auf der spur

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anbas

Mitglied
auf der spur

bin auf dem narbenweg
holprig ist er
geschaffen aus vielen verletzungen
und seien sie noch so gering
klagend baut man ihn weiter aus
die reise kein vergnügen
oft steht man im stau
denn so viele nutzen ihn

dort drüben
die allee der leichtigkeit
gebaut aus vielen
kleinen und großen
glücksmomenten
garantiert freie fahrt
und entspanntes reisen
aber so wenige
wählen diesen weg

suche schon lange
nach ausfahrten
hinüber zur allee
doch fürchte ich
bereits viele verpasst zu haben

sammle nun täglich
freudenmomente
selbst kleinste sandkorngroße
und noch so banalste
ich berge bruchstücke
meiner erinnerungen
an schöne augenblicke
und baue mir
meine eigene zufahrt
 

sufnus

Mitglied
Hey anbas!
Der Weg (oder später: die Straße) das ist, vermutlich seit es die ersten Trampelpfade gibt (also schon immer), eine gültige Metapher für das Leben. Die Ausdrücke Curriculum vitae oder Lebenslauf beruhen auf dieser Sichtweise. In der Literatur muss ich an das Beispiel von Herakles am Scheideweg denken, womit dann auch das Thema berührt wird, dass es womöglich mehrere, alternative, Lebens-Wege gibt, unter denen der Mensch sich den (hoffentlich zu ihm "passenden") heraussuchen darf (muss? soll?).
In neuerer Zeit (und auf den Bereich der Lyrik bezogen) kann man an das sehr bekannte Robert Frost-Gedicht "The road not taken" denken; im Unterschied sowohl zum alten Mythos als auch zum Robert Frost-Gedicht ist in Deinem Fall aber die Wahl des Wegs schon passiert (oder es gab gar keine Wahl) und jetzt späht das lyrische Ich von seiner Staustrecke aus sehnsuchtsvoll über die Leitplanken hinweg zu der Alternativroute, wo der Verkehr frei und unbekümmert rollt - ein Anblick der jedem Autofahrer vertraut sein dürfte.
Die besondere Pointe bei Deinen Zeilen ist natürlich, dass der reichlich unkommode und wenig erstrebenswerte Weg von der Mehrzahl der Reisenden bevölkert wird, während der schöne und eigentlich zu bevorzugende Weg wenigen Glücklichen vorbehalten ist. Hier scheint keine so richtige "Moral" im klassischen Sinn am Start zu sein. In den meisten Lebensweg-Gleichnissen (schon seit obigem Herakles-Mythos) entpuppt sich der vermeintlich verführerischere Weg als die (moralisch) schlechtere Wahl - das lässt sich aus Deinen Zeilen gerade nicht herauslesen. Man hat das übliche Denkmuster von Gleichnissen so verinnerlicht, dass man hier kurz stutzt: Die Sache mit diesem Freifahrtweg ins Glück muss doch irgend einen Haken haben. Aber offensichtlich ist die einzige Schwierigkeit, dass man sich zum optimalen Lebensweg seine Zufahrt selbst bauen muss und nicht die bereits vorgefertigten Auffahrten nutzen kann. Das alte Sprichwort, dass jeder Mensch seines Glückes Schmied ist, klingt hier durch.
Insgesamt mag ich Dein Spiel mit dem alten Bild des Lebens-Weges. Mein einziger kleiner Kritikpunkt wäre, dass der Text so klar und konzise gestaltet ist, dass er wenig bis kein "Rest-Geheimnis" bietet (ich kleide diese Kritik sehr absichtsvoll in lobende Attribute wie klar & konzise, denn das was ich hier als etwas kritisch empfinde, kann man eben auch gerade als die Stärke des Textes sehen).
LG!
S.
 

anbas

Mitglied
Moin sufnus,

wow, was für eine eindrucksvolle Textarbeit. Mir bleibt immer die Spuke weg, wenn ich sowas lese. Vielen Dank, dass Du Dir diese Mühe gemacht hast. Ich freue mich, dass Dir der Text gefällt.
Neben dem Weg als Metapher in diesem Gedicht, ist auch die Perspektive und ein möglicher Perspektivwechsel für mich ein wichtiger Punkt. Ohne eine andere Sichtweise und dem Willen, die eigene Sichtweise zu ändern, wird es den "Spurwechsel" nicht geben.

Da ich klare und "grade" Texte bevorzuge (sowohl beim Schreiben als auch beim Lesen von Texten anderer Autorinnen und Autoren) kann ich mit dem Kritikpunkt gut leben.

Liebe Grüße

Andreas
 



 
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