Kapitel 7 – Der Antarywald
Ein neuer Tag im Hyranigebirge begann. Kalt und grau war die Sonne kaum zu sehen, der Wind pfiff eisig durch das Gebüsch. Von einem Tag zum anderen hatte der Herbst Einzug gehalten in diese Schlucht.
Schnell war das Lager abgebaut, alle Sachen verstaut. Die Elben liefen hintereinander wieder auf den Pfad Richtung Anagard. Langsam wurde der Pfad etwas breiter. Nach zwei Stunden standen sie vor den Ausläufern eines riesigen Waldes.
„Der Antarywald“, sagte Filsondre zu den anderen. Dicht standen die Bäume, zu kuriosen Gestalten verzerrt, Fichten und Tannen ließen keinen Blick ins Innere zu. Dicke Äste wanden sich schlangenartig um ganze Baumstämme, unentwirrbares Strauchwerk versperrte den Weg, Efeuranken krochen auf dem Boden, als ob sie nur auf ein Opfer warten würden. Brombeeren prangten am Dornengestrüpp, überzogen von pelzigem Fadengespinst seltener Spinnenarten. Darunter wanden sich Farne und Moose über den brackigen Humus, bedeckt von Laub und abgesprungenen Nadeln. Die Luft war feucht und schwer, durchsetzt von winzigen Mücken, die es in dieser Jahreszeit gar nicht mehr geben dürfte. Die stickige Luft war geschwängert von Fäulnis und aufgedunsener Erde. Der Geruch erinnerte stark an die Mondrids. Aus den Baumwipfeln halte das Geschrei der Ammern und Finken. In regelmäßigen Abständen verstummte es, so dass nur noch das Knacken, Knirschen und Krachen berstender Äste zu hören war. Ein unheilvolles Geräusch wie von einem prasselnden Feuer. Dies war kein Ort, der zum Betreten einlud. Vielmehr schien es, als warne er jeden Eindringling vor den Gefahren des Antarywaldes.
„Wir müssen durch den Wald sein, bevor es dunkel wird. Es ist gefährlich, nach Einbruch der Nacht sich im Inneren des Antarywaldes aufzuhalten“, erklärte Filsondre. „Ich habe schon viele Geschichten über diesen Wald gehört“, sagte Sindor, „doch schenke ich ihnen keinen Glauben.“
„Das solltet Ihr aber“, wies ihn Filsondre zurecht.
„Es gibt nicht viele Elben, die einen Fuß in den Wald gesetzt haben. Und davon hat es nur eine Handvoll wieder hinaus geschafft.“
„Und das zumeist in einem verwirrten Zustand“, fügte Dorram hin zu. „Die meisten Elben haben nie wieder zu voller geistiger Stärke zurück gefunden.“ Gespanntes Schweigen breitete sich aus.
Nach einer sehr kurzen Rast liefen die Elben weiter. Anysa verhielt sich genauso ruhig wie ihre Begleiter. Keiner sagte einen Ton, niemand versucht ein Geräusch zu verursachen. Die weichen Stiefel der Elbenkrieger hoben sich trotz ihrer Leichtigkeit nur sehr schwerfällig über den morastigen Grund. Mühsam schlugen sie die Dornenranken beiseite und schützen ihre Gesichter von den lästigen Stechmücken.
Nach mehreren Stunden erreichten sie eine Lichtung. Zwischen den Baumwipfeln erschien ein sonniger Korridor, die ersten Sonnenstrahlen seit Stunden. Golden brach das Herbstlicht zwischen den Ästen durch. Es schien, als seien die dicken Bäume vor der Macht der Sonne zurück gewichen. Farne und Gräser streckten sich dem Licht entgegen, verblühende wilde Orchideen und hochgewachsene Fingerhüte waren überall verstreut.
Dieser abgelegene Teil des Hyranigebirges mit der Schlucht und dem Antarywald steckte voller Gegensätze. Direkt hinter dem Eingang zur Schlucht grenzte ein Wald von unglaublicher Schönheit. Jedoch wurde dieser bevölkert von den gefährlichen Mondrids. Hinter diesem Wald folgte der Antarywald, ein düsterer Ort, eine Warnung an das Leben selbst. Doch barg dieser Ort eine Lichtung in sich, die zum verweilen einlud. Die Lichtung war so gewaltig, das Tanako den Anfang des gegenüberliegenden Waldrandes nur schemenhaft erkennen konnte. Sanft wehte der Wind über das Gras. Es war ein friedlicher Ort, umgeben von Fäulnis und Tod, der dadurch noch mehr zum Ruhepol wurde.
Langsam schritten die Elben über die Waldlichtung gen Osten, Anagard entgegen. Doch schien es, als kämen sie dem gegenüberliegenden Waldrand keinen Meter näher. Die Wiese entpuppte sich als klebriger Schlammboden. Die Elben sanken bis zu den Knien ein. Als sie die Mitte der Wiese erreichten verschwand die Sonne hinter dem Horizont. Nur schwach war noch ein Lichtschimmer zu erkennen.
„Zu spät“, flüsterte Filsondre. Die Geräusche des Waldes verstummten. Die leichte Prise des Windes wurde stärker, bis sich die Bäume anfingen zu bewegen. Kein Vogel war mehr zu hören, nur das Geräusch des Windes, der durch den Antarywald fegte. Tanako blieb stehen, die Augen wachsam auf den kaum noch zu erkennenden Waldrand gerichtet. Anysa fing an zu weinen und griff hilfesuchend nach Tanako. Auf der Lichtung herrschte eine düstere Stimmung.
„Ist dies die Tochter, die du dir immer gewünscht hast, Geliebter?“, hörte Tanako eine Stimme neben sich. Er kannte diese Stimme ganz genau und drehte sich augenblicklich um. „ Rainawy!“, sagte er ungläubig und schaute seiner Ehefrau in die Augen. Sie trug das wunderschöne grüne Kleid, das er ihr vor Jahren zum Fest der Kanabha geschenkt hatte. Ihr glattes Haar hing offen bis zu ihrer Taille herab. „Wie kannst du hier sein? Das ist nicht möglich.“
Er schaute sich verwirrt nach den anderen um. Doch konnte er keinen seiner Gefährten entdecken. Er war allein mit Anysa und Rainawy. Seine Frau kam näher, legte sanft ihre Hand auf seine Wange. „Meinst du, die kleine Anysa kann die Leere in deinem Herzen füllen?“
Tanako ging einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. „Du bist nicht echt. Du bist eine Illusion.“ Er blickte zum Waldrand. „Das muss an diesem Wald liegen. Das ist das Geheimnis.“
Tanako drehte sich um und wollte sich von seiner Frau entfernen. Sie stand aber plötzlich wieder vor ihm. „Du hast dir schon immer ein Mädchen gewünscht. Hast du deshalb ihren Zwillingsbruder sterben lassen?“ Rainawys Stimme war nun bedrohlich leise und anklagend gegen ihn gerichtet. Tanako schüttelte erneut den Kopf. „Ich habe Aris nicht sterben lassen. Er ist mit seinem Vater in den Fluten des...“
„Nein“, unterbrach ihn Rainawy mit energischer Geste, „nicht Andero sondern du allein bist schuld am Tod des kleinen Aris. Nur du.“ Ihr Finger war auf ihn gerichtet, die Anklage niederschmetternd. „Ich konnte nichts für die beiden tun. Ich musste Anysa das Leben retten. Sonst wären beide gestorben“, versuchte sich Tanako zu erklären.
„Oh nein, nur du allein hast ihn auf dem Gewissen. Und Anysa schickst du genauso in den Tod.“ Die Augen vor Schrecken weit aufgerissen, presste er das Baby an sich. „Niemals würde ich zulassen, dass ihr etwas geschieht.“
Rainawy, nun sanfter, antwortete: „Dann geh mit ihr weg. Lauf soweit du kannst. Adarak hat so viele schöne Landstriche, die hervorragend als Versteck dienen. Zieh Anysa auf wie dein eigenes Kind. Denn wenn du sie nach Anagard bringst, wird dies ihren Tod bedeuten.“ Tanako, mit sich deutlich ringend, blickte angestrengt zu Boden.
