ist nicht möglich.“ Sogleich erfolgte die Antwort in einem donnernden: “Was?“
„Euer Versagen kann Euch den Kopf kosten“, zischte Nordazu drohend. „Sie hatten einen Magier bei sich, Tanako Van’ Lorindo Wa und etliche Elbenkrieger“, versuchte sich Perdur zu rechtfertigen. Doch ließ sich Nordazu nicht auf seine Argumente ein. „Es kann doch nicht so schwer sein, eine schwangere Elbin zu töten oder dieses Balg“, schrie der Meistermagier. „Es waren zwei Kinder, eines ist bereits tot“, korrigierte Perdur ihn. „Zwei Kinder? Seid Ihr sicher?“
„Ja, ganz sicher. Eines hatte der Vater. Er ist im Wyke mit dem Kind ertrunken. Das zweite Baby wird auch bald sterben, wenn Ihr mir noch mal eine Chance... .“
„Nichts werde ich“, unterbrach Lacorto mit Nordazus Stimme den Anführer der Söldner. „Ihr habt mich enttäuscht und werdet die gerechte Strafe dafür erhalten. Kehrt augenblicklich nach Ciag zurück.“
„Aber Herr“, versuchte Perdur ihn umzustimmen, doch ließ dieser keinen Einwand zu. „Ich diskutiere nicht mit Versagern!“, zischte sein Herr ihn an. Bevor Perdur etwas erwidern konnte, entschwand Nordazu aus dem Körper des Magiers. Langsam kam dieser wieder zu sich, schwankte etwas, bis er sich fangen konnte. Seine Stirn war übersät von Schweißperlen, er setzte sich auf den Boden, von Schwäche gezeichnet. Lang spürte er die Fänge seines Meisters, dessen Aura, die sich wie ein Parasit in seinen Körper eingenistet hatte.
Perdur interessierte dies nicht. Er wendete sich von Lacorto ab und befahl seinem einzig verbliebenen Söldner den Rückzug nach Ciag. An Lacorto gewandt meinte er kalt: „Wenn Ihr mit Schlafen fertig seid, dann folgt mir. Nordazu lässt man nicht warten.“ Ohne eine Antwort abzuwarten drehte er sich um, überquerte die große Lichtung und war wenig später im Wald verschwunden. Lacorto richtete sich langsam auf, ging mit wackeligen Beinen zu seinem Pferd und folgte dem Söldner.
Nordazu seufzte leise und schüttelte den Kopf. „Versager!“, murmelte er vor sich hin. Bei Perdur war er sich sicher gewesen, dass dieser nicht scheitern würde. Das würde Konsequenzen haben für den Söldner. Eine gerechte Strafe musste er sich noch einfallen lasse. Vielleicht einen Monat lang Wäsche waschen und putzen im Schloss von Ciag. Ja, das wäre eine bessere Strafe als jede Folter. Die Demütigung wäre perfekt und Perdur würde nicht noch einmal versagen.
Nordazus Gedanken kehrten zu den Kindern zurück. In der Prophezeiung stand nichts von mehreren Kindern, aber war auch nie nur von einem Kind die Rede. Der Meistermagier spürte die Anwesenheit des Asranyias deutlich im Gefüge der Magie. Diese Präsenz war die ganze Zeit zugegen, wodurch Nordazu noch vor der Kontaktaufnahme mit Perdur von dessen Scheitern überzeugt war.
Die Aura des Asranyias war zu vergleichen mit einem Kiesel, der in einen Teich fiel und Wellen verursachte. Dieser Kiesel repräsentierte den Heilsbringer, der Teich spiegelte die Magie wieder. Solange die Wellen bestanden, lebte der Asranyias. Bei dessen Geburt war das Gefüge der Magie kurzzeitig derartig aus dem Ruder gelaufen, dass kaum ein Wirken von Magie möglich war. Es kam Nordazu so vor, als ob ein Felsbrocken in den Teich gefallen sei und alles zum Zittern gebracht hatte. Erst nach ein paar Stunden wurde die Flut zu einer sanften Wellenbewegung. Daraus konnte der Meistermagier die enorme Kraft des Asranyias erahnen. Eine Macht, die unbedingt ausgeschaltet werden musste, solange sie noch nicht eingesetzt werden konnte. Er schloss die Augen und sah das Gefüge der Magie vor sich. Ja, der Asranyias lebte, die Wellen existierten immer noch. Der Meistermagier musste sich des Problems anderweitig annehmen. Dieses Mal durfte es kein Versagen geben. Gelang es den Elben, das Kind in Sicherheit zu bringen, würde es für ihn nur schwieriger, diese geballte Macht zum Erliegen zu bringen. Oder vielleicht konnte er sich die Magie selber zu Eigen machen?
