AURUM 10/11

Michael Kempa

Mitglied

Flucht


September, 14101 Jahre vor Christus



„Catsin, es ist richtig, dass du reisen willst, mit Hermes an deiner Seite hast du einen starken und mächtigen Begleiter.“ Hesto drückte Catsin kurz an sich und ließ sie mit einem besorgten Blick gehen.
Hesto blieb mit denen zurück, die nicht mehr reisen konnten.
Hermes trug einen Teil von Catsins Gepäck.
„Du hast selbst nichts zu tragen?“ fragte Catsin.
„Mehr als du denkst, meine Sachen warten im Wald, eine knappe Stunde von hier.“
„Hermes, bist du der Magier, von dem alle sprechen? Der Trismegistos?“
„Die Leute nennen mich so.“
„Dann bist du ein mächtiger Mann!“
Hermes schüttelte den Kopf. „Der Wesir sieht das anders, er hat mich des Landes verwiesen und wenn er mich zu fassen bekommt, habe ich nichts Gutes von ihm zu erwarten. Also habe ich deutlich weniger Macht als Probleme.“
„Aber du beherrschst die Magie“, beharrte Catsin. „Du hast den Nil bezwungen, du kannst Funken sprühen lassen…“
Hermes lachte kurz. „Du bist die Magierin!“
„Ich? Wie kommst du darauf?“
„Nun, wer beherrscht die Zeit? Wer sagt das Nil-Hochwasser voraus?“
Catsin holte Luft. „Ich habe eine Sonnenuhr gebaut, das Hochwasser kommt in jedem Jahr zur gleichen Zeit. Was hat das mit Magie zu tun?“
Hermes setzte nach: „Du kannst aus Eisen Aurum machen, so sagen die Leute. Ich habe den Aurumdolch gesehen, den du gezaubert hast.“
„Hesto hat mir das gezeigt - mit seiner Batterie und etwas Goldblech. Das hat mit Magie nichts zu tun, der Dolch ist aus Eisen, nur eine hauchdünne Schicht ist aus Gold, das Metall, das du Aurum nennst.“
Hermes gab nicht nach. „Die Leute nennen es Zauberei!“
„Hermes, die Sache mit den Funken, kannst du mir das beibringen?“, fragte Catsin.
„Wenn du bei mir in die Lehre gehst, dann lernst du Dinge, von denen du bisher noch nicht geträumt hast!“
Catsin überlegte nicht lange. „Der Magier und die Magierin?“, fragte sie.
„Der Zauberer und die Hexe!“
Catsin schwieg für den Rest des Weges.
Im Wald wurde es still, die Affen waren nur noch in der Ferne zu hören, das feine Summen der Moskitos verstummte. Die Geräusche des Dschungels fehlten. Vorsichtig setzte Catsin einen Fuß vor den anderen.
Hermes wollte loslachen, doch Catsin legte ihren Zeigefinger vor den Mund und befahl zu schweigen. Hermes zuckte mit den Schultern und drehte seine Handflächen von sich weg – ein Zeichen seiner Ratlosigkeit, eine stumme Frage.
Im Zentrum der Lichtung lag ein riesiger Laubhaufen, den Catsin im Blick behielt, sie spürte, dass hier die Ursache des Schweigens lag. Vorsichtig zog sich die Waldläuferin zurück. Der Magier berührte das Mädchen leicht an der Schulter. Catsin zuckte zusammen.
Mit einer theatralischen Bewegung trat der Magier vor den Laubhaufen und ließ die Illusion verschwinden.
Die Waldläuferin löste ihre Anspannung mit einem Schrei und riss die Hände vor ihr Gesicht, um sich zu schützen.
Im Gras lag der Gleiter, geduckt wie eine Katze vor dem Sprung.
Fragend blickte Catsin in die Augen von Hermes.
„Entschuldige bitte meine kleine Prahlerei…“, sagte der Magier. Er zeigte ihr das kleine Kästchen, mit dem er die Tarnvorrichtung ausgeschaltet hatte.
„Ich habe so einen Gleiter schon einmal gesehen, in Alesandria im Hafen. Das Gerät stand dort am Kai und war schwer bewacht. Ich habe es aber nie fliegend gesehen.“
Catsin schlich vorsichtig um den Gleiter, sie suchte den Blick von Hermes und streckte die Hand aus, um den Gleiter zu berühren. „Es ist unglaublich glatt!“
Hermes nickte zustimmend.
Das Gepäck verstaute der Magier im Laderaum und er winkte seine Begleiterin in das Fluggerät herein.
Catsin sank neben dem Piloten in ihren Sitz. Mit weit geöffneten Augen betrachtete sie die Anzeigen, Schalter und Regler auf dem Armaturenbrett.
„Das hatte ich nicht erwartet, das ist jetzt etwas viel für mich“, stammelte sie fast unhörbar.
Hermes half seiner Begleiterin in die Gurte.
„Es ist zu unserer Sicherheit, damit wir auch immer im Sitz bleiben.“
Erst als sich Hermes auch die Gurte anlegte, war Catsin beruhigt.