„Hör auf deine Frau, Bruder“, ertönte es von der anderen Seite. „Kerana, du auch?“ Seine Schwester stellt sich neben Rainawy. „Du kennst meine kleine Tochter. Du hast dich immer liebevoll um sie gekümmert. Würdest du wollen, dass ihr solch ein Schicksal geschieht wie es bei Anysa sein soll? Willst du das wirklich?“
„Nein, natürlich nicht. Kerana. Aber nicht ich bestimme das Schicksal...“
„Du allein bist für dein Leben verantwortlich, Tanako“, erwiderte seine Frau. „Und nur du kannst deine Zukunft und die von Anysa bestimmen“, fügte seine Schwester hinzu. Die Worte ließen ihn nicht mehr los.
„Was, wenn ich einfach mit ihr weggehe?“, fragte er sich leise. „Wir würden beide ein sehr schönes Leben haben“, flüsterte er der kleinen Anysa zu und strich ihr sanft über den Kopf. Beide Frauen traten an seine Seite. „Vater und Tochter, für alle Zeiten“, sagten beide zu Tanako. Dieser lächelte nur.
Dorram El’ Isero bemerkte die zunehmende Dunkelheit mit Besorgnis. Seine Gefährten verschwanden immer mehr in der alles verzehrender Schwärze. Er drehte sich einmal um die eigene Achse. Nichts war mehr zu hören außer seinem eigenen Atem.
Ein kleiner Lichtschimmer erregte seine Aufmerksamkeit. Seine rechte Hand schloss sich um den Knauf seines Schwertes. Er prüfte, ob es locker in der Scheide saß. Das Licht wurde heller, eine Silhouette bildete sich heraus. Undeutlich konnte Dorram die Form eines Körpers erkennen. Geduldig wartete er, was aus dem Licht zu ihm kam.
Die Konturen wurden kräftiger, bis er schließlich eine ihm vertraute Person erkannte.
„Vater“, sagte er ruhig. „Ich weiß, dass du nicht real bist. Also geh hinfort, böser Geist.“ Eine energische Geste Dorrams unterstrich seine Worte. „Mich kannst du nicht täuschen!“
„Du hast mich enttäuscht, Sohn“, sagte sein Vater mit grollendem Unterton. Ohne Gefühlsregung sprach er, mit strengem Blick. Er trug einen blauen Wams und weiße Beinkleider. Seine Füße steckten in weichen Stiefel aus braunem Wildleder. Die Haare waren streng zu einem Zopf gebunden. Der Zopf wackelte, als der ältere Herr den Kopf schüttelte.
„Du solltest die Tradition unserer Familie fortführen. Du solltest ein großer Magier werden, wie dein Vater und sein Vater. Doch du musstest ein Krieger werden, musstest in die Leibgarde des Königs eintreten. Du hast Schande über uns gebracht, Dorram El’ Isero.“ Anklagend zeigte der Vater auf seinen Sohn. „Es war meine freie Entscheidung. Du weißt, dass mein magisches Potential zu gering ist. Meine Berufung liegt darin, unseren König zu schützen.“
„Du rennst den ganzen Tag wie ein Hund hinter ihm her und bist nicht mehr als ein Befehlsempfänger. Wo ist da unser Stolz geblieben, Dorram?“, schrie Jolado Mag’ Isero seinen einzigen Sohn an.
„Das ist nicht wahr und nun verschwinde und lass mich in Ruhe.“ Dorram, sichtlich angegriffen von den Worten seines Vaters, kehrte ihm den Rücken zu. Jolado trat näher an seinen Sohn heran, legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Du kannst die Schmach aber wieder von unserer Familie nehmen, mein Sohn“, sagte er beschwichtigend. „Geh nach Haus, komm zu mir zurück. Lass diese unsinnige Mission sein.“
„Nein, das kann ich nicht. König Marek hat mir persönlich...“
„Es ist egal, was Marek sagt“, unterbrach ihn sein Vater. „Du bist ein selbständig denkender Elb mit magischen Fähigkeiten. Komm zu mir zurück und wir werden dich zu einem großen Magier ausbilden.“
„Ich wünschte das würde gehen, Vater“, gestand Dorram ein. „Dann komm mit mir!“
Jolado reichte ihm die Hand, als sich Dorram zu ihm umdrehte. „Komm!“, fordert er ihn erneut auf.
Kundschafter Sindor lief über die Lichtung. Nach einer Weile hatte er den Waldrand immer noch nicht erreicht. Er runzelte die Stirn. So groß war diese Lichtung nicht, dennoch kam er nicht zum Waldrand. Er blieb stehen und drehte sich um. „Hier stimmt was nicht“, murmelte er vor sich hin.
„Das einzige, was nicht stimmt ist, das Ihr am Leben seid und ich nicht, Sindor Da’ Rysin“, drang eine weibliche Stimme in die Gedankengänge des Kundschafters. Plötzlich und unerwartet stand Iliah vor ihm. Vor Schreck trat er einen Schritt zurück.
„Ihr seid tot, Iliah, im Kindbett gestorben. Ihr könnt nicht hier sein.“ Schön, wie sie im Leben gewesen war kam Iliah auf ihn zu. Ihr helles Haar war zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt. Ihre Augen leuchteten in einem hübschen blau, ein zartes Rosa bedeckte ihre Haut. Wie das blühende Leben stand sie vor ihm. Ihr gelbes Kleid wehte sacht im Wind, die untergehende Sonne ließ ihre Konturen erstrahlen.
„Seht mich an“, forderte sie ihn auf. „Seht wie ich einst war!“ Die strahlende Erscheinung Iliahs änderte sich abrupt. Ihre Wangen fielen ein, die Augen verloren jeden Glanz. Das Haar hing ihr wirr vom Kopf, die Haut bekam einen kranken Schimmer. „Und seht wie ich nun aussehe. Ihr seid schuld daran, das ich gestorben bin! Hättet Ihr mich gewarnt, zeitig genug, um fliehen zu können, wäre ich nicht tot.“
Sindor schüttelte den Kopf. „Dies war alles vorherbestimmt, Iliah. Das war Euer Schicksal. Und es wird sich auch bei Anysa erfüllen.“ Etwas weicher fügte er hinzu. „Es tut mir sehr leid.“
„Nein, so leicht kommt Ihr mir nicht davon.“ Iliah kam auf ihn zu, ihre Hände umschlangen seinen Hals. Sindor versuchte sich zu wehren, seine Hände schlossen sich um ihre Finger und bog sie nach außen. Ein knacken ertönte und er hielt plötzlich ihren Daumen in der Hand.
„Oh“, sagte er schlicht. Iliah schaute ihre verkrüppelte Hand an, das Gesicht wutverzerrt. „Reicht es nicht, dass Ihr mich umgebracht habt. Müsst Ihr mich jetzt auch noch verstümmeln?“ Sindor hielt ihr den Daumen hin und sagte schlicht: „Entschuldigung.“ Doch Iliah schlug ihm ihr Körperteil aus der Hand. „Das hilft mir auch nicht mehr.“
„Was ist es, das Ihr von mir wollt? Ich kann Euren Tod nicht rückgängig machen.“ schrie Sindor sie an.
„Sucht meinen Sohn, Kundschafter“, erwiderte die Elbin. „Findet ihn, denn er ist nicht tot. Rettet ihn, um Eure Schuld zu begleichen!“
Bäume schissen aus dem Boden empor. Alarb Rei’ Verlor versuchte ihnen aus dem Weg zu gehen. Unter seinen Füssen vibrierte der Waldboden. Schnell sprang er zur Seite, denn plötzlich kam ein Baum genau dort aus dem Boden, wo er gerade gestanden hatte. Alarb schaute sich nach seinen Gefährten um, konnte aber niemanden entdecken. Er rief nach ihnen, ebenso ohne Erfolg. Ein Schatten bewegte sich zwischen den Bäumen, erregte die Aufmerksamkeit des Kriegers.