Ungläubig schüttelte er den Kopf wegen des Versagens Perdurs. Anscheinend wussten die Elben, dass ihnen Söldner auf der Spur waren. Sonst hätten sie das Elbenweib nicht aus dem Dorf geholt. So wie Perdur berichtet hatte, waren etliche Elben bei der Schwangeren, darunter ein Elbenmagier und Tanako Van’ Lorindo Wa. Gefährliche Gegner, diese Elben. Das wusste auch er. Doch hatte Perdur eine schlagkräftige Truppe zu seiner Verfügung. Nordazu glaubte nicht, dass bei der Reise in der Zwischenwelt soviel Männer ums Leben gekommen waren, dass sie den Elben unterlegen waren. Lacorto wurde extra auf diese Reise mit entsandt.
Nordazu setzte sich in seinen schweren Stuhl, nahm sich Papier und Feder und notierte eine kleine Nachricht in leicht geschwungener Schrift. Als er seine Anweisungen vermerkt hatte, faltete er den Brief zusammen. Er griff nach einer Kerze, die auf seinem Tisch stand und ließ auf den Brief ein bisschen Wachs tröpfeln. Mit seinem Ring versiegelte er die Nachricht. Anschließend begab er sich zur Tür und verließ sein Arbeitszimmer. Dem Flur folgte der alte Mann in südlicher Richtung, bis er eine Kreuzung erreichte. Sein Weg führte ihn weiter nach rechts bis zu einer Treppe, die ihn zum Schlosshof brachte.
Eine Viertelstunde hatte er für die Strecke vom obersten Stockwerk bis hierher gebraucht. Er überlegte bereits, ob er sein Arbeitszimmer nicht in einem der unteren Stockwerke unterbringen sollte. Da wäre der Weg nicht so lang. Die Diener, die ihm begegneten, verbeugten sich stets unterwürfig und mit einer Spur Angst. Ein kleines Lächeln erschien auf dem verrunzelten Gesicht des Meistermagiers. Ja, so sollte es sein. Ein jeder wusste um die Gefährlichkeit seiner Person. Nur Torak war zu dumm, das zu erkennen. Und als ob er den Teufel gerufen hätte, sah Nordazu den Kriegsherrn über den Hof rennen. Mit schnellen Schritten und in offenbar schlechter Laune stieß er jeden beiseite, der ihm zu nahe kam und überschüttete denjenigen mit einem Schwall von Flüchen. Torak ging in den Pferdestall und kam mit seinem gesattelten Pferd wieder heraus. Er schwang sich in den Sattel, wendete brutal das Tier, so dass es sich aufbäumte. Nur mit Mühe schaffte er es, das Tier unter seine Kontrolle zu bekommen. Wie ein Wahnsinniger preschte er an den Schlosstoren vorbei. Unkontrollierbare Wut war ein gefährlicher Feind, dachte sich Nordazu. Sie konnte es schnell zu einer Fehleinschätzung einer Situation kommen und somit zum Tode führen. Dass Torak in seiner Wut seiner Umgebung keinerlei Beachtung schenkte, bewies die Tatsache, dass er den Meistermagier nicht bemerkt hatte, obwohl dieser mitten auf dem Hof stand.
Nordazu setzte sich wieder in Bewegung und erreichte wenig später sein Ziel; den Verschlag seiner Kuriervögel. Es handelte sich hierbei um schwarz gefiederte Tiere, ein jeder größer als eine Ratte und mit enorm gefährlichem Schnabel und Krallen versehen. Keiner der Diener wagte sich in die Nähe des Verschlages, da die Vögel alsgleich wild mit den Flügel zu schlagen begannen und einen markerschütternden Schrei ausstießen. Nordazu öffnete den Verschlag und hielt ruhig seine Hand hinein. Einer der Vögel sprang ganz zahm auf seine Hand und ließ sich von dem Meistermagier nach draußen bringen. Die Krallen des Vogels bohrten sich schmerzhaft in seine Hand, doch spürte Nordazu diese Winzigkeit erst gar nicht. Er griff mit der freien Hand in die Tasche unter seinem Gewand und holte den erst kürzlich geschriebenen Brief heraus. Schnell hatte er ihn am Bein des Tieres befestigt und flüsterte dem Vogel sein Ziel zu. Nordazu hob seinen Arm mit viel Schwung in die Höhe, so dass der Vogel genug Schwung bekam und mit einem lauten Schrei davon flog. Nordazu schaute ihm so lange nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann verschloss er wieder den Verschlag und begab sich zurück zu seinem Arbeitszimmer.
