Atlas

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Thomasius

Mitglied
Atlas

Als der Richtspruch einst erging,
Atlas seine Last empfing,
lud er stolz die teure Bürde
auf sich, mit Titanenwürde,
schwor mit Heldenmut im Herzen,
dass er, selbst bei Höllenschmerzen,
selbst bei aller Last der Erde,
niemals mehr bezwungen werde.
"Nie", gelobte er vor Zeugen,
"werde ich den Nacken beugen!"

Mutig durch der Sterne Zeiten,
durch die ewig öden Weiten,
einsam in dem Weltenall,
trug er den belebten Ball.
Freute sich an neuem Leben,
sah der Menschen Lust und Streben
ihm Erleichterungen bringen.
Selbst die Schwerkraft zu bezwingen,
wähnte er in jenen Tagen.
Ach, wie leicht war da das Tragen!

Ach, die Tage sind vorbei! –
Ach, wie fließendschweres Blei
drückt die Bürde nun herab,
neigt die Erde sich zum Grab.
Was den Menschen froh erhebt
ward verloren und verlebt.
Heit're Schönheit, fromme Sitten
sind zu Fratzen roh zerschnitten.
Kalte Herzen dulden Leiden,
die so sinnlos sich verbreiten.

Atlas seufzte zukunftsbange,
fragte sorgenvoll, wie lange
er die rasendschwere Bürde
noch in Armen halten würde.
Weh in Gliedern und im Herzen
rief er bitter aus vor Schmerzen:
"Bruder, diese Menschenbrut,
siehe, sie missbraucht die Glut!
Feuer, dass du einst geschenkt,
mordet kriegerisch und sengt!"

Und er bäumt die Kraft der Sehnen,
bis Stunden sich zu Jahren dehnen,
bis brüllend er vor Qual gesteht,
dass seine Kraft zu Ende geht.
"Nun sei's -- wenn selbst Titanenmut
vor dieser Welt muss weichen,
verwerf' ich sie in Zorn und Wut,
und setze so ein Zeichen!"

Noch in fernster Himmelsferne
zittern schaudernd selbst die Sterne
von des Aufschreis Echohall.
Und die Erde stürzt ins All. –
Blau, mit einem sanften Stöhnen,
fern so ruhig und in schönen
abgemessnen Himmelskreisen,
leichtbedeckt mit silberweißen
Wolken der Vergänglichkeit,
stürzt sie taumelnd aus der Zeit.

Ach, in diesem sanften Schweben
nimmt sie mit sich alles Leben,
tilgt die Zukunft aller Taten,
reißt vom Himmel die Plejaden. –
Atlas schaudert weltversunken,
will den schrecklichschönen Funken
halten, dass er neu erscheint.
Atlas senkt das Haupt – und weint.
 
G

Gelöschtes Mitglied 20513

Gast
Ja, wir Menschen. Sind eben keine Titanen, wir sind Kleingärtner, Verkäuferinnen, Chefs, Händler, Eltern, Hausmeister und meistens unglückliche Dichter. Die ganze Erde würde uns zumindest überfordern. Da braucht es schon Titanen, um unseren Saustall auszumisten. Leider hatte Zeus die Titanen ausgerottet, und jetzt müssen wir sehen, wie wir mit der Erde fertig werden. Atlas jedenfalls spielt nicht mehr mit. Sehr verständlich. Da müssen wir uns wohl selbst aufraffen vom Sofa. Ein paar unsaubere Reime, ein paar metrische Hacker, aber was du meinst, versteht der Leser. Aber ob er sich wirklich angesprochen fühlt? Wie gesagt, wir sind Kleingärtner, wir verstehen was von Humuserde, aber schon eine Querstraße weiter sieht die Erde anders aus: Beton unsre Welt. Nicht nur als Plattenbauten.

Gruß, blackout
 
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Thomasius

Mitglied
Liebe/r blackout,

vielen Dank für deinen Kommentar. Unreine Reime sehe ich keine, vielleicht gibst du mir Beispiele, damit ich es möglicherweise verbessern kann. Die drittletzte Strophe steht absichtlich im Jambus und nicht (wie der Rest) im Trochäus.

Liebe Grüße
Thomasius
 

Soljanka

Mitglied
Hm, ich bin zwar auch u.a. Kleingärtnerin, aber ich fühle mich trotzdem angesprochen. Jugendlicher Idealismus und Kampfgeist, dessen Ausbeutung durch Manipulation, die Befreiung aus derselben, das Leiden an der Desillusioniertheit, das Gefühl, sich selbst verloren zu haben, die Sehnsucht nach etwas, wofür es sich zu leben lohnt, das alles habe ich hier gelesen. Und das sind menschliche Erfahrungen. Ob ich das reininterpretiere, mag der Autor entscheiden.
Mir gefällt das Gedicht.

Herzliche Grüße von
Soljanka
 

Thomasius

Mitglied
Liebe Soljanka,

der Autor fühlt sich sehr gut verstanden und dankt dir für deinen Kommentar von ganzem Herzen.

Liebe Grüße
Thomasius
 



 
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