„Wer ist da?“, fragte er in den Wald. Keine Antwort. Ein Ast knickte um, ein Schatten huscht dicht an Alarb vorbei. „Ich habe gefragt, wer da ist. Zeigt Euch!“, verlangte er zu wissen. Wieder erhielt er keine Antwort. Sein Bogen gleitet wie von selbst in seine Hand, er legte einen Pfeil an die Sehne und spannte sie bis zum Anschlag. Wieder huschte der Schatten vorbei. Alarb zielte zwischen die Bäume. Kurz bevor er den Pfeil von der Sehne ließ hörte er eine Stimme.
„Schießt nur Alarb. Dann seid Ihr endlich sicher vor mir.“ Die Stimme gehörte einem alten Mann, dessen Haut sich wie brüchiges Pergamentpapier über die Knochen spannte. In eine schwarze Robe gehüllt war er kaum im Dunkel der Bäume zu sehen.
„Kommt heraus und Euch wird nichts geschehen“, versicherte Alarb dem Unbekannten. Dieser trat ein paar Schritte aus der Dunkelheit. „Wer seid Ihr und woher kennt ihr meinen Namen?“, fragte ihn der Elbenkrieger. Immer wachsam im Auge behaltend suchte Alarb die nähere Umgebung ab. Der alte Mann war ihm unheimlich. Ob er ein Geschöpf dieses Waldes war? Alarb wusste es nicht. Sein Gegenüber senkte die bereits erhobenen Arme.
„Mein Name ist Nordazu Galyris Holdro, Meistermagier von Meridor, erster Magier des ehrenwerten Herrschers Anaruba, der bald ganz Landory unterjochen wird. Ich bin der, der Euch jagt. Ich bin der, der Euch töten wird!“
Er griff hinter sich und förderte ein Schwert aus Flammen zu Tage. Alarb ließ den immer noch gespannten Pfeil los. Er jagte davon, direkt auf den Meistermagier zu und traf ihn genau in das Herz.
„Ja, getroffen“, freute sich der Elbenkrieger, doch zu früh. Nordazu schaute den Pfeil an, der aus seiner Brust ragte. Er berührte ihn und zog ihn ohne jegliche Anstrengung aus seinem Körper. Mit einer verächtlichen Geste ließ er ihn fallen und fragt den verblüfften Elben „Ist das alles oder könnt Ihr mehr, Elbenkrieger?“ Das letzte Wort sprach er verächtlich aus.
Alarb ließ seinen Bogen fallen und zog sein Schwert aus der Scheide. Nordazu kam auf ihn zu, das Flammenschwert lässig in der Hand haltend. Obwohl der Meistermagier sehr schwach wirkte schien er eine enorme Kraft zu haben, so wie er das Schwert mit einer Hand hielt. Dies bewahrheitete sich dann auch, als er Alarb angriff. Mit unvorstellbarer Schnelligkeit lenkte er sein Schwert auf den Körper des Elben. Alarb parierte den Angriff und hätte sich beinahe damit selbst getötet. Die Wucht von Nordazus Angriff war so groß, das Alarbs Schwert gefährlich nah an seinem Körper gedrückt wurde.
“Tötet mich und Ihr seid der Held, Alarb“, stachelte der Magier den Elben an. „Tötet mich!“
Filsondre konnte nicht glauben, wen er da vor sich stehen sah. Wie aus dem Nichts war sein Gegenüber aufgetaucht. Und er schaut ihm zum verwechseln ähnlich, sein Ebenbild.
„Wie kann das sein?“, flüsterte er. „Wenn dieses Baby nicht wäre, würdest du jetzt in Tharul sitzen“, sprach sein Zwilling an ihn gewandt. „Du wärst an des Königs Seite, wo dein angestammter Platz ist. Und nicht hier, in der Wildnis, gejagt von Söldnern und Dämonen wegen eines Kindes, das du noch nicht einmal kennst.“ Selbst die Stimme war mit seiner identisch, ebenso die Gestik und Mimik beim sprechen. Ohne sich zu rühren hörte Filsondre zu.
Er wusste, dass diesen Wald Geheimnisse umgaben und das Auftauchen seines Zwillings war eine Ausgeburt des Antarywaldes. Auf die Illusion wollte er nicht hören. Doch drangen die Worte unbemerkt in seinen Verstand. „Du hast viele deiner Krieger verloren. Unzählige haben ihr Leben gelassen, um dieses Menschenkind zu schützen. Und dabei ist noch nicht einmal klar, ob sie der Asranyias ist“, redete die Illusion weiter auf den Elbenkrieger ein. „Ich weiß was du dir wünschst. Ich weiß, dass du sie am liebsten tot sehen würdest. Sie umgarnt den Verstand von Tanako. Welcher Elb lässt sich dermaßen zu solchen Gefühlsduseleien herab? Keiner, der normal bei Verstand ist.“ Die Hand zur Faust geballt, redete sich der Zwilling Filsondres in Ekstase.
„Töte sie. Töte sie und befreie Adarak von diesem Übel. Was interessiert dich die Welt der Menschen. Anaruba wird es nicht wagen, Adarak anzugreifen.“ Beschwörend wurden seine Worte. „Doch solange das Menschenbalg hier ist, solange ihr sie beschützt, stellt sie eine Gefahr für Adarak dar. Erst wenn sie tot ist, wird Adarak sicher sein!“
Filsondre rang mit sich. Seine Zweifel waren groß. Nie war er von dieser Mission überzeugt gewesen. Und wenn Anysa etwas passieren würde? Nein, schnell schob er diesen Gedanken beiseite.
Als er wieder aufblickte, sieht er nicht mehr sich selbst, sondern einen Teil von Tharul vor sich. Doch war die Hauptstadt der Elben zerstört. Überall lagen viele Leichen der elbischen Bevölkerung, Männer, Frauen und sogar Kinder. Das Tharuler Schloß war fast völlig zerstört. „Wie kann das sein?“, fragte Filsondre fassungslos. „Wer hat das angerichtet?“
„Anysa!“, sagte seine eigene Stimme, körperlos, doch fest in seinem Kopf.
„Wegen ihr hat Anaruba euch angegriffen. Wegen ihr sind alle tot. Du kennst die Prophezeiung: ‚Den Untergang leidet schließlich ein, die Geburt von Hoffnung und Leid’.“
Kurz herrschte Stille, in dem das Scheinbild die Worte auf Filsondre wirken lassen wollte.
„Als Anysa geboren wurde, hat das Unheil begonnen. Sie ist nicht der Heilsbringer, sondern der Verursacher. Nur durch ihren Tod kann das Unheil rückgängig gemacht werden. So wie du es immer gewusst hast.“
Das Bild des zerstörten Tharuls verschwand und machte einem Baby, gehüllt in einer Decke, Platz. Filsondre, außer sich vor Wut, griff sein Schwert und ging schreiend auf das Kind los. Immer wieder sah er seine tote Familie vor sich, wie sie in ihrem Blut lag, sein Volk, das geschunden unterjocht wurde. Wenn er das Kind tötete, dann käme es erst gar nicht soweit. Den Elben waren Menschen schon immer egal. Das einzige Interesse, das sie an Iliahs Kinder hatten, war die Erfüllung der Prophezeiung.
„Kann ich einfach mit dir weggehen?“, fragte Tanako das Kind in seinen Armen. Anysa schaute ihn an, wie es ein Baby eben kann. „Die Prophezeiung sagt etwas anderes. Doch was, wenn dein Bruder nach lebt. Was, wenn er der Asranyias ist und nicht du?“, lächelnd strich er dem kleinen Mädchen über den Kopf. Der Gedanke, mit ihr ein Leben wie in einer richtigen Familie zu führen, gefiel ihm immer mehr. Doch es meldete sich auch sein Gewissen. Nur ganz klein, aber sehr hartnackig erinnerte es ihn an seine Aufgabe. An die Prophezeiung und die Hoffnung der Menschen, die daran geknüpft war. Vor allem aber daran, das auch das Schicksal Adaraks daran hängen konnte. Und dies wiederum würde seine Familie betreffen.