Kein Versagen mehr, dachte er sich. Nicht mit den Murlocks aus dem Gebirgszug vom Rückrat der Welt. Sehr bald würde er eine Antwort erhalten, morgen früh schon. Ein kleines bösartiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Es war ein Lächeln der Vorfreude, das der Asranyias bald tot sein würde. Und dann begann endlich die große Stunde von ihm, von Meistermagier Nordazu Galyris Holdro.
Der große Elb spürte nichts mehr. Ihm kam es nicht so vor, als ob er eine Reise antreten würde. Er spürte nichts beim Eintritt in das Wykportal, noch spürte er die Reise hindurch. Es war weder warm noch kalt. Keine Geräusche waren zu hören, keine anderen Lebewesen zu sehen. Es schien, als sei Tanako das einzige Wesen hier. Instinktiv hielt er Anysa an sich gedrückt. Selbst Farben gingen in dem grauen Zwielicht, in das er getreten war, unter. Er konnte keinen Boden entdecken, spürte aber, dass er auf festem Untergrund lief. Fast schien es, als ob er in einen Nebel geraten wäre. Er drehte sich um seine Achse, doch war der Eingang des Wykportals nicht zu sehen. Dabei hatte er doch nur einen Schritt hinein gemacht. Auch blieb Sindor weiter spurlos verschwunden. Tanako rief nach dem Kundschafter, bekam aber keine Antwort. Seine Stimme klang hohl und irgendwie gedämpft, egal wie laut er rief. Ein Mensch wäre jetzt wahrscheinlich in Panik geraten, da der Weg zurück offensichtlich nicht mehr möglich war und auch der Weg vor ihm nicht erkennbar war. Doch die elbische Gelassenheit akzeptierte diese Tatsache. Tanako wusste, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gab, als ein Mensch je erahnen würde. Einen Schritt setzte er vor den anderen, dann war plötzlich sein linkes Bein verschwunden. Er zog es zurück und es erschien wieder vor ihm. „Hier ist also der Ausgang“, murmelte er vor sich hin. Er machte denselben Schritt noch einmal, sein Bein verschwand erneut. Kurz darauf schob er seinen Körper langsam nach, berührte mit dem Gesicht das graue Zwielicht, ohne irgendetwas zu spüren und war wenig später aus der Zwischenwelt entstiegen.
Der Nebel begann sich zu lichten, Schemen wurden erkennbar und leise Geräusche waren zu hören. Mit dem nächsten Schritt sah er Bäume vor sich. Er kam ins Stolpern , da er einen Absatz übersehen hatte. Jemand fing ihn auf, bevor er vollends stürzte. Es war Sindor, der ihn glücklich anlächelte. „Seid Ihr beide wohlauf?“, erkundigte sich der Kundschafter und blickte ihn mit nunmehr besorgten Augen an. „Uns geht es gut“, antwortete Tanako erleichtert. „Es war eine eigenartige Reise. Sie kam mir wie Stunden vor, doch ist der Stand der Sonne unverändert.“ Sindor nickte ihm beipflichtend zu. „Ja, man muss sich erst daran gewöhnen. Die Reise hat nicht mehr als ein paar Sekunden gedauert, Tanako. Aber man gewöhnt sich an das eigenartige Gefühl.“
„Immerhin habt Ihr so viele hundert Meilen zurückgelegt“, sagte eine ihm unbekannte Stimme. Tanako richtete seinen Blick an Sindor vorbei und entdeckte zu seinem Erstaunen eine Gruppe von Elben, aus sechs Personen bestehend. Verwundert wollte er eine Frage stellen, als derselbe Elb, der gerade das Wort an ihn gerichtet hatte, weiter sprach: „Ihr scheint erstaunt zu sein, uns zu sehen, Tanako Van’ Lorindo Wa. Mein Name ist Filsondre On’ Le Merman.“ Der Sprecher verbeugte sich vor Tanako. „König Marek sandte uns zur Sicherheit aus, Euch am Onaliportal zu treffen. Er ahnte, dass Ihr verfolgt werdet und wollte die Mission nicht gefährden. Wir warten bereits seit geraumer Weile auf Euch und hatten Anweisung, erst abzureisen, wenn neue Befehle aus Tharul eintreffen.“ Filsondre blickte ihm in die Augen und reichte Tanako die Hand. Dieser nahm sie herzlich an. „Es freut mich sehr, Euch hier zu sehen, Filsondre. Meine Kameraden sind tapfer gestorben, als sie den Asranyias beschützten. Leider ist die Mutter des Babys bei der Geburt gestorben und der Vater ist mit dem Sohn in den Fluten des Wyke verschollen“, fasste Tanako kurz die Geschehnisse zusammen. „Ihr seht also, wir können jede Hilfe gebrauchen. Auch wenn meine Verfolger nicht durch dieses Portal kommen können, so wird der Meistermagier einen anderen Weg finden“, erklärte der große Elb und verdeutlichte so, dass er schnellstmöglich aufbrechen wollte.
