Asylum, Akt I, Szene IV

Siam

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Als Luc aus dem Raum herauskommt, hätte er eigentlich gerne ein wenig Zeit für sich, um sich vielleicht einen kurzen Moment lang an die Wand zu lehnen und das Gefühl auszukosten, das er doch schon so lange nicht mehr hatte: Das des Erfolgs.

Schreiben ging ihm früher immer leicht von der Hand, Artikel wie freie Texte, bis vor ein paar Monaten, als er sich langsam regelrecht eingeengt fühlte von der Deadline, überhäuft von Arbeit, viel zu sehr unter Stress gesetzt, um noch irgendetwas qualitativ Hochwertiges hervorzubringen.

Er hat den Raum ein wenig nervös betreten, unsicher, ob er auch hier nicht würde arbeiten können, obwohl es doch etwas Freieres gar nicht gibt – es gibt keine Frist, kein Thema, keine Form, man darf einfach schreiben. Und irgendwann ist es ihm dann doch ergangen wie ganz früher, dass er schreibt und schreibt und schreibt und nichts und niemand kann ihn stören, bis er fertig ist.

Luc verbucht es als Erfolg auf der ganzen Linie.

Leise schließt er die Tür hinter sich, er ist der Letzte gewesen, absichtlich, um ein bisschen Ruhe haben zu können, den Weg in sein Zimmer alleine zu gehen.

Bence stößt sich von der Wand ab und gesellt sich, munter auf ihn einredend, an seine Seite.
Das war’s dann wohl mit Ruhe, denkt Luc frustriert und mit dem heftigen Bedürfnis, Bence einen Keil in den Mund zu rammen.

„Und, wie war’s, bist du jetzt auch unter die Poes gegangen? Erfolgreich verlaufen, das Ganze? Du siehst besser aus als gestern! Schreiben tut dir gut – mich stresst das ja immer nur, total nervig, kann ich überhaupt nicht gebrauchen. Hast du ne Geschichte geschrieben? Darf ich sie lesen?“

„Nein!“ Das klingt wesentlich heftiger als beabsichtigt. Luc ist nicht dumm. Er kann sich ausmalen, dass Bence die Geschichte umso mehr haben wollen wird, je weniger egal es ihm ist.

Allerdings, mit der folgenden Stille hat er nicht gerechnet. Er sieht vom Boden auf in Bences Gesicht, das völlig ausdruckslos in Gehrichtung gerichtet ist, während der Kleinere immer noch neben ihm hergeht wie von einem Motor betrieben.

Luc weiß nicht, wie es aussieht, wenn Bences Stimmung umschwingt. Aber er weiß, dass diese Situation ihm nicht geheuer ist.

„Bence?“, fragt er vorsichtig nach.

Mit dem Ruck an seiner Hand weiß er, dass das alles zur Taktik gehört. Bence entreißt ihm sein Heft und schlägt die erste Seite auf. Luc ist nicht kindisch. Und so wichtig, dass er Bence das Heft unbedingt wieder abjagen müsste, ist ihm die Geheimhaltung seines Textes auch nicht. Also bleibt er stehen und sieht Bence zu, der beginnt, laut vorzulesen, zuerst skeptisch und stockend, dann immer flüssiger:

„Der Raum ist nur spärlich beleuchtet, ich finde deine Silhouette auf der Fensterbank, das Gesicht der Nacht zugewandt und die Arme um die Knie geschlungen. Du sitzt bewegungslos, obwohl du gehört haben musst, dass ich da bin.
Abgespannt. Müde.
Das sind Worte, die ich so fest mit deiner Erscheinung verbunden habe, dass sie mir nicht aus dem Sinn gehen, solange ich dich ansehe.
Es ist kalt, es ist warm. Ich kann mich nicht entscheiden und verkrieche mich tiefer in meinem Pullover. Solange du es nicht siehst, ist es nicht wie Schwäche.
Dunkel erinnere ich mich an andere Tage, eisig kalte Herbstluft, das Rattern von Zügen, das Aufblitzen der Fenster, hinter jedem ein anderes Leben verbergend... Nostalgie.
Eine ausgestreckte Hand, wie ein Versprechen oder eine Aufforderung, vertraut und müde. Du wendest mir das Gesicht nicht zu, und trotzdem ergreife ich deine kalten Finger. Es ist ein bisschen, als wärest du schon tot. Als wäre ich, als wären wir schon tot. Bewegungslos, ohne Wärme.
Aber das alles ist unwichtig, nur dieses eine hell erleuchtete Fenster nicht - nur dieses eine Mal sind wir beide - hier.“

Bence hält inne, liest den Text noch einmal, ein entzücktes Lächeln auf den Lippen: „Hey, das ist richtig schön! Das gefällt mir! Das Aufblitzen der Fenster, hinter jedem ein anderes Leben verbergend… Nostalgie… Schreibst du oft? Das hört sich richtig schön an! …Aber diese Zeilen…“, Bence tippt energisch auf die Stelle im Heft, „die merk ich mir, ganz bestimmt! Und später, wenn wir längst draußen sind und du berühmt bist, dann werd ich dich daran wiedererkennen!“

Ein ganz kleines Lächeln schleicht sich auf Lucs Lippen und hält sich hartnäckig dort. Es bleibt nicht unbemerkt. Aber das ist egal.

Luc hat sich schon immer über ein Lob seiner Arbeit gefreut, ganz gleich, von wem es kam. Und jetzt ist es eben von Bence.

Dieser unterdessen hakt sich glücklich bei ihm unter: „Schau an, du kannst es ja doch!“

„Was?“ Luc sieht mit hochgezogenen Augenbrauen an seiner Seite herunter, wo Bence vergnügt an seinem Arm baumelt.

„Lächeln! Dachte schon, du hast’s verlernt.“ Bence bemerkt den Blick wohl. Aber, anstatt sich wie jeder normale Mensch hastig zu entschuldigen und Luc loszulassen, klammert er sich nur noch fester an ihn.

Luc seufzt abgrundtief. Was hat er schon erwartet? Hier wird er wohl kaum irgendwelche normalen Reaktionen bekommen. Niemand hier ist normal.
 



 
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