„Nein!“, sagte er und schüttelt den Kopf. Das kann er nicht verantworten, egal wie sehr er Anysa beschützen wollte. Er würde ihr so zur Seite stehen müssen und immer für sie da sein. Tanako blickte auf, direkt in die Augen seiner Frau. Rainawy schaute ihn wütend an. Aus dem weitgeöffneten Mund kam ein hoher Ton, der in den Ohren schmerzte. Nach einigen Minuten war es vorbei, Stille kehrte wieder ein und Tanako erkannte die Waldlichtung wieder. Die aufgehende Sonne strich sanft die erweckende Natur. „Es ist ja schon wieder Sonnenaufgang“, wunderte sich Tanako. Dies hatte die ganze Nacht gedauert. Für Tanako gar nicht nachvollziehbar. Von seiner Frau und Schwester war nichts mehr zu sehen.
Er hörte das typische Klirren von Schwertern, die aufeinander prallten. Am anderen Ende der Lichtung standen sich Alarb und Filsondre gegenüber. Sie bekämpften sich bis aufs Blut. Tanako konnte es gar nicht fassen und lief augenblicklich zu den beiden Kontrahenten.
So plötzlich wie Iliah aus dem Nichts aufgetaucht war, so schnell war sie wieder verschwunden. In dem einen Augenblick ist war noch da, flehentlich die Hände zu ihm gestreckt und im nächsten nicht mehr. Sindor grübelte darüber nach, ob dies nun eine Illusion war oder wirklich der Geist von Iliah, der ihn um Hilfe bat. Die Waldlichtung kehrte zurück und er blickte direkt in die aufgehende Sonne. „Bereits Morgendämmerung.“ Damit hatte er die Nacht unbeschadet überstanden.
Jemand rannte an ihm vorbei. Es war Tanako, mit Anysa auf dem Arm. Er sah, wohin Tanako willte und eilte ihm zur Hilfe.
Dorram wollte nach der Hand seines Vaters greifen. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab. Wann immer er glaubte, sie erreicht zu haben, rückte sie einen Schritt weiter. Mit jedem neuen Schritt kehrten seine Zweifel zurück. „Ich kann meine Gefährten doch nicht im Stich lassen“, sagte er zu sich selbst. Jolado antworte ihm: „Doch, das kannst du. Kommt mit mir!“
Dorram wollte ihm eigentlich nicht folgen, dennoch tat er dies. Er erreichte die Hand seines Vaters aber auch nicht. „Was wird hier gespielt?“
„Komm mit mir!“
„Ich kann nicht.“
„Doch, komm mit mir!“ Plötzlich blieb Dorram stehen. Es fiel ihm sichtlich schwerer, seine Beine an Ort und Stelle zu lassen. Wie ein innerer Drang wollten sie sich gegen seinen Willen bewegen. Schweiß trat auf seine glatte Stirn. Er zitterte vor Anstrengung, sich nicht zu bewegen.
„Nein!“, sagte er erneut. Sein Vater versuchte ihn mit Versprechungen erneut zu locken.
„Nein!“, schrie der Elbenkrieger. Jolado ließ nicht nach, schmeichelte ihm, zeigte ihm Visionen einer wunderbaren Zukunft als Großmagier auf.
„Nein! Nein! Nein!“ Das letzte Wort schrie er so laut, das sogar seine Ohren davon schmerzten. Als er seine Augen wieder öffnete, war sein Vater verschwunden. Er stand wieder in der Mitte der Waldlichtung, allein. Erschöpft brach er auf dem Waldboden zusammen. Dieser, nun nicht mehr schlammig sondern aus fester Erde bestehend, kam ihm als Schlafplatz sehr gelegen. Ohne einen Gedanken an seine Gefährten zu verschwinden, legte er sich hin und schlief vor Erschöpfung sofort ein.
Filsondre verstand nicht, warum das Kind immer wieder verschwand und an seiner ein Baum vor ihm stand, den er mit seinem Schwert traf. „Bleib stehen, du kannst mir nicht entkommen“, rief er dem Baby nach. Er kam immer mehr ins Schwitzen, rannte dem Kind hinterher, ohne es zu treffen. Bald war er so erschöpft, das er kaum noch sein Schwert halten konnte.
Alarb kämpfte verbissen gegen Nordazu. Der alte Mann schien allmählich ins wanken zu kommen. Seine Angriffe wurden schwächer, es war nicht mehr soviel Kraft in den Schlägen. Dann sah er seine Chance gekommen, endlich den entscheidenden Hieb zu tätigen. Filsondre versuchte, Anysa mit einem Schlag von oben in zwei Hälften zu teilen, doch verfehlte er sie. Alarb wollte dies nutzen und holte zum alles entscheidenden Schlag aus.
„Nicht, Alarb. Seid Ihr von Sinnen?“, schrie ihn Tanako an, der plötzlich hinter ihm stand und mit seiner rechten Hand seinen Schwertarm festhielt.
„Lasst mich los, Tanako. Dies ist unsere Chance, Nordazu endlich zu töten.“ Die Mordlust spiegelte sich in seinen Augen wieder. Tanako konnte nicht verstehen, was er da eigentlich redete. Alarb versuchte, sich loszureisen, doch Tanako hielt ihn eisern fest.
„Das ist doch nicht Nordazu, Alarb. Ihr kämpft gegen Filsondre! Seht genau hin. Es ist der Wald, der Euch einen Streich spielt.“ Alarb schüttelte den Kopf. Bleierne Müdigkeit machte sich plötzlich in seinen Gliedern breit. Er schaute Tanako an, dann fiel sein Blick auf sein Gegenüber. Dort stand nicht der Meistermagier von Meridor, sondern Filsondre, sein Gefährte.
„Aber wie...“, mehr Wörter bekam er nicht heraus.
„Stirb, Menschenkind!“, schrie Filsondre in dem Augenblick und stürzte sich auf Alarb. Sindor kam gerade noch rechtzeitig, um sich gegen ihn zu werfen und ihn so von den Beinen zu holen. Völlig erbost über diese Störung wollte sich Filsondre gleich wieder aufrichten, als er ihn erkannte.
„Sindor, was macht Ihr hier?“, fragte er verblüfft. Verwirrt schaute er sich um. Ihm bot sich ein merkwürdiges Bild an. Alarb stand mit erhobenem Schwert vor ihm, Tanako hielt seinen Schwertarm fest. Dorram lag im Gras und scheint zu schlafen, Sindor kniete neben Filsondre.
„Was ist passiert?“, fragte er verdutzt. „Was wollte ich tun?“
„Ihr habt versucht, Alarb zu töten. Und er wollte Euch töten“, antwortete ihm Sindor. Alarb schüttelte den Kopf.
„Nein, ich würde Filsondre nie angreifen. Es war Nordazu, gegen den ich gekämpft habe.“, verteidigte er sich.
„Das war der Antarywald“, sagte Tanako. „Er lässt uns glauben, was wir glauben wollen.“
Sindor nickte ihm zu. „Das wird das Geheimnis sein. Deshalb sind einige Elben wieder lebend herausgekommen, andere gestorben. Es ist wie eine Prüfung, die man bestehen muss.“
Beschämt senkte Tanako seinen Kopf und ließ Alarb los. „Mir erschien meine Frau und meine Schwester und wollten mich überreden, mit Anysa wegzugehen. Beinahe hätte ich ihnen zugestimmt.“
„Mir erschien Iliah mit der Bitte, ihren Sohn zu suchen. Auch ich wäre am liebsten gegangen, um ihre Bitte zu erfüllen.“
Alarb steckte sein Schwert wieder in die Scheide. „Mir erschien Nordazu. Er hat mich förmlich angefleht, ihn zu töten. Ich habe nicht bemerkt, das es Filsondre war, gegen den ich gekämpft habe.“ Alle schauten Filsondre an.
„Und wer ist Euch erschienen?“, fragte Tanako ihn kühl. Filsondre stand auf, steckte sein Schwert in die Scheide und brachte seine Kleidung wieder in Ordnung.
„Das geht Euch nichts an“, sagte er abweisend und begab sich zu dem schlafenden Dorram. „Wir sollten zu sehen, dass wir von hier verschwinden.“
Die anderen folgten seiner Aufforderung und sammelten ihr Reisegepäck zusammen, das auf der ganzen Lichtung verstreut lag. Tanako blickte Filsondre hinterher.
„Ich habe genau verstanden, was ihr vorhin gesagt hattet“, flüsterte er.
