Bence strahlt die junge Pflegerin an, die pünktlich um neun Uhr, wie immer, in sein Zimmer kommt, um ihn mit dem ewig fröhlichen „Aufsteeehn!“ zu wecken. Die Sonne malt helle Streifen auf die Bettdecke. Es ist viel zu schön, um liegen zu bleiben.
„Guten Morgen“, trällert Bence im Aufstehen, reißt das Fenster auf und lehnt sich vor, soweit das bei vergitterten Fenstern möglich ist, „Herrlich ist das draußen, so muss es im Paradies aussehen! Naja, vermutlich ohne die Gitter vor den Fenstern, aber trotzdem!“
Die Pflegerin wünscht lachend ebenfalls einen guten Morgen und verschwindet aus dem Zimmer, um den nächsten Patienten zu wecken. Bence ruft ihr ein „und Sie sehen heute auch ganz bezaubernd aus, wie immer!“ hinterher, allein schon um seinem Ruf gerecht zu werden.
Im Essenssaal ‚wartet‘ schon Luc auf ihn, versteckt hinter einer großen Zeitung.
Bence holt sich Messer und Teller, Brötchen, Butter und Schokostreusel – auf inständiges Bitten und hartnäckiges Flirten hin hat die Köchin extra für ihn welche gekauft – und lässt sich ihm gegenüber auf einen Stuhl fallen. „Guten Morgen, der Herr, auch so gut geschlafen? Also, ich finde ja immer die Tage zwischen Frühling und Sommer am schönsten zum Einschlafen, die sind einfach am besten, um das Fenster offen zu lassen.“
Er beginnt, sein Brötchen zu schmieren. Die Zeitung raschelt, knickt ein und offenbart einen zutiefst ermüdet aussehenden Luc. Zumindest hat er ziemlich dunkle Ringe unter den Augen. Bence übersieht das taktvoll und redet weiter, während er eine Brötchenhälfte mit den bunten Streuseln übergießt. „Und in der Zeit sind auch immer die Mädchen am besten! Also, ich meine, Frühlingsgefühle ist Unsinn, Frühsommergefühle müsste es heißen! Die Damen hier sind jedenfalls nie schöner gewesen als jetzt!“
„Sag mal… isst du Brötchen mit Schokostreuseln oder Schokostreusel mit Brötchen?“ Luc nickt zu Bences Teller hinüber, auf dem das Brötchen schon kaum noch zu sehen ist.
„Am liebsten Streusel ohne Brötchen, aber das lassen die Ärzte nicht zu. Von wegen, Kohlehydrate und Vitamine und all der Mist, das sei auch wichtig. Warum lenkst du ab? Magst du keine Mädchen? Magst du Männer?“
„Ich mag meine Ruhe.“
„Aber Ruhe kann man nicht ficken! Komm schon, schau dich mal um! Da sind so viele schöne junge Damen – Anne da drüben, die Brünette mit Schlafstörungen… Die schöne Schwarzhaarige mit Posttraumatischer Belastungsstörung, das ist Celine… Und Kat natürlich, die muss einmal eine echte Schönheit gewesen sein, auch wenn ihre Maße wohl eher 60/60/60 sind als 90/60/90… Trotzdem!“ Bence wirft der Braunhaarigen eine Kusshand zu. Kat öffnet die Hand, fängt den Kuss auf und steckt ihn sich in den Mund. Sie grinst Bence kurz zu, ehe sie jeden Finger ihrer Hand ableckt, wie um sie von den letzten Krümeln zu befreien.
„Sie hat einen herrlichen Sinn für Humor, oder?“, fragt Bence begeistert.
Als er seinen Blick zu Luc wendet, sieht der ihn an, als hätte er gerade verkündet, dass er der Nachfahre Frankensteins ist und mit Vorliebe nachts auf Friedhöfen buddeln geht. Der letzte Patient, den er so geschockt gesehen hat, war der Hypochonder, der kurzfristig entlassen wurde.
