Asylum, Akt I, Szene VII

Siam

Mitglied
Luc lehnt sich an die Wand vor Bences Zimmer. Perfekt wäre es, wenn seine Anwesenheit Bence durch die Wand hindurch helfen könnte. Dann müsste er keine dieser … sozialen Situationen meistern, die er schon immer gehasst hat. Die richtigen Worte und Gesten finden. Ihm fehlt das Gefühl dafür. Das Mitleid, das belohnende Glücksgefühl, wenn er jemandem geholfen hat.

Dennoch, Schuldgefühle hat er. Ein Geschenk ist eine Verantwortung, das hat seine Familie ihm früh genug in den Schädel gehämmert. Man muss etwas Gleichwertiges zurückgeben.
Und Bence hat ihm eine Menge geschenkt. Auch wenn Luc es nicht wahrhaben will, Bence hat ihm tatsächlich geholfen.

Und deshalb steht er jetzt hier, neben der Tür zu Bences Zimmer, wissend, dass dahinter ein höchst depressiver Mensch darauf wartet, seine hoffnungslose Stimmung an ihn weiterzugeben.

Luc seufzt frustriert auf. Entscheidungssituationen gehören definitiv nicht zu seinen Lieblingssituationen, stellt er fest, während er die Klinke zwei Millimeter nach unten drückt.

Nichts passiert. Kein Wutgeschrei, kein Wort, kein alles sagendes Geräusch eines vorgeschoben werdenden Riegels. Luc wagt sich weiter vor, drückt die Klinke ganz herunter und schiebt die Tür einen Spaltbreit auf.

Jetzt kann er doch etwas hören, leise, aber klar erkennbar: Musik. Oder eher: Krach. Metal. Nur eben in erträglicher Lautstärke. Luc fragt sich, ob man mit Depressionen noch an andere denkt und dementsprechend menschlich solch unmenschliche Musik hört, während er die Tür ganz auf- und sich ins Zimmer schiebt.

Bence liegt völlig regungslos auf dem Boden, die langen Haare einem Heiligenschein gleich um seinen Kopf ausgebreitet, die Arme zu den Seiten ausgestreckt. Er hört Musik. Mit Kopfhörer. So laut, dass Luc den Text verstehen könnte, würde der Sänger verständliches Englisch singen.

Lucs erster Impuls ist, hinzurennen und die Musikanlage aus dem Fenster zu werfen. Oder sie auszuschalten.

Er tut nichts davon, sondern übt sich in Vernunft. Soweit das noch möglich ist, hier, in diesem Zimmer, in diesem Haus.

Er kniet neben Bence nieder und berührt ganz vorsichtig seine Hand, auf alles gefasst: Einen riesigen Schrecken, einen hysterischen Anfall, einen Rauswurf.

Bence jedoch öffnet einfach nur die Augen.

Es ist nicht so, als würde er Luc nicht sehen. Nein, vielmehr scheint ihn dessen Anwesenheit schlichtweg nicht zu interessieren. Unwichtig zu sein neben dem, was er gerade durchmacht.

Luc kann es nur erahnen. Er will es auch eigentlich gar nicht wissen. Aber eines drängt sich ihm geradezu auf: Es hat keinen Sinn. Wozu hierbleiben und der eigenen Stimmung zusehen, wie sie das alte Gefühl der Solidarität ausgräbt und Bences im Keller Gesellschaft leistet, wenn Bence nichts davon hat und Luc sowieso nicht?

Er hat sich das anders vorgestellt – hineingehen, das unangenehme Gefühl, Bence etwas zu schulden, loswerden und wieder hinausgehen. Vielleicht sollte er dem Therapeuten etwas mehr Aufmerksamkeit schenken, schließlich betont der immer wieder, dass Menschen – vor allem hier – keine Maschinen und damit nicht berechenbar seien.

Lektionen, die das Leben erteilte. Luc ist im Begriff, sich zu erheben und den Raum unverrichteter Dinge zu verlassen, eine Sache, die ihm noch nie behagt hat, als Bences Hand sich um sein Handgelenk legt.

Es liegt wenig Kraft in dem Griff, genauso wenig wie in den Worten, die kaum die Musik übertönen: „Bleib hier.“ Dennoch, beides ist unmissverständlich. Vielleicht ist seine Anwesenheit also doch nicht so nutzlos, wie er gedacht hat.

Der Zug an seinem Arm wird verstärkt, die Intention dahinter ist klar. Er soll sich auch hinlegen, Gesellschaft leisten oder eine Schulter zum Ausheulen liefern. Luc graust es vor der körperlichen Nähe, die damit unweigerlich verbunden ist. Es gibt wenig, was er noch weniger leiden kann. Leider gehört das Gefühl, jemandem etwas zu schulden, zu dem Wenigen.

Und so lässt Luc sich herunterziehen, dreht sich auf dem harten Boden auf die Seite. Bence vergräbt das Gesicht an seiner Brust und hält ihn weiter fest.

Die hasserfüllte Stimme des Sängers dringt immer noch dumpf an Lucs Ohren. Er liegt stocksteif da und starrt an die Wand. Wenn das hier vorbei ist, wird es Bence sein, der ihm etwas schuldet.
 



 
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