Es war Anysa, die er töten wollte.
Ein neuer Tag im Hyranigebirge begann. Kalt und grau war die Sonne kaum zu sehen, der Wind pfiff eisig durch das Gebüsch. Von einem Tag zum anderen hatte der Herbst Einzug gehalten in diese Schlucht.
Schnell war das Lager abgebaut, alle Sachen verstaut. Die Elben liefen hintereinander wieder auf den Pfad Richtung Anagard. Langsam wurde der Pfad etwas breiter. Nach zwei Stunden standen sie vor den Ausläufern eines riesigen Waldes.
„Der Antarywald“, sagte Filsondre zu den anderen. Dicht standen die Bäume, zu kuriosen Gestalten verzerrt, Fichten und Tannen ließen keinen Blick ins Innere zu. Dicke Äste wanden sich schlangenartig um ganze Baumstämme, unentwirrbares Strauchwerk versperrte den Weg, Efeuranken krochen auf dem Boden, als ob sie nur auf ein Opfer warten würden. Brombeeren prangten am Dornengestrüpp, überzogen von pelzigem Fadengespinst seltener Spinnenarten. Darunter wanden sich Farne und Moose über den brackigen Humus, bedeckt von Laub und abgesprungenen Nadeln. Die Luft war feucht und schwer, durchsetzt von winzigen Mücken, die es in dieser Jahreszeit gar nicht mehr geben dürfte. Die stickige Luft war geschwängert von Fäulnis und aufgedunsener Erde. Der Geruch erinnerte stark an die Mondrids. Aus den Baumwipfeln halte das Geschrei der Ammern und Finken. In regelmäßigen Abständen verstummte es, so dass nur noch das Knacken, Knirschen und Krachen berstender Äste zu hören war. Ein unheilvolles Geräusch wie von einem prasselnden Feuer. Dies war kein Ort, der zum Betreten einlud. Vielmehr schien es, als warne er jeden Eindringling vor den Gefahren des Antarywaldes.
„Wir müssen durch den Wald sein, bevor es dunkel wird. Es ist gefährlich, nach Einbruch der Nacht sich im Inneren des Antarywaldes aufzuhalten“, erklärte Filsondre. „Ich habe schon viele Geschichten über diesen Wald gehört“, sagte Sindor, „doch schenke ich ihnen keinen Glauben.“
„Das solltet Ihr aber“, wies ihn Filsondre zurecht.
„Es gibt nicht viele Elben, die einen Fuß in den Wald gesetzt haben. Und davon hat es nur eine Handvoll wieder hinaus geschafft.“
„Und das zumeist in einem verwirrten Zustand“, fügte Dorram hin zu. „Die meisten Elben haben nie wieder zu voller geistiger Stärke zurück gefunden.“ Gespanntes Schweigen breitete sich aus.
Nach einer sehr kurzen Rast liefen die Elben weiter. Anysa verhielt sich genauso ruhig wie ihre Begleiter. Keiner sagte einen Ton, niemand versucht ein Geräusch zu verursachen. Die weichen Stiefel der Elbenkrieger hoben sich trotz ihrer Leichtigkeit nur sehr schwerfällig über den morastigen Grund. Mühsam schlugen sie die Dornenranken beiseite und schützen ihre Gesichter von den lästigen Stechmücken.
Nach mehreren Stunden erreichten sie eine Lichtung. Zwischen den Baumwipfeln erschien ein sonniger Korridor, die ersten Sonnenstrahlen seit Stunden. Golden brach das Herbstlicht zwischen den Ästen durch. Es schien, als seien die dicken Bäume vor der Macht der Sonne zurück gewichen. Farne und Gräser streckten sich dem Licht entgegen, verblühende wilde Orchideen und hochgewachsene Fingerhüte waren überall verstreut.
Dieser abgelegene Teil des Hyranigebirges mit der Schlucht und dem Antarywald steckte voller Gegensätze. Direkt hinter dem Eingang zur Schlucht grenzte ein Wald von unglaublicher Schönheit. Jedoch wurde dieser bevölkert von den gefährlichen Mondrids. Hinter diesem Wald folgte der Antarywald, ein düsterer Ort, eine Warnung an das Leben selbst. Doch barg dieser Ort eine Lichtung in sich, die zum verweilen einlud. Die Lichtung war so gewaltig, das Tanako den Anfang des gegenüberliegenden Waldrandes nur schemenhaft erkennen konnte. Sanft wehte der Wind über das Gras. Es war ein friedlicher Ort, umgeben von Fäulnis und Tod, der dadurch noch mehr zum Ruhepol wurde.
Langsam schritten die Elben über die Waldlichtung gen Osten, Anagard entgegen. Doch schien es, als kämen sie dem gegenüberliegenden Waldrand keinen Meter näher. Die Wiese entpuppte sich als klebriger Schlammboden. Die Elben sanken bis zu den Knien ein. Als sie die Mitte der Wiese erreichten verschwand die Sonne hinter dem Horizont. Nur schwach war noch ein Lichtschimmer zu erkennen.
„Zu spät“, flüsterte Filsondre. Die Geräusche des Waldes verstummten. Die leichte Prise des Windes wurde stärker, bis sich die Bäume anfingen zu bewegen. Kein Vogel war mehr zu hören, nur das Geräusch des Windes, der durch den Antarywald fegte. Tanako blieb stehen, die Augen wachsam auf den kaum noch zu erkennenden Waldrand gerichtet. Anysa fing an zu weinen und griff hilfesuchend nach Tanako. Auf der Lichtung herrschte eine düstere Stimmung.
„Ist dies die Tochter, die du dir immer gewünscht hast, Geliebter?“, hörte Tanako eine Stimme neben sich. Er kannte diese Stimme ganz genau und drehte sich augenblicklich um. „ Rainawy!“, sagte er ungläubig und schaute seiner Ehefrau in die Augen. Sie trug das wunderschöne grüne Kleid, das er ihr vor Jahren zum Fest der Kanabha geschenkt hatte. Ihr glattes Haar hing offen bis zu ihrer Taille herab. „Wie kannst du hier sein? Das ist nicht möglich.“
Er schaute sich verwirrt nach den anderen um. Doch konnte er keinen seiner Gefährten entdecken. Er war allein mit Anysa und Rainawy. Seine Frau kam näher, legte sanft ihre Hand auf seine Wange. „Meinst du, die kleine Anysa kann die Leere in deinem Herzen füllen?“
Tanako ging einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. „Du bist nicht echt. Du bist eine Illusion.“ Er blickte zum Waldrand. „Das muss an diesem Wald liegen. Das ist das Geheimnis.“
Tanako drehte sich um und wollte sich von seiner Frau entfernen. Sie stand aber plötzlich wieder vor ihm. „Du hast dir schon immer ein Mädchen gewünscht. Hast du deshalb ihren Zwillingsbruder sterben lassen?“ Rainawys Stimme war nun bedrohlich leise und anklagend gegen ihn gerichtet. Tanako schüttelte erneut den Kopf. „Ich habe Aris nicht sterben lassen. Er ist mit seinem Vater in den Fluten des...“
„Nein“, unterbrach ihn Rainawy mit energischer Geste, „nicht Andero sondern du allein bist schuld am Tod des kleinen Aris. Nur du.“ Ihr Finger war auf ihn gerichtet, die Anklage niederschmetternd. „Ich konnte nichts für die beiden tun. Ich musste Anysa das Leben retten. Sonst wären beide gestorben“, versuchte sich Tanako zu erklären.
„Oh nein, nur du allein hast ihn auf dem Gewissen. Und Anysa schickst du genauso in den Tod.“ Die Augen vor Schrecken weit aufgerissen, presste er das Baby an sich. „Niemals würde ich zulassen, dass ihr etwas geschieht.“
Rainawy, nun sanfter, antwortete: „Dann geh mit ihr weg. Lauf soweit du kannst. Adarak hat so viele schöne Landstriche, die hervorragend als Versteck dienen. Zieh Anysa auf wie dein eigenes Kind. Denn wenn du sie nach Anagard bringst, wird dies ihren Tod bedeuten.“ Tanako, mit sich deutlich ringend, blickte angestrengt zu Boden.