„Hast du… hast du eben gerade… du hast doch nicht wirklich…“
Die Kopf ein wenig schräg legend, versucht Bence allein durch Augenkontakt das Problem herauszufinden. Was sich als ziemlich schwieriges Unterfangen herausstellt, stiert der Blonde doch nun nur noch nach unten und auf seinen leeren Teller. „Was?“
„Du weißt schon… das… na das Wort eben…“
„Ficken?“
Luc wird tatsächlich rot um die Nase. Bence kann nur mit größter Mühe ein allzu mädchenhaftes Kichern unterdrücken. Wenn das mal nicht niedlich ist. Fast vergisst er darüber seine Schokostreusel.
„So etwas sagt man nicht. Schon gar nicht am Frühstückstisch.“
„Was? Ficken?“
„Bence!“ Entsetzt- mahnendes Zischen. Dieses Mal kann Bence ein Lachen nicht mehr unterdrücken.
„Wohl noch unaufgeklärt, was? Keine Sorge, das wird sich hier schnell erledigt haben“, Bence befeuchtet einen Finger mit der Zunge und tupft die vom Brötchen gefallenen Streusel auf, um sie sich, nicht ohne ein Augenzwinkern in Richtung Luc, in den Mund zu stecken, „Aber ist ja schon gut, schon gut. Wechseln wir das Thema. Hast du eigentlich Interesse an nem zusätzlichen Kurs? Zeichnen, zum Beispiel? Das macht echt Spaß, ist richtig befreiend! Und bestimmt langweilst du dich sonst irgendwann… ich meine… richtig viel zu tun gibt es hier sonst nicht. Kannst dir ja mal meine Bilder ansehen, so als Vorgeschmack, komm mit, ich zeig sie dir!“ Bence steht rasch auf und greift sich Lucs Hand, um ihn hinter sich her in sein Zimmer zu schleifen. Er wird sich schon melden, wenn er nicht mitkommen will.
Im Türrahmen bleibt der Blonde wie angewurzelt stehen. Bence kennt diese Reaktion. „Willkommen in meinem trauten Heim“, sagt er und wartet geduldig, bis Luc sich entweder an die Farbexplosion gewöhnt hat oder erblindet ist.
Bences Zimmer ist nicht nur wahnsinnig unordentlich, sondern auch bis auf den letzten Flecken mit Postern, Gemälden und Zeichnungen zugeklebt. Zwischen wirr herumliegenden Hosen, Stiften, Blättern und Comics blitzt nur selten der Fußboden durch. Die Wände sind gepflastert mit düsteren Vampirpostern neben Neon-grün-pinken Farbenwirbeln. Kurz gesagt, Bences Zimmer ist der reinste LSD-Trip. Aber die Bezeichnung würde Luc vermutlich auch nur verwirren.
Zielstrebig zieht Bence eine Mappe unter dem Bett hervor und drückt sie Luc in die Hand. Der öffnet den Mund wie zum Widerspruch, schüttelt dann aber ergeben den Kopf und schlägt die Mappe auf.
Eine Familie lacht ihm entgegen, mit weichem Bleistift ungenau skizziert. Das einzig Perfektionierte an dem Bild ist die Stimmung, die Gesichtsausdrücke, kaum zu erkennen, aber doch voller Leben. Die Schnute, die der kleine Junge zieht, kommt Luc beinahe bekannt vor.
Er blättert vorsichtig weiter. Ein Vampir mit hohlen Wangen und toten Augen, mit schwarzem Filzstift klar umrissen, die Haut leicht grünlich.
Bei dem nächsten Bild erstarrt er, sieht zu Bence, dann wieder auf das Papier. Was ihm da mit harten Linien unbarmherzig gezeichnet entgegenblickt, ist ohne Zweifel sein eigenes Gesicht. Müde, alt und unnahbar. Die Falten sind nicht angedeutet, sondern hart und klar erbarmungslos von Anfang bis Ende gezogen.