„Die neue Ausgangslage ändert unseren Plan. Ich sehe, Ihr habt ein Kind bei Euch. Ihr werdet nicht nach Tharul reisen, sondern direkt nach Anagard. Dies ist der schnellste Weg. Wir werden Euch begleiten. Die Pferde stehen bereit, wir brechen sofort nach Anagard auf“, erklärte Filsondre. Ohne Anysa weiter eines Blickes zu würdigen, drehte er sich um und ging zu dem anderen Elbenkrieger. Tanako und Sindor konnten sich ein Pferd aussuchen, da Filsondre mehr Pferde mitgebracht hatte, als notwendig wären. Die restlichen Tiere, die eigentlich für die anderen Elben in Tanakos Gruppe gedacht waren, wurden freigelassen. Sie werden nach Tharul zurückkehren, wie es der Meister der Pferde ihnen beigebracht hatte.
Filsondre führte die nunmehr auf acht Elben angewachsene Gruppe um Anysa an. Es ging an den westlichen Ausläufern des Hyranigebirges über zweihundert Meilen im schnellen Tempo entlang. Es blieb keine Zeit, die wunderschöne Natur zu genießen, die das Gebirge zu bieten hatte. Das elbische Volk war stolz auf dieses Fleckchen Erde. Adarak wurde nicht ohne Grund als das schönste Land auf Landory bezeichnet. Herrliche Wälder mit den verschiedensten Baumarten, die es sonst nirgends gab, lassen die Augen der Besucher leuchten. Einzigartige Lebewesen hatten hier ihr Zuhause. Flüsse, die im Sonnenlicht glitzerten, als läge Diamantenstaub darin. Berge, manche so hoch, dass ihre Spitzen in der Wolkendecke verschwanden und auf denen immer Schnee lag. Bei klarer Sicht sah man ihre majestätischen Kronen, funkelnd und glitzernd in der Sonne. Stolz zeigte sich die Natur von ihrer schönsten Seite, egal zu welcher Jahreszeit.
Dieses Land wurde den Elben Jahrhunderte lang streitig gemacht. Immer wieder versuchten die Menschen der Mark, in Adarak einzudringen. Vor vielen hundert Jahren kam es zum Krieg um Adarak. Nur die Diplomatie der Elben und die vollständige Aufgabe Morwinda’s führten zum Frieden. Morwinda, einst das gesamte Zwei-Strom-Tal umfassend, war nun Bestandteil der Nordmark. Zur Zeit herrschte ein Bürgerkrieg in der Mark, so dass die Menschen mit sich selbst beschäftigt waren und Adarak vorerst in Ruh ließen. Viele Familien flohen in das Yanuzi Gebirge, dem natürlichen Grenzwall der Ostmark zu dem Land der Elben.
Zumeist zog es die Menschen auf die adarakanische Seite, wo Orte wie Iliahs Heimatdorf Dara gegründet wurden. Hier lebten Menschen und Elben im friedlichen Miteinander. Es blieb nicht aus, dass es zu Reibereien zwischen den verschiedenen Rassen kam. Menschen und Elben waren von Natur aus grundverschieden. Die Menschen sahen die Natur oft als ihren Feind an, den es galt, zu unterwerfen. Sie holzten ganze Wälder ab, verschmutzen die Seen und traten die Seele der Natur mit Füßen. Dieses Verhalten war den Elben zuwider. Jeder Versuch, ihnen den Einklang mit Natur und Tier näher zu bringen, scheiterte bereits im Ansatz. Aus diesem Grund zogen sich die Elben immer weiter zurück, verschwanden aus den Grenzdörfern und kehrten nie wieder zurück.