Der Wald sank unter Catsin weg, die Baumkronen verschwanden und gaben den Blick auf den weiten Dschungel frei. In geringer Höhe nahm der Gleiter sacht an Geschwindigkeit zu. Die Bäume tauchten vor der Waldläuferin auf und verschwanden sofort wieder. So schnell war sie noch nie gewesen; Übelkeit überfiel sie, wie beim Klettern auf einen sehr hohen Turm.
Hermes reduzierte die Geschwindigkeit. „Entschuldige, ich will dich nicht erschrecken!“
Catsin beherrschte sich. „Es ist schon gut - nur, mit dieser Geschwindigkeit kommen wir nicht sehr weit.“ Sie erfasste die Lage und schien sich zu entspannen, nur die Knöchel ihrer Hände zeichneten sich weiß ab.
„Siehst du die Anzeige dort auf dem Armaturenbrett?“ Hermes deutete auf die Anzeige direkt vor dem Sichtfenster.
Catsin nickte. „Die Zahl 5 wird angezeigt, direkt darüber eine 3-0.“
„Genau, wir fliegen mit 5 km/h in 30 Metern Höhe.“
Catsin verstand. „So schnell, wie ein Mensch gehen kann, so hoch, wie Bäume wachsen. Die Zahl darüber, die 2-6-0, was bedeutet sie?“
Hermes erklärte: „Du kennst Nord, Süd, Ost und West? Die Anzeige hier ist etwas genauer. Nord ist 360 Grad, Süd 180 Grad.“
Catsin verstand. „Wir bewegen uns fast genau nach Westen, einen Hauch südlich.“
Der Magier nickte. „Du verstehst schnell.“
Catsin entspannte sich weiter, die Hände legte sie auf ihren Bauch. „Du kannst schneller werden.“
Eine angenehme, weibliche Stimme erklärte: „Ich erhöhe auf 20 km/h und steige auf 50 Meter.“
Catsin schaute sich überrascht um, im Gleiter war niemand außer dem Magier und sie selbst. Die Quelle der Stimme konnte Catsin nicht nennen, die Stimme schien von überall her zu kommen.
„Entschuldige, ich habe mich nicht vorgestellt, ich bin Adeona, dein Kapitän.“
Catsin schaute Hermes ratlos an. Der Magier zuckte mit den Schultern. „Der Gleiter hat einen Namen: Adeona.“
„Ein sprechender Gleiter…“ Catsin sank in ihren Sitz und schaute auf die Bäume, die knapp unter ihr davonzogen.
„Das Ziel wird in 20 Stunden erreicht, darf ich die Parameter anpassen? Die Ankunft erfolgt dann in einer Stunde.“
Catsin zeigte nur noch ein hilfloses Lächeln. „Wenn es sicher ist…“, murmelte sie.
„Problemlos.“ Adeona änderte die Parameter.
Catsin beobachtete, wie sich die Anzeigen veränderten. Die Geschwindigkeit stieg auf 500 km/h, der Höhenmesser zeigte 5000 Meter an. Vorsichtig wagte Catsin einen Blick durch die Frontscheibe. Die Landschaft zog an ihr vorbei. Die Bäume wurden zu Wald, zu einer undefinierbaren, grünen Fläche, die sich langsam davonschob.
Am Ziel war ein Zelt aufgebaut; es gab etwas zu essen und eine vorbereitete Schlafkabine mit Sanitärbereich.
Wie im Palast des Regenten, dachte Catsin.
Eine traumreiche Nacht erwartete die Reisende.
Am frühen Morgen legte Catsin ihre Reisekleidung an, derbe Hosen, ein knopfloses Hemd und die Stiefel aus Leder, die sie noch nie im Stich gelassen hatten. So gekleidet trat sie aus dem Zelt.
„Kampfbereit?“, fragte Hermes, der sich leger um sein Frühstück kümmerte. „Magst du Rührei mit Speck?“
„Rührei.“ Fast mechanisch setzte sich Catsin neben den Magier.
„Wie geht es weiter?“, fragte Catsin.
„Erstmal wird gefrühstückt.“ Hermes wirkte entspannt. „Du wirst heute Adeona kennenlernen.“
Eine Stunde später umrundete Catsin das Fluggerät, Hermes begleitete den Rundgang.
„Es gibt keine Fenster“, stellte Catsin fest. „Ich kann den Eingang nicht finden, die Oberfläche ist glatt, es gibt keine Spalten, es gibt keine Griffe.“
Der Magier zeigte seine Handfläche, auf der das schwarze Kästchen lag. „Frage, ob du den Gleiter betreten darfst.“
„Darf ich rein?“, fragte Catsin impulsiv.
„Wer fragt?“ Die Stimme schien aus dem Gleiter zu kommen.
„Catsin.“
„Du darfst mich Adeona nennen.“
Catsin schaute ratlos zu Hermes.
„Nochmal!“, forderte er auf.
„Adeona, öffnest du bitte den Eingang?“
„Gerne, Catsin, Hermes hat dich angekündigt.“
Aus dem Gleiter betrachtete Catsin das Lager. „Wie kann es sein, dass außen alles glatt und weiß ist, wenn ich hier drinnen das Lager sehen kann?“
„Frage Adeona nach dem gestrigen Flug“, sagte Hermes.
Catsin betrachtete nun den Dschungel und die vorbeifliegenden Bäume, eine Aufzeichnung des gestrigen Tages.
Eine ganze Woche verging, der Magier begann in Büchern zu lesen. Catsin verbrachte ihre Zeit mit Adeona.
Das Sprachprogramm des Gleiters schien einen kleinen Fehler zu haben, Adeona nannte die Schülerin einfach Hexe.
Der Magier ergriff die Initiative. „Lass uns einen Rundflug unternehmen, ich will sehen, was du gelernt hast.“
Adeona unterstützte den Flug und führte Catsins Anweisungen aus.
Adeona und Hexe wurden ein gutes Team. Catsin, die Hexe, übernahm auch ohne Autopilot das Steuer und nur in überzogenen Aktionen der Hexe griff Adeona ein, um einen Absturz zu verhindern.
„Wir können das Lager verlassen“, eröffnete der Magier. „Adeona benötigt Pflege und Treibstoff. Wir fliegen nach Shambala!“
In Shambala kümmerten sich die Robots um Adeona.
Catsin beschäftigte sich mit der Energieversorgung und dem Konzept der Antimaterie.
Hier gab Hermes offen zu, nicht genug Wissen zu haben. Dafür lehrte er über Polarität und Materie, er konnte die ungeheure Energie beschreiben, die entsteht, wenn Materie auf Nicht-Materie trifft. Die Hexe fand den Weg zum Motor von Adeona und begriff, dass dieses Behältnis aus Aurum nie geöffnet werden durfte. Sie nannte es den Pandora-Aurum-Antrieb.