Luc hebt einen Finger zum Gesicht und fährt die Falten nach, von der Nase bis zu den Mundwinkeln. So schlimm sieht es doch noch nicht aus, oder?
„Danke für das Kompliment. Zeichnest du immer so gnadenlos ehrlich?“, fragt Luc, ohne den Blick von dem Bild zu nehmen.
„Wenn ich weicher gezeichnet hätte, wärst es nicht mehr du gewesen. Aber vielleicht wirst du ja von selbst ein bisschen weicher, dann kann ich auch freundlichere Bilder von dir zeichnen! Gefällt’s dir denn? Welches magst du bis jetzt am liebsten?“
„Ich kann dir sagen, welches ich am wenigsten…“ Luc bricht ab und starrt fassungslos auf das nächste Bild.
Es ist eine Aktzeichnung. Von Luc.
„Du hast…“
„Eine sehr lebhafte Fantasie“, fällt Bence ihm ins Wort, „Wenn was nicht stimmt, sag’s mir, dann besser ich es aus.“
Luc lässt die Mappe fallen und verlässt mit raschen Schritten das Zimmer.
Bence sammelt hastig, auf den Knien herumrutschend, seine Bilder wieder ein, während er ihm hinterherruft: „Was denn, was denn, so schlimm? Ich dachte eigentlich, es ist halbwegs realistisch! Du kannst mich ja gerne vom Gegenteil überzeugen, ich hab ja keinen Röntgenblick…“ Das Geräusch der zuknallenden Tür am Ende des Flurs bestätigt Bence in der Ahnung, dass seine Worte kein Gehör finden.
Stille.
Eine Sache, die Bence gar nicht leiden kann.
Der Therapeut sagt immer, er solle sich entschuldigen, wenn er jemanden vor den Kopf gestoßen hat.
Seufzend öffnet Bence eine Schublade, holt die illegalerweise dort gelagerte Tafel Schokolade heraus und macht sich auf den Weg zu Lucs Zimmer, das er abgeschlossen vorfindet. Kein Wunder.
Bence klopft sachte an. „Luc?“ Keine Antwort.
Bence gehört nicht zu den geduldigsten Menschen. „Luc-cy! Tut mir ja leid, ich weiß doch, dass du prüde bist, ich hätt’s nicht sagen sollen, geb ich ja zu!“, ruft er eine leicht abgewandelte Form des Satzes, den seine Mutter ihn hat auswendig lernen lassen für Situationen wie diese, in Richtung verschlossener Tür.
Als gefühlte drei Sekunden später noch immer keine Reaktion kommt, trifft Bence schweren Herzens den Entschluss, sich von Teilen seiner heißgeliebten und in anderen Situationen mit seinem Leben verteidigten Schokolade zu trennen.
Brüderlich bricht er sie etwa in der Mitte über, entfernt das kleinere Stück aus der knisternden Silberfolie (Luc muss es ja nicht erfahren) und schiebt es unter der Tür hindurch. „Da. Für dich. Ich hab’s echt nicht so gemeint“, sagt er mit seiner Verzeihung heischendsten Stimme.
Ein weiterer Moment der Stille vergeht, und Bence will sich gerade abwenden, als Luc die Tür öffnet und ihm die Schokolade mit dem Anflug eines Lächelns entgegen hält. „Ich mag keine Schokolade.“
Bence kommt gar nicht auf die Idee, beleidigt zu sein. Glücklich nimmt er die Schokolade an sich, bricht mit einem zufriedenen „Nicht mehr böse?“, das mehr Feststellung als Frage ist, ein Stück ab und steckt es sich in den Mund.
Lucs Mundwinkel heben sich um ein paar weitere Teilstriche.
Wenn er lächelt, fällt auf, dass er einen ziemlich großen Mund mit einem gewaltigen Grinse- und Redepotential hat. Die Falten um seine Augen machen ihn nicht unbedingt jünger, aber weicher.
Bence nimmt sich fest vor, den lächelnden Luc im Gedächtnis zu behalten und später zu malen.