Es war ein schleichender Prozess, aber unaufhaltsam. Würde König Marek den Menschen jedoch verbieten, Adarak zu betreten und die Grenzen schließen, würden das die Bewohner der Mark als kriegerischen Akt ansehen und womöglich einen Krieg vom Zaun brechen. Das elbische Volk sah keine Bedrohung in den Menschen, auch nicht, wenn es zu einem Krieg kommen würde. Zurzeit herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände in der Mark, so dass eine geeinte Armee nicht aufzustellen wäre. Der Zwist der Königssöhne führte unweigerlich zum Krieg. Vielmehr sah der Elbenkönig das Problem darin, dass die Mark geschwächt war gegenüber einer Invasion seitens Anarubas. Die Elben isolierten sich zusehends, brachen die Kontakte zu den Menschen ab, behielten sie aber dennoch im Auge. Denn das Schicksal der Menschheit entschied letztlich auch das der Elben. Überfiele Anaruba die Mark und konnte er sie sich einverleiben, war dies eine echte Bedrohung für Adarak.
Aus eben diesen Gründen verhielten sich die Elben ruhig. Sie versuchten, das Schlimmste zu verhindern, was Menschen anrichten könnten. Wenn ein Baum gefällt wurde, pflanzte ein Elb einen neuen. Verschmutzten sie den Fluss, versuchten die Elben, ihn wieder zu reinigen. Sie verhinderten, dass bei einer Jagd, die nicht aus Hunger, sondern nur des Spaßes wegen unternommen wird, die Jäger ihre Ziele nicht trafen, sofern es in ihrer Macht stand. Aus den ganzen negativen Eigenschaften der Menschen schien es, als ob sie einer Rettung nicht würdig wären. Und dennoch war es anders. Denn unter den vielen Menschen gab es einige mit einem guten Herzen, wie es bei Andero der Fall war. Menschen, die einander liebten, die andere mit ihrem Leben schützten.
Die Elben versuchten, die menschlichen Fehler zu beheben. Sie hofften, dass sich die Mark wieder vereinte, der Bürgerkrieg beendet würde und die jetzigen Flüchtlinge wieder in ihre Heimat gingen.
Es ging bei der Rettung des Asranyias nicht nur darum, die Mark und angrenzende Länder vor Meridor zu schützen, sondern auch darum, Adaracks Überleben zu sichern. Und dies war nur möglich, in dem die Menschen dem Land der Elben fernblieben und Anaruba in seinem Land Meridor blieb.
Schnell wie der Wind ritten die Elben mit dem Baby entlang der Ausläufer des Yanuzi Gebirges. Am ersten Tage schafften sie nur dreißig Meilen. Weil Sindor und Tanako erst am späten Nachmittag durch das Onaliportal gekommen waren, konnten sie nun auf Grund des schwindenden Tageslichts nicht mehr weiter reiten. Tanako blieb nur wenig Zeit, sich das Onaliportal genauer anzusehen. Für ihn sah es genauso aus wie das Wykportal. Später erfuhr er, dass die sieben Portale alle identisch waren.
Als sich die Sonne von der Welt mit einem grandiosen Sonnenuntergang verabschiedete, suchten die Elben sich einen geeigneten Lagerplatz und schlugen schließlich an einer windgeschützten Stelle ihr Lager auf. Es war völlig sinnlos, die Pferde in der Dunkelheit weiter voran zu treiben. Das Risiko, dass sie sich verletzten, war einfach zu groß. Endlich hatten sie Zeit, dem Naturschauspiel voller Ehrfurcht entgegen zu blicken. Die Sonne hüllte die Berge in ein grelles Rot , ließ sie glühen, als ob sie in Flammen stehen würden. Jeder Sonnenuntergang war ein Erlebnis, egal wie oft man ihn schon beobachtet hatte.
Tanako liebte es, die Sonne zu beobachten, wenn sie die Welt mit ihren Strahlen weckte oder sich zur Ruhe begab. Aufgewachsen an den östlichen Ausläufern des Hyranigebirges, beobachtete Tanako einst jeden Tag den Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Dabei sah er zu, wie die Sonne hinter den Bergen verschwand. Manchmal aber ging er auch auf die andere Seite der Berge und wartete solang, bis die Sonne den Horizont geküsst hatte. Um dieses Schauspiel miterleben zu dürfen, musste er mehrere Tage durch das Hyranigebirge laufen, um auf die andere Seite zu kommen. Ein schwieriger Weg, den er jedoch gern auf sich nahm. Oftmals war für ihn auch nur der Weg das Ziel.