„Hör auf deine Frau, Bruder“, ertönte es von der anderen Seite. „Kerana, du auch?“ Seine Schwester stellt sich neben Rainawy. „Du kennst meine kleine Tochter. Du hast dich immer liebevoll um sie gekümmert. Würdest du wollen, dass ihr solch ein Schicksal geschieht wie es bei Anysa sein soll? Willst du das wirklich?“
„Nein, natürlich nicht. Kerana. Aber nicht ich bestimme das Schicksal...“
„Du allein bist für dein Leben verantwortlich, Tanako“, erwiderte seine Frau. „Und nur du kannst deine Zukunft und die von Anysa bestimmen“, fügte seine Schwester hinzu. Die Worte ließen ihn nicht mehr los.
„Was, wenn ich einfach mit ihr weggehe?“, fragte er sich leise. „Wir würden beide ein sehr schönes Leben haben“, flüsterte er der kleinen Anysa zu und strich ihr sanft über den Kopf. Beide Frauen traten an seine Seite. „Vater und Tochter, für alle Zeiten“, sagten beide zu Tanako. Dieser lächelte nur.
Dorram El’ Isero bemerkte die zunehmende Dunkelheit mit Besorgnis. Seine Gefährten verschwanden immer mehr in der alles verzehrender Schwärze. Er drehte sich einmal um die eigene Achse. Nichts war mehr zu hören außer seinem eigenen Atem.
Ein kleiner Lichtschimmer erregte seine Aufmerksamkeit. Seine rechte Hand schloss sich um den Knauf seines Schwertes. Er prüfte, ob es locker in der Scheide saß. Das Licht wurde heller, eine Silhouette bildete sich heraus. Undeutlich konnte Dorram die Form eines Körpers erkennen. Geduldig wartete er, was aus dem Licht zu ihm kam.
Die Konturen wurden kräftiger, bis er schließlich eine ihm vertraute Person erkannte.
„Vater“, sagte er ruhig. „Ich weiß, dass du nicht real bist. Also geh hinfort, böser Geist.“ Eine energische Geste Dorrams unterstrich seine Worte. „Mich kannst du nicht täuschen!“
„Du hast mich enttäuscht, Sohn“, sagte sein Vater mit grollendem Unterton. Ohne Gefühlsregung sprach er, mit strengem Blick. Er trug einen blauen Wams und weiße Beinkleider. Seine Füße steckten in weichen Stiefel aus braunem Wildleder. Die Haare waren streng zu einem Zopf gebunden. Der Zopf wackelte, als der ältere Herr den Kopf schüttelte.
„Du solltest die Tradition unserer Familie fortführen. Du solltest ein großer Magier werden, wie dein Vater und sein Vater. Doch du musstest ein Krieger werden, musstest in die Leibgarde des Königs eintreten. Du hast Schande über uns gebracht, Dorram El’ Isero.“ Anklagend zeigte der Vater auf seinen Sohn. „Es war meine freie Entscheidung. Du weißt, dass mein magisches Potential zu gering ist. Meine Berufung liegt darin, unseren König zu schützen.“
„Du rennst den ganzen Tag wie ein Hund hinter ihm her und bist nicht mehr als ein Befehlsempfänger. Wo ist da unser Stolz geblieben, Dorram?“, schrie Jolado Mag’ Isero seinen einzigen Sohn an.
„Das ist nicht wahr und nun verschwinde und lass mich in Ruhe.“ Dorram, sichtlich angegriffen von den Worten seines Vaters, kehrte ihm den Rücken zu. Jolado trat näher an seinen Sohn heran, legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Du kannst die Schmach aber wieder von unserer Familie nehmen, mein Sohn“, sagte er beschwichtigend. „Geh nach Haus, komm zu mir zurück. Lass diese unsinnige Mission sein.“
„Nein, das kann ich nicht. König Marek hat mir persönlich...“
„Es ist egal, was Marek sagt“, unterbrach ihn sein Vater. „Du bist ein selbständig denkender Elb mit magischen Fähigkeiten. Komm zu mir zurück und wir werden dich zu einem großen Magier ausbilden.“
„Ich wünschte das würde gehen, Vater“, gestand Dorram ein. „Dann komm mit mir!“
Jolado reichte ihm die Hand, als sich Dorram zu ihm umdrehte. „Komm!“, fordert er ihn erneut auf.
Kundschafter Sindor lief über die Lichtung. Nach einer Weile hatte er den Waldrand immer noch nicht erreicht. Er runzelte die Stirn. So groß war diese Lichtung nicht, dennoch kam er nicht zum Waldrand. Er blieb stehen und drehte sich um. „Hier stimmt was nicht“, murmelte er vor sich hin.
„Das einzige, was nicht stimmt ist, das Ihr am Leben seid und ich nicht, Sindor Da’ Rysin“, drang eine weibliche Stimme in die Gedankengänge des Kundschafters. Plötzlich und unerwartet stand Iliah vor ihm. Vor Schreck trat er einen Schritt zurück.
„Ihr seid tot, Iliah, im Kindbett gestorben. Ihr könnt nicht hier sein.“ Schön, wie sie im Leben gewesen war kam Iliah auf ihn zu. Ihr helles Haar war zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt. Ihre Augen leuchteten in einem hübschen blau, ein zartes Rosa bedeckte ihre Haut. Wie das blühende Leben stand sie vor ihm. Ihr gelbes Kleid wehte sacht im Wind, die untergehende Sonne ließ ihre Konturen erstrahlen.
„Seht mich an“, forderte sie ihn auf. „Seht wie ich einst war!“ Die strahlende Erscheinung Iliahs änderte sich abrupt. Ihre Wangen fielen ein, die Augen verloren jeden Glanz. Das Haar hing ihr wirr vom Kopf, die Haut bekam einen kranken Schimmer. „Und seht wie ich nun aussehe. Ihr seid schuld daran, das ich gestorben bin! Hättet Ihr mich gewarnt, zeitig genug, um fliehen zu können, wäre ich nicht tot.“
Sindor schüttelte den Kopf. „Dies war alles vorherbestimmt, Iliah. Das war Euer Schicksal. Und es wird sich auch bei Anysa erfüllen.“ Etwas weicher fügte er hinzu. „Es tut mir sehr leid.“
„Nein, so leicht kommt Ihr mir nicht davon.“ Iliah kam auf ihn zu, ihre Hände umschlangen seinen Hals. Sindor versuchte sich zu wehren, seine Hände schlossen sich um ihre Finger und bog sie nach außen. Ein knacken ertönte und er hielt plötzlich ihren Daumen in der Hand.
„Oh“, sagte er schlicht. Iliah schaute ihre verkrüppelte Hand an, das Gesicht wutverzerrt. „Reicht es nicht, dass Ihr mich umgebracht habt. Müsst Ihr mich jetzt auch noch verstümmeln?“ Sindor hielt ihr den Daumen hin und sagte schlicht: „Entschuldigung.“ Doch Iliah schlug ihm ihr Körperteil aus der Hand. „Das hilft mir auch nicht mehr.“
„Was ist es, das Ihr von mir wollt? Ich kann Euren Tod nicht rückgängig machen.“ schrie Sindor sie an.
„Sucht meinen Sohn, Kundschafter“, erwiderte die Elbin. „Findet ihn, denn er ist nicht tot. Rettet ihn, um Eure Schuld zu begleichen!“
Bäume schissen aus dem Boden empor. Alarb Rei’ Verlor versuchte ihnen aus dem Weg zu gehen. Unter seinen Füssen vibrierte der Waldboden. Schnell sprang er zur Seite, denn plötzlich kam ein Baum genau dort aus dem Boden, wo er gerade gestanden hatte. Alarb schaute sich nach seinen Gefährten um, konnte aber niemanden entdecken. Er rief nach ihnen, ebenso ohne Erfolg. Ein Schatten bewegte sich zwischen den Bäumen, erregte die Aufmerksamkeit des Kriegers.
