aufgehoben

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seefeldmaren

Mitglied
Hallo @schwarzer lavendel,

hier würde ich wirklich das Wort "appliziert" entfernen - ist der Rest des Gedichtes sprachlich doch so wunderschön schlicht!
So dass das Wort "appliziert" wie ein Mückenstich für mich daherkommt.

Maren
 
hallo maren,
was ist schön an einem gedicht, in dem eine frau sich in eine einsame nacht hüllt, weil sie voll trauer an ein verlorenes glück denkt - an ihr liebste? wie sollte das gedicht ohne mückenstich funktionieren? dann wäre es ja nur romantik.
liebe grüße
charlotte
 
E

evermore

Gast
Liebe @seefeldmaren und liebe @schwarzer lavendel vielleicht auch liebe Nacht, in der das Gedicht wohl entstand,

ich möchte mich ganz in den Riss zwischen euren Positionen setzen, wie man sich auf eine kahle Kirchenbank setzt – wissend, dass dort schon viele vor einem geschwiegen haben.

Das Wort „appliziert“ hat mich beim Lesen auch erschreckt – aber nicht wie ein Mückenstich.
Eher wie eine kalte Hand, die einem mitten in der Wärme über den Rücken streicht.
Und genau deshalb halte ich es für unverzichtbar.
Nicht, weil es „schön“ ist. Sondern weil es stört. Weil es medizinisch klingt, steril, fast mechanisch –
und eben dadurch eine zweite Erzählebene aufreißt:
Diese Nacht ist keine weiche Decke.
Sie ist eine Operation.

Sie appliziert Sterne – wie man Pflaster auf eine klaffende Wunde klebt.
Diese Sterne sind nicht romantisch. Sie sind notdürftige Ästhetik.
Kosmetische Heilung einer tieferen Trümmerstelle.

Poesie muss nicht immer fließen wie Bachläufe in Aquarellen.
Manchmal darf sie auch stocken, quietschen, verhaken.
Denn wer sagt, dass Schönheit immer geschmeidig sein muss?

Ich verstehe den Drang nach stilistischer Kohärenz, doch Charlotte hat sich entschieden, diesen Schwellungsherd nicht mit Lyrikbalsam zu beruhigen, sondern ihn offenzulegen. Das verdient, finde ich, nicht Begradigung, sondern Applaus.

Gerne gelesen.

Herzlich,
evermore
 

seefeldmaren

Mitglied
vielleicht auch liebe Nacht, in der das Gedicht wohl entstand,
Hey evermore! :)

Ich verstehe die Intention, „appliziert“ im Rahmen eines lyrischen Textes als legitimes Stilmittel zu verteidigen - immerhin ist Lyrik ein Raum für Freiheit, auch für Brüche. Aber genau darum lohnt sich der genaue Blick auf den Sprachduktus: Wenn ein Text durchgehend schlicht, alltagssprachlich und in bewusst reduzierter Tonlage geschrieben ist, wirkt ein Fachbegriff für mich wie „appliziert“ nicht wie ein kunstvoll gesetzter Kontrast, sondern wie ein unbeabsichtigter Ausreißer.
Man könnte es umdrehen: Würde man ein Gedicht von Britta Lübbers nehmen, das in komplexer Sprache arbeitet - und dort eine Verniedlichung wie „Hundi“ oder „Käffchen“ oder "blümlein" einsetzen, ließe sich das auch nicht mit dem Argument „es ist eben Lyrik“ verteidigen. Es wäre, als würde man einem Altmann die Nomen klauen oder einem Stolterfoht den Humor. Susan Kreller lässt in ihren Werken bewusst Wörter weg und in dem Kontext funktioniert das auch wunderbar.
Solche Wagnisse kann man machen, ja, und wie du es bereits so schön sagtest, die Lyrik lebt davon, aber es wirkt für mich stilistisch inkonsequent und wirft Fragen auf, die vom Gedicht selbst ablenken. Es ist kein Störfaktor, der es für mich zur Funktion trägt, sondern einer, der mich sprachlich stört. Das ist wie Äpfel und Birnen. Ulrike Draesner schrieb beispielsweise ein modernes Sonett, in dem sie absichtlich Fehler einbaute und im Anschluss die Strukturfähigkeit und den "Fehler als Folge" reflektierte. In dem Kasus funktionierte das wunderbar. Hier aber, bei dem Gedicht, möchte es bei mir nicht zünden. Wenn es bei anderen zündet, wunderbar, bei mir aber nicht.
Mir persönlich hat die schlichte Sprache insgesamt gefallen, das will ich ausdrücklich sagen - sie trägt und sie wirkt authentisch. Gerade deshalb empfinde ich „appliziert“ als so störend. Nicht, weil es ein „falsches“ Wort wäre, sondern weil es für mich als Leser die Sprachwelt des Gedichts verlässt, ohne dabei funktional etwas zu gewinnen. Die Botschaft wird für mich dadurch nicht verstärkt, sondern verliert an Glaubwürdigkeit.

Das ist, denke ich, eine Konsequenz, die man beim Veröffentlichen in Kauf nimmt: Der eine liest es so, der andere anders. Das ist nicht nur normal, sondern eine wundervolle Reizung um Lyrik herum, aus der sie zu wachsen scheint. Mein Eindruck - und dies ganz subjektiv - war in dem Moment schlicht der, dass der Text an dieser Stelle etwas unausgewogen wirkte, als würde hier noch ein Gefühl für sprachliche Nuancierung wachsen. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Beobachtung, die ich im Geist der konstruktiven Rückmeldung teilen möchte. Was auch Grund war, wieso ich einen Kommentar schrieb.

Ich selbst schrieb einst ein Liebesgedicht, das nur aus solchen Wörtern bestand - und? Hat es funktioniert. Natürlich nicht. :cool::eek:

Maren
 
hallo evermore,
ich fühle mich ganz gut von dir verstanden. und finde schön, dass du so ganz ohne arroganz schreibst.
liebe grüße
charlotte
 



 
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