Der Elb beobachtete das Naturschauspiel bis zu seinem Ende. Ein Blick zu Anysa sagte ihm, dass sie die Musik des Sonnenunterganges gespürt haben muss. Mit einem friedlichen Lächeln schlummerte sie in seinen Armen. Ehrfurcht vor der Natur wollte er sie lehren. Sanft strich er dem kleinen Mädchen über den winzigen Kopf. Anysa schaute zu ihm auf, gab ein kleines Gähnen von sich und fing unvermittelt an zu achen. Unverständliches brabbelt sie vor sich hin und streckte die kleinen Händchen nach ihm aus. Tanako holte sie aus der improvisierten Tragetasche und hielt sie vor sich hin. Kleine Finger tasteten sein Gesicht ab und kniffen ihn in die Nase.
Vom ersten Tag an, wo er die Kleine gesehen hatte, liebte er sie wie seine eigene Tochter. Seit ihrer Geburt wurde sie verfolgt und man versuchte unablässig, sie zu töten. Sie war eine Vollwaise, man hatte ihr die Eltern und ihren Zwillingsbruder genommen. Bisher konnte er seine kleine Prinzessin immer beschützen. Doch wie lange noch? Bei Andero und Iliah hatte er versagt. Doch das Verschwinden von Aris wog noch schwerer. Tanako glaubte nicht, das Anysas Zwillingsbruder noch am Leben war.
Kein Baby konnte diese Strömung des Wyke überlebt haben. Nun musste er seine ganze Kraft auf Anysa verwenden. Zusammen mit dem kleinen Mädchen würde er durch das Portal von Anagard gehen, um in einer anderen Welt zu leben und sie dort zu schützen. Dies war zumindest der Plan des Elbenkönigs, wenn auch etwas anders gedacht, und entsprach auch dem Wunsch Tanakos. Ein wohl duftender Geruch riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte nicht bemerkt, wie Sindor in der Zwischenzeit des Lagerfeuer geschürt und eine Suppe zubereitet hatte. Tanako stand auf und ging zu seiner am Boden liegenden Satteltasche. Ein kurzer Blick hinein zeigte ihm, dass von den Milchfläschchen für Anysa nicht mehr viel übrig waren. Sie mussten dringend Nahrung für das Baby besorgen. Tanako nahm eine Flasche heraus, erwärmte sie kurz über dem Feuer und hielt sie Anysa hin. Mit ihren kleinen Fingern hielt sie die Flasche fest und trank sichtlich genüsslich ihre Milch. Das niedliche Schauspiel zauberte ein Lächeln auf alle Gesichter.
Während Anysa trank, berichtete Tanako Filsondre von der Verfolgung durch Perdur.
Bis weit in die Nacht erzählte Tanako von den Geschehnissen. Nüchtern und ohne jede Gefühlsregung zählte er die Fakten auf, wie es Elben zu Eigen war. Keiner unterbrach ihn, alle lauschten seinen Worten. Als er geendet hatte, herrschte eine Weile gespannte Stille. Sie wurde nur durch das Zirpen der Insekten gestört und den Geräuschen des Waldes. Anysa war es, die das Schweigen brach und in ihrer Babysprache auf Tanako einplapperte. Das löste alle aus ihrer Erstarrung und ein jeder begab sich zu seinem Nachtlager. Tanako legte Anysa neben sich und deckte sie liebevoll zu.
Die kleine Prinzessin weckte in ihm Gefühle, die ihm so gänzlich unbekannt waren. Missbilligend runzelte er seine glatte Stirn. Eng packte er den Säugling ein. Anysa fühlte sich wohl und schlief schnell ein. Auch Tanako legte sich zum Schlafen hin. Nach ein paar Stunden wurde er von einem Elben geweckt, um seine Schicht der Wache zu übernehmen. Dieser Elbe legte sich zu Anysa, um sie im Notfall zu schützen.
Tanako setzte sich auf einen Stein, von wo aus er das Lager und den Wald überblicken konnte. Grübelnd dachte er über seine neuen väterlichen Gefühle gegenüber Anysa nach. Sein Verstand sagte ihm, dass solche Gefühle unangebracht waren, Anysa war nicht seine Tochter. Doch sein Herz dachte anders darüber.