Vielleicht lässt sich ja eine richtige Vorher-nachher-Zeichnungs-Geschichte draus machen.
„Guten Morgen“, trällert Bence im Aufstehen, reißt das Fenster auf und lehnt sich vor, soweit das bei vergitterten Fenstern möglich ist, „Herrlich ist das draußen, so muss es im Paradies aussehen! Naja, vermutlich ohne die Gitter vor den Fenstern, aber trotzdem!“
Die Pflegerin wünscht lachend ebenfalls einen guten Morgen und verschwindet aus dem Zimmer, um den nächsten Patienten zu wecken. Bence ruft ihr ein „und Sie sehen heute auch ganz bezaubernd aus, wie immer!“ hinterher, allein schon um seinem Ruf gerecht zu werden.
Im Essenssaal ‚wartet‘ schon Luc auf ihn, versteckt hinter einer großen Zeitung.
Bence holt sich Messer und Teller, Brötchen, Butter und Schokostreusel – auf inständiges Bitten und hartnäckiges Flirten hin hat die Köchin extra für ihn welche gekauft – und lässt sich ihm gegenüber auf einen Stuhl fallen. „Guten Morgen, der Herr, auch so gut geschlafen? Also, ich finde ja immer die Tage zwischen Frühling und Sommer am schönsten zum Einschlafen, die sind einfach am besten, um das Fenster offen zu lassen.“
Er beginnt, sein Brötchen zu schmieren. Die Zeitung raschelt, knickt ein und offenbart einen zutiefst ermüdet aussehenden Luc. Zumindest hat er ziemlich dunkle Ringe unter den Augen. Bence übersieht das taktvoll und redet weiter, während er eine Brötchenhälfte mit den bunten Streuseln übergießt. „Und in der Zeit sind auch immer die Mädchen am besten! Also, ich meine, Frühlingsgefühle ist Unsinn, Frühsommergefühle müsste es heißen! Die Damen hier sind jedenfalls nie schöner gewesen als jetzt!“
„Sag mal… isst du Brötchen mit Schokostreuseln oder Schokostreusel mit Brötchen?“ Luc nickt zu Bences Teller hinüber, auf dem das Brötchen schon kaum noch zu sehen ist.
„Am liebsten Streusel ohne Brötchen, aber das lassen die Ärzte nicht zu. Von wegen, Kohlehydrate und Vitamine und all der Mist, das sei auch wichtig. Warum lenkst du ab? Magst du keine Mädchen? Magst du Männer?“
„Ich mag meine Ruhe.“
„Aber Ruhe kann man nicht ficken! Komm schon, schau dich mal um! Da sind so viele schöne junge Damen – Anne da drüben, die Brünette mit Schlafstörungen… Die schöne Schwarzhaarige mit Posttraumatischer Belastungsstörung, das ist Celine… Und Kat natürlich, die muss einmal eine echte Schönheit gewesen sein, auch wenn ihre Maße wohl eher 60/60/60 sind als 90/60/90… Trotzdem!“ Bence wirft der Braunhaarigen eine Kusshand zu. Kat öffnet die Hand, fängt den Kuss auf und steckt ihn sich in den Mund. Sie grinst Bence kurz zu, ehe sie jeden Finger ihrer Hand ableckt, wie um sie von den letzten Krümeln zu befreien.
„Sie hat einen herrlichen Sinn für Humor, oder?“, fragt Bence begeistert.
Als er seinen Blick zu Luc wendet, sieht der ihn an, als hätte er gerade verkündet, dass er der Nachfahre Frankensteins ist und mit Vorliebe nachts auf Friedhöfen buddeln geht. Der letzte Patient, den er so geschockt gesehen hat, war der Hypochonder, der kurzfristig entlassen wurde.