„Wer ist da?“, fragte er in den Wald. Keine Antwort. Ein Ast knickte um, ein Schatten huscht dicht an Alarb vorbei. „Ich habe gefragt, wer da ist. Zeigt Euch!“, verlangte er zu wissen. Wieder erhielt er keine Antwort. Sein Bogen gleitet wie von selbst in seine Hand, er legte einen Pfeil an die Sehne und spannte sie bis zum Anschlag. Wieder huschte der Schatten vorbei. Alarb zielte zwischen die Bäume. Kurz bevor er den Pfeil von der Sehne ließ hörte er eine Stimme.
„Schießt nur Alarb. Dann seid Ihr endlich sicher vor mir.“ Die Stimme gehörte einem alten Mann, dessen Haut sich wie brüchiges Pergamentpapier über die Knochen spannte. In eine schwarze Robe gehüllt war er kaum im Dunkel der Bäume zu sehen.
„Kommt heraus und Euch wird nichts geschehen“, versicherte Alarb dem Unbekannten. Dieser trat ein paar Schritte aus der Dunkelheit. „Wer seid Ihr und woher kennt ihr meinen Namen?“, fragte ihn der Elbenkrieger. Immer wachsam im Auge behaltend suchte Alarb die nähere Umgebung ab. Der alte Mann war ihm unheimlich. Ob er ein Geschöpf dieses Waldes war? Alarb wusste es nicht. Sein Gegenüber senkte die bereits erhobenen Arme.
„Mein Name ist Nordazu Galyris Holdro, Meistermagier von Meridor, erster Magier des ehrenwerten Herrschers Anaruba, der bald ganz Landory unterjochen wird. Ich bin der, der Euch jagt. Ich bin der, der Euch töten wird!“
Er griff hinter sich und förderte ein Schwert aus Flammen zu Tage. Alarb ließ den immer noch gespannten Pfeil los. Er jagte davon, direkt auf den Meistermagier zu und traf ihn genau in das Herz.
„Ja, getroffen“, freute sich der Elbenkrieger, doch zu früh. Nordazu schaute den Pfeil an, der aus seiner Brust ragte. Er berührte ihn und zog ihn ohne jegliche Anstrengung aus seinem Körper. Mit einer verächtlichen Geste ließ er ihn fallen und fragt den verblüfften Elben „Ist das alles oder könnt Ihr mehr, Elbenkrieger?“ Das letzte Wort sprach er verächtlich aus.
Alarb ließ seinen Bogen fallen und zog sein Schwert aus der Scheide. Nordazu kam auf ihn zu, das Flammenschwert lässig in der Hand haltend. Obwohl der Meistermagier sehr schwach wirkte schien er eine enorme Kraft zu haben, so wie er das Schwert mit einer Hand hielt. Dies bewahrheitete sich dann auch, als er Alarb angriff. Mit unvorstellbarer Schnelligkeit lenkte er sein Schwert auf den Körper des Elben. Alarb parierte den Angriff und hätte sich beinahe damit selbst getötet. Die Wucht von Nordazus Angriff war so groß, das Alarbs Schwert gefährlich nah an seinem Körper gedrückt wurde.
“Tötet mich und Ihr seid der Held, Alarb“, stachelte der Magier den Elben an. „Tötet mich!“
Filsondre konnte nicht glauben, wen er da vor sich stehen sah. Wie aus dem Nichts war sein Gegenüber aufgetaucht. Und er schaut ihm zum verwechseln ähnlich, sein Ebenbild.
„Wie kann das sein?“, flüsterte er. „Wenn dieses Baby nicht wäre, würdest du jetzt in Tharul sitzen“, sprach sein Zwilling an ihn gewandt. „Du wärst an des Königs Seite, wo dein angestammter Platz ist. Und nicht hier, in der Wildnis, gejagt von Söldnern und Dämonen wegen eines Kindes, das du noch nicht einmal kennst.“ Selbst die Stimme war mit seiner identisch, ebenso die Gestik und Mimik beim sprechen. Ohne sich zu rühren hörte Filsondre zu.
Er wusste, dass diesen Wald Geheimnisse umgaben und das Auftauchen seines Zwillings war eine Ausgeburt des Antarywaldes. Auf die Illusion wollte er nicht hören. Doch drangen die Worte unbemerkt in seinen Verstand. „Du hast viele deiner Krieger verloren. Unzählige haben ihr Leben gelassen, um dieses Menschenkind zu schützen. Und dabei ist noch nicht einmal klar, ob sie der Asranyias ist“, redete die Illusion weiter auf den Elbenkrieger ein. „Ich weiß was du dir wünschst. Ich weiß, dass du sie am liebsten tot sehen würdest. Sie umgarnt den Verstand von Tanako. Welcher Elb lässt sich dermaßen zu solchen Gefühlsduseleien herab? Keiner, der normal bei Verstand ist.“ Die Hand zur Faust geballt, redete sich der Zwilling Filsondres in Ekstase.
„Töte sie. Töte sie und befreie Adarak von diesem Übel. Was interessiert dich die Welt der Menschen. Anaruba wird es nicht wagen, Adarak anzugreifen.“ Beschwörend wurden seine Worte. „Doch solange das Menschenbalg hier ist, solange ihr sie beschützt, stellt sie eine Gefahr für Adarak dar. Erst wenn sie tot ist, wird Adarak sicher sein!“
Filsondre rang mit sich. Seine Zweifel waren groß. Nie war er von dieser Mission überzeugt gewesen. Und wenn Anysa etwas passieren würde? Nein, schnell schob er diesen Gedanken beiseite.
Als er wieder aufblickte, sieht er nicht mehr sich selbst, sondern einen Teil von Tharul vor sich. Doch war die Hauptstadt der Elben zerstört. Überall lagen viele Leichen der elbischen Bevölkerung, Männer, Frauen und sogar Kinder. Das Tharuler Schloß war fast völlig zerstört. „Wie kann das sein?“, fragte Filsondre fassungslos. „Wer hat das angerichtet?“
„Anysa!“, sagte seine eigene Stimme, körperlos, doch fest in seinem Kopf.
„Wegen ihr hat Anaruba euch angegriffen. Wegen ihr sind alle tot. Du kennst die Prophezeiung: ‚Den Untergang leidet schließlich ein, die Geburt von Hoffnung und Leid’.“
Kurz herrschte Stille, in dem das Scheinbild die Worte auf Filsondre wirken lassen wollte.
„Als Anysa geboren wurde, hat das Unheil begonnen. Sie ist nicht der Heilsbringer, sondern der Verursacher. Nur durch ihren Tod kann das Unheil rückgängig gemacht werden. So wie du es immer gewusst hast.“
Das Bild des zerstörten Tharuls verschwand und machte einem Baby, gehüllt in einer Decke, Platz. Filsondre, außer sich vor Wut, griff sein Schwert und ging schreiend auf das Kind los. Immer wieder sah er seine tote Familie vor sich, wie sie in ihrem Blut lag, sein Volk, das geschunden unterjocht wurde. Wenn er das Kind tötete, dann käme es erst gar nicht soweit. Den Elben waren Menschen schon immer egal. Das einzige Interesse, das sie an Iliahs Kinder hatten, war die Erfüllung der Prophezeiung.
„Kann ich einfach mit dir weggehen?“, fragte Tanako das Kind in seinen Armen. Anysa schaute ihn an, wie es ein Baby eben kann. „Die Prophezeiung sagt etwas anderes. Doch was, wenn dein Bruder nach lebt. Was, wenn er der Asranyias ist und nicht du?“, lächelnd strich er dem kleinen Mädchen über den Kopf. Der Gedanke, mit ihr ein Leben wie in einer richtigen Familie zu führen, gefiel ihm immer mehr. Doch es meldete sich auch sein Gewissen. Nur ganz klein, aber sehr hartnackig erinnerte es ihn an seine Aufgabe. An die Prophezeiung und die Hoffnung der Menschen, die daran geknüpft war. Vor allem aber daran, das auch das Schicksal Adaraks daran hängen konnte. Und dies wiederum würde seine Familie betreffen.
