ikarus-1975
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~~ Auf der Kippe der Zeit ~~
Kennt ihr das auch? Da geschieht euch etwas Wunderbares, etwas, das euer Innerstes so sehr berührt, dass ihr meint, in einem winzigen Moment die ganze Welt zu erkennen – und dann, wenn ihr es jemandem sagen wollt, zerfließt es euch. Das Bild, das ihr gesehen, das Gefühl, das ihr gehabt – weg. Und sobald das erste Wort eure Lippen passiert hat, wisst ihr: Da schleicht sich Nonsens heran, nicht der Grund allen Seins.
So ging es mir gestern Nacht – so geht es mir am heutigen Morgen.
Ich bin kein Poet, ich bin noch nicht einmal ein Schreiber. Ich bin nur einer, der versucht und mit sich ringt.
Man sagte mir neulich, ich dürfe nicht alles glauben, was ich denke. Der Fehler der meisten Menschen bestehe darin, recht schnell und recht widerspruchslos zu glauben, was sie denken. Ich erwiderte, dass man differenzieren müsse. Manchmal sei das, was man denke durchaus des Glaubens wert. Doch das fand kein Gehör.
Letzte Nacht lag ich auf der Seite und sah vor mir im Geiste eine Baumnuss. Ich sah sie, ich erspürte ihre Textur, ihre harte, zerfurchte und zugleich glatte, ja sogar warme und geschmeidige Schale. Ich drehte sie, berührte ihren spitzen Zipfel, den kleinen Auswuchs, sah die Naht, an der ihre beiden Hälften zusammenhaften. Eine Baumnuss – so groß wie ein kleines Ei.
Ich dürfe nicht alles glauben, was ich denke.
Hätte ich es nicht getan, hätte ich ihn nie getroffen.
Ich spürte diese Baumnuss, schloss die Augen, holte tief Luft, öffnete sie wieder und konzentrierte mich auf sie. Und dann sah ich auf die Zahlen, die ich mein Handy gebeten hatte, mir zu geben – Zahlen, die im Grunde nichts verraten, nur zu dem führen sollen, was sich in ihnen birgt. Mich führten sie, kaum waren sie über dem Horizont erschienen. Worte blitzten auf und verschwanden so schnell wieder, dass ich sie kaum greifen konnte.
Hier. Dort, Zeit, Wesen, wohin? Da, dort, genau – er wusste, weiß … In seinen Augen ...
Ich sah ihm in die Augen, während er starb. Ich sah frisches Blau – oder war’s der Himmel, der sich in ihnen spiegelte? Ich war mir nicht sicher, wusste nur, dass ich bleiben könne, dass ich Zeit hätte. Zeit. Und mich durchfuhr es. Im Augenblick seines Todes lachte er mich an: Er weiß um die Zeit, weiß um ihr Wesen.
Ich nahm etwas wahr. In seinen Augen sich erhebend. Ein Schatten? Etwas Dunkles? Wenn ich das zeichnen könnte. Wenn ich nur die Mittel dazu hätte.
Ich solle nicht alles glauben, was ich denke.
Im Grunde, ja. Bleib kritisch dem gegenüber, was du erlebst – oder zu erleben meinst.
Er weiß um die Zeit, er kann ihre Textur lesen. Und als er verstarb, im Fieberwahn, entzündete sich ein kleines Flämmchen für ihn ganz neu. Er lachte, lachte mich an. Er lächelte nicht nur, sondern lachte laut auf. Und während er das tat, hörte ich mich selbst laut atmen, keuchend, rasselnd. Es heißt, er sei an einer Lungenentzündung gestorben. Heißt es. Aber niemand weiß es genau, denn die Zeiten, die trennen uns.
Neben mir plötzlich eine andere Präsenz. Jemand, der gekommen war und dies keuchende Atmen übernahm. Ich griff nach dessen Hand, drückte sie leicht. Er erwiderte den Druck.
„Du warst schon mal hier, stimmt’s?“, flüsterte ich. Er nickte.
Es findet sich. Wir sind zwei, er einer. Er bündelt uns. Aus einem werden zwei, dann drei. Und aus drei wieder zwei, dann einer.
Er ist ein Portal, das die Zeiten durchwebt. Wer ihn findet, ist nicht im Besitz des Steins der Weisen, aber er weiß.
Wir haben ihm in die Augen gesehen und in ihnen, sich auftuend, eine Mauer des Raumes, in dem er starb.
Ich kam zurück, war erschüttert, gerührt und von einem Gefühl des Angekommenseins erfüllt – nicht mehr im Hier, nicht mehr im Dort, sondern im Augenblick der Vereinigung.
Alles wird gut, möchte man sagen, wenn es sich nicht so trivial anhöre.
Er hält zusammen, was getrennt erscheint. Er bindet, was die Zeit entzweit.
Er ist eine Treppe, die sich vom Keller bis zum Dach durchs Haus windet, wie eine Schnecke, die zur Schlange wird – vom kleinen zum Großen, alles in sich tragend, alles seiend, wenngleich in diesem einen Moment ganz der sterbende Mensch.
Als ich ihm in die Augen sah, da loderte es wie die Flammen von Öllämpchen und ich wusste: Er ist es. Er kann es.
Er ist nicht der Messias, nicht der Christus. Er bringt nicht Tod noch Leben. Er schürt nicht Ängste, noch nimmt er sie. Er ist, was er ist und fordert wie Pindar, sein Urgroßvater im Geiste: Werde, was du bist. Entwinde dich, damit aus der Schnecke eine Schlange werde und zieh dich in dich selbst zurück, damit aus der Schlange wieder die Schnecke werde.
Er lag auf dem Rücken als er starb und ich sah ihm im Moment seines Todes in die Augen.
Mir war danach, als klapperten mir die Zähne. Als holzte ich Holz, als liefe ich durch ein tiefes Moor. Ich hatte Durst und suchte die Baumnuss als meinen Anker im Hier, im Jetzt – tief in der Nacht: es war 3 Uhr.