„Hast du… hast du eben gerade… du hast doch nicht wirklich…“
Die Kopf ein wenig schräg legend, versucht Bence allein durch Augenkontakt das Problem herauszufinden. Was sich als ziemlich schwieriges Unterfangen herausstellt, stiert der Blonde doch nun nur noch nach unten und auf seinen leeren Teller. „Was?“
„Du weißt schon… das… na das Wort eben…“
„Ficken?“
Luc wird tatsächlich rot um die Nase. Bence kann nur mit größter Mühe ein allzu mädchenhaftes Kichern unterdrücken. Wenn das mal nicht niedlich ist. Fast vergisst er darüber seine Schokostreusel.
„So etwas sagt man nicht. Schon gar nicht am Frühstückstisch.“
„Was? Ficken?“
„Bence!“ Entsetzt- mahnendes Zischen. Dieses Mal kann Bence ein Lachen nicht mehr unterdrücken.
„Wohl noch unaufgeklärt, was? Keine Sorge, das wird sich hier schnell erledigt haben“, Bence befeuchtet einen Finger mit der Zunge und tupft die vom Brötchen gefallenen Streusel auf, um sie sich, nicht ohne ein Augenzwinkern in Richtung Luc, in den Mund zu stecken, „Aber ist ja schon gut, schon gut. Wechseln wir das Thema. Hast du eigentlich Interesse an nem zusätzlichen Kurs? Zeichnen, zum Beispiel? Das macht echt Spaß, ist richtig befreiend! Und bestimmt langweilst du dich sonst irgendwann… ich meine… richtig viel zu tun gibt es hier sonst nicht. Kannst dir ja mal meine Bilder ansehen, so als Vorgeschmack, komm mit, ich zeig sie dir!“ Bence steht rasch auf und greift sich Lucs Hand, um ihn hinter sich her in sein Zimmer zu schleifen. Er wird sich schon melden, wenn er nicht mitkommen will.
Im Türrahmen bleibt der Blonde wie angewurzelt stehen. Bence kennt diese Reaktion. „Willkommen in meinem trauten Heim“, sagt er und wartet geduldig, bis Luc sich entweder an die Farbexplosion gewöhnt hat oder erblindet ist.
Bences Zimmer ist nicht nur wahnsinnig unordentlich, sondern auch bis auf den letzten Flecken mit Postern, Gemälden und Zeichnungen zugeklebt. Zwischen wirr herumliegenden Hosen, Stiften, Blättern und Comics blitzt nur selten der Fußboden durch. Die Wände sind gepflastert mit düsteren Vampirpostern neben Neon-grün-pinken Farbenwirbeln. Kurz gesagt, Bences Zimmer ist der reinste LSD-Trip. Aber die Bezeichnung würde Luc vermutlich auch nur verwirren.
Zielstrebig zieht Bence eine Mappe unter dem Bett hervor und drückt sie Luc in die Hand. Der öffnet den Mund wie zum Widerspruch, schüttelt dann aber ergeben den Kopf und schlägt die Mappe auf.
Eine Familie lacht ihm entgegen, mit weichem Bleistift ungenau skizziert. Das einzig Perfektionierte an dem Bild ist die Stimmung, die Gesichtsausdrücke, kaum zu erkennen, aber doch voller Leben. Die Schnute, die der kleine Junge zieht, kommt Luc beinahe bekannt vor.
Er blättert vorsichtig weiter. Ein Vampir mit hohlen Wangen und toten Augen, mit schwarzem Filzstift klar umrissen, die Haut leicht grünlich.
Bei dem nächsten Bild erstarrt er, sieht zu Bence, dann wieder auf das Papier. Was ihm da mit harten Linien unbarmherzig gezeichnet entgegenblickt, ist ohne Zweifel sein eigenes Gesicht. Müde, alt und unnahbar. Die Falten sind nicht angedeutet, sondern hart und klar erbarmungslos von Anfang bis Ende gezogen.
Luc hebt einen Finger zum Gesicht und fährt die Falten nach, von der Nase bis zu den Mundwinkeln. So schlimm sieht es doch noch nicht aus, oder?