„Nein!“, sagte er und schüttelt den Kopf. Das kann er nicht verantworten, egal wie sehr er Anysa beschützen wollte. Er würde ihr so zur Seite stehen müssen und immer für sie da sein. Tanako blickte auf, direkt in die Augen seiner Frau. Rainawy schaute ihn wütend an. Aus dem weitgeöffneten Mund kam ein hoher Ton, der in den Ohren schmerzte. Nach einigen Minuten war es vorbei, Stille kehrte wieder ein und Tanako erkannte die Waldlichtung wieder. Die aufgehende Sonne strich sanft die erweckende Natur. „Es ist ja schon wieder Sonnenaufgang“, wunderte sich Tanako. Dies hatte die ganze Nacht gedauert. Für Tanako gar nicht nachvollziehbar. Von seiner Frau und Schwester war nichts mehr zu sehen.
Er hörte das typische Klirren von Schwertern, die aufeinander prallten. Am anderen Ende der Lichtung standen sich Alarb und Filsondre gegenüber. Sie bekämpften sich bis aufs Blut. Tanako konnte es gar nicht fassen und lief augenblicklich zu den beiden Kontrahenten.
So plötzlich wie Iliah aus dem Nichts aufgetaucht war, so schnell war sie wieder verschwunden. In dem einen Augenblick ist war noch da, flehentlich die Hände zu ihm gestreckt und im nächsten nicht mehr. Sindor grübelte darüber nach, ob dies nun eine Illusion war oder wirklich der Geist von Iliah, der ihn um Hilfe bat. Die Waldlichtung kehrte zurück und er blickte direkt in die aufgehende Sonne. „Bereits Morgendämmerung.“ Damit hatte er die Nacht unbeschadet überstanden.
Jemand rannte an ihm vorbei. Es war Tanako, mit Anysa auf dem Arm. Er sah, wohin Tanako willte und eilte ihm zur Hilfe.
Dorram wollte nach der Hand seines Vaters greifen. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab. Wann immer er glaubte, sie erreicht zu haben, rückte sie einen Schritt weiter. Mit jedem neuen Schritt kehrten seine Zweifel zurück. „Ich kann meine Gefährten doch nicht im Stich lassen“, sagte er zu sich selbst. Jolado antworte ihm: „Doch, das kannst du. Kommt mit mir!“
Dorram wollte ihm eigentlich nicht folgen, dennoch tat er dies. Er erreichte die Hand seines Vaters aber auch nicht. „Was wird hier gespielt?“
„Komm mit mir!“
„Ich kann nicht.“
„Doch, komm mit mir!“ Plötzlich blieb Dorram stehen. Es fiel ihm sichtlich schwerer, seine Beine an Ort und Stelle zu lassen. Wie ein innerer Drang wollten sie sich gegen seinen Willen bewegen. Schweiß trat auf seine glatte Stirn. Er zitterte vor Anstrengung, sich nicht zu bewegen.
„Nein!“, sagte er erneut. Sein Vater versuchte ihn mit Versprechungen erneut zu locken.
„Nein!“, schrie der Elbenkrieger. Jolado ließ nicht nach, schmeichelte ihm, zeigte ihm Visionen einer wunderbaren Zukunft als Großmagier auf.
„Nein! Nein! Nein!“ Das letzte Wort schrie er so laut, das sogar seine Ohren davon schmerzten. Als er seine Augen wieder öffnete, war sein Vater verschwunden. Er stand wieder in der Mitte der Waldlichtung, allein. Erschöpft brach er auf dem Waldboden zusammen. Dieser, nun nicht mehr schlammig sondern aus fester Erde bestehend, kam ihm als Schlafplatz sehr gelegen. Ohne einen Gedanken an seine Gefährten zu verschwinden, legte er sich hin und schlief vor Erschöpfung sofort ein.
Filsondre verstand nicht, warum das Kind immer wieder verschwand und an seiner ein Baum vor ihm stand, den er mit seinem Schwert traf. „Bleib stehen, du kannst mir nicht entkommen“, rief er dem Baby nach. Er kam immer mehr ins Schwitzen, rannte dem Kind hinterher, ohne es zu treffen. Bald war er so erschöpft, das er kaum noch sein Schwert halten konnte.
Alarb kämpfte verbissen gegen Nordazu. Der alte Mann schien allmählich ins wanken zu kommen. Seine Angriffe wurden schwächer, es war nicht mehr soviel Kraft in den Schlägen. Dann sah er seine Chance gekommen, endlich den entscheidenden Hieb zu tätigen. Filsondre versuchte, Anysa mit einem Schlag von oben in zwei Hälften zu teilen, doch verfehlte er sie. Alarb wollte dies nutzen und holte zum alles entscheidenden Schlag aus.
„Nicht, Alarb. Seid Ihr von Sinnen?“, schrie ihn Tanako an, der plötzlich hinter ihm stand und mit seiner rechten Hand seinen Schwertarm festhielt.
„Lasst mich los, Tanako. Dies ist unsere Chance, Nordazu endlich zu töten.“ Die Mordlust spiegelte sich in seinen Augen wieder. Tanako konnte nicht verstehen, was er da eigentlich redete. Alarb versuchte, sich loszureisen, doch Tanako hielt ihn eisern fest.
„Das ist doch nicht Nordazu, Alarb. Ihr kämpft gegen Filsondre! Seht genau hin. Es ist der Wald, der Euch einen Streich spielt.“ Alarb schüttelte den Kopf. Bleierne Müdigkeit machte sich plötzlich in seinen Gliedern breit. Er schaute Tanako an, dann fiel sein Blick auf sein Gegenüber. Dort stand nicht der Meistermagier von Meridor, sondern Filsondre, sein Gefährte.
„Aber wie...“, mehr Wörter bekam er nicht heraus.
„Stirb, Menschenkind!“, schrie Filsondre in dem Augenblick und stürzte sich auf Alarb. Sindor kam gerade noch rechtzeitig, um sich gegen ihn zu werfen und ihn so von den Beinen zu holen. Völlig erbost über diese Störung wollte sich Filsondre gleich wieder aufrichten, als er ihn erkannte.
„Sindor, was macht Ihr hier?“, fragte er verblüfft. Verwirrt schaute er sich um. Ihm bot sich ein merkwürdiges Bild an. Alarb stand mit erhobenem Schwert vor ihm, Tanako hielt seinen Schwertarm fest. Dorram lag im Gras und scheint zu schlafen, Sindor kniete neben Filsondre.
„Was ist passiert?“, fragte er verdutzt. „Was wollte ich tun?“
„Ihr habt versucht, Alarb zu töten. Und er wollte Euch töten“, antwortete ihm Sindor. Alarb schüttelte den Kopf.
„Nein, ich würde Filsondre nie angreifen. Es war Nordazu, gegen den ich gekämpft habe.“, verteidigte er sich.
„Das war der Antarywald“, sagte Tanako. „Er lässt uns glauben, was wir glauben wollen.“
Sindor nickte ihm zu. „Das wird das Geheimnis sein. Deshalb sind einige Elben wieder lebend herausgekommen, andere gestorben. Es ist wie eine Prüfung, die man bestehen muss.“
Beschämt senkte Tanako seinen Kopf und ließ Alarb los. „Mir erschien meine Frau und meine Schwester und wollten mich überreden, mit Anysa wegzugehen. Beinahe hätte ich ihnen zugestimmt.“
„Mir erschien Iliah mit der Bitte, ihren Sohn zu suchen. Auch ich wäre am liebsten gegangen, um ihre Bitte zu erfüllen.“
Alarb steckte sein Schwert wieder in die Scheide. „Mir erschien Nordazu. Er hat mich förmlich angefleht, ihn zu töten. Ich habe nicht bemerkt, das es Filsondre war, gegen den ich gekämpft habe.“ Alle schauten Filsondre an.
„Und wer ist Euch erschienen?“, fragte Tanako ihn kühl. Filsondre stand auf, steckte sein Schwert in die Scheide und brachte seine Kleidung wieder in Ordnung.
„Das geht Euch nichts an“, sagte er abweisend und begab sich zu dem schlafenden Dorram. „Wir sollten zu sehen, dass wir von hier verschwinden.“
Die anderen folgten seiner Aufforderung und sammelten ihr Reisegepäck zusammen, das auf der ganzen Lichtung verstreut lag. Tanako blickte Filsondre hinterher.
„Ich habe genau verstanden, was ihr vorhin gesagt hattet“, flüsterte er.
Es war Anysa, die er töten wollte.