„Danke für das Kompliment. Zeichnest du immer so gnadenlos ehrlich?“, fragt Luc, ohne den Blick von dem Bild zu nehmen.
„Wenn ich weicher gezeichnet hätte, wärst es nicht mehr du gewesen. Aber vielleicht wirst du ja von selbst ein bisschen weicher, dann kann ich auch freundlichere Bilder von dir zeichnen! Gefällt’s dir denn? Welches magst du bis jetzt am liebsten?“
„Ich kann dir sagen, welches ich am wenigsten…“ Luc bricht ab und starrt fassungslos auf das nächste Bild.
Es ist eine Aktzeichnung. Von Luc.
„Du hast…“
„Eine sehr lebhafte Fantasie“, fällt Bence ihm ins Wort, „Wenn was nicht stimmt, sag’s mir, dann besser ich es aus.“
Luc lässt die Mappe fallen und verlässt mit raschen Schritten das Zimmer.
Bence sammelt hastig, auf den Knien herumrutschend, seine Bilder wieder ein, während er ihm hinterherruft: „Was denn, was denn, so schlimm? Ich dachte eigentlich, es ist halbwegs realistisch! Du kannst mich ja gerne vom Gegenteil überzeugen, ich hab ja keinen Röntgenblick…“ Das Geräusch der zuknallenden Tür am Ende des Flurs bestätigt Bence in der Ahnung, dass seine Worte kein Gehör finden.
Stille.
Eine Sache, die Bence gar nicht leiden kann.
Der Therapeut sagt immer, er solle sich entschuldigen, wenn er jemanden vor den Kopf gestoßen hat.
Seufzend öffnet Bence eine Schublade, holt die illegalerweise dort gelagerte Tafel Schokolade heraus und macht sich auf den Weg zu Lucs Zimmer, das er abgeschlossen vorfindet. Kein Wunder.
Bence klopft sachte an. „Luc?“ Keine Antwort.
Bence gehört nicht zu den geduldigsten Menschen. „Luc-cy! Tut mir ja leid, ich weiß doch, dass du prüde bist, ich hätt’s nicht sagen sollen, geb ich ja zu!“, ruft er eine leicht abgewandelte Form des Satzes, den seine Mutter ihn hat auswendig lernen lassen für Situationen wie diese, in Richtung verschlossener Tür.
Als gefühlte drei Sekunden später noch immer keine Reaktion kommt, trifft Bence schweren Herzens den Entschluss, sich von Teilen seiner heißgeliebten und in anderen Situationen mit seinem Leben verteidigten Schokolade zu trennen.
Brüderlich bricht er sie etwa in der Mitte über, entfernt das kleinere Stück aus der knisternden Silberfolie (Luc muss es ja nicht erfahren) und schiebt es unter der Tür hindurch. „Da. Für dich. Ich hab’s echt nicht so gemeint“, sagt er mit seiner Verzeihung heischendsten Stimme.
Ein weiterer Moment der Stille vergeht, und Bence will sich gerade abwenden, als Luc die Tür öffnet und ihm die Schokolade mit dem Anflug eines Lächelns entgegen hält. „Ich mag keine Schokolade.“
Bence kommt gar nicht auf die Idee, beleidigt zu sein. Glücklich nimmt er die Schokolade an sich, bricht mit einem zufriedenen „Nicht mehr böse?“, das mehr Feststellung als Frage ist, ein Stück ab und steckt es sich in den Mund.
Lucs Mundwinkel heben sich um ein paar weitere Teilstriche.
Wenn er lächelt, fällt auf, dass er einen ziemlich großen Mund mit einem gewaltigen Grinse- und Redepotential hat. Die Falten um seine Augen machen ihn nicht unbedingt jünger, aber weicher.
Bence nimmt sich fest vor, den lächelnden Luc im Gedächtnis zu behalten und später zu malen.
Vielleicht lässt sich ja eine richtige Vorher-nachher-Zeichnungs-Geschichte draus machen.