Im Shambala-Massiv verging die Zeit nach ihren eigenen Regeln. Adeona beschäftigte die Hexe, Hermes vertiefte sich in seine Studien. Die Nachrichten aus Atlantis besorgten den Magier. Es gab blutige Aufstände im Inselreich, die von Mardu niedergeschlagen wurden. Das Volk fand offenbar Gefallen an öffentlichen Hinrichtungen, die im Radio übertragen wurden. Der Senat wurde aufgelöst, Richter in den Kerker geworfen. Der Clan der Kauras war Mardu ergeben und bildeten ein Geflecht aus Korruption und Verbrechen.
Hermes rief Catsin zu sich. „Die Menschen benehmen sich wie toll, so hat es Istar vorhergesagt.“
Catsin schwieg.
Hermes fuhr fort: „ So schlimm, wie es auch ist, eine Gefahr für den Fortbestand der Menschheit kann ich nicht erkennen.“
Adeona mischte sich ein. „Entschuldige meine Aufdringlichkeit, ich habe zugehört. Mein Ka ist mit Shangrila verbunden, ich bin damit auch ein Teil von Istar.“
„Istar ist tot, wie soll das gehen?“ Catsin suchte die Quelle von Adeonas Stimme.
Adeona sprach: „Sucht in den Sternen, hier wird es Antworten geben.“
Hermes nahm das Teleskop in Betrieb und beschäftigte sich intensiv mit Sternen, Planeten und was sonst noch am Nachthimmel zu sehen war. Er arbeitete in der Nacht und schlief am Tag.
Adeona war einsatzbereit, Catsin unternahm einige Probeflüge. Die Manöver der Hexe wurden immer gewagter, nur selten griff Adeona ein.
„Heute will ich einen Flug mit dir unternehmen“, meldete sich Adeona.
Der Gleiter richtete sich auf und schoss in den Himmel. Catsin saß nicht mehr im Pilotensitz, sondern sie lag auf dem Rücken und beobachtete die Armaturen, die unglaubliche Werte anzeigten. Mit einem deutlichen Ruck veränderte sich alles.
Der Magen schien Hexe zu überholen. Ihre Hände schwebten ohne Anstrengung vor Catsins Augen. Ein Schraubenschlüssel schwebte wie in Zeitlupe über den Anzeigen. Von einer unsichtbaren Kraft wurde das Werkzeug an seinen Platz gezogen, wo es in seine Halterung einrastete.
„Lass niemals Werkzeug lose in der Kabine liegen! Nie! Niemals!“, rügte Adeona.
Catsin konnte nicht antworten, sie war damit beschäftigt, ihre Organe zu sortieren. Nach einer Weile wagte Hexe einen Blick auf die Umgebung. Der Himmel erschien in einem fast schwarzen Blau, einzelne Sterne strahlten hell und klar durch die Frontanzeige. Die Flugrichtung kehrte sich um, der Himmel lag nun hinter dem Gleiter.
Dann traf es die Hexe wie eine Faust, ihre Hände wurden auf die Lehne des Pilotensitzes gepresst, es fiel ihr schwer, gerade aus den Augen zu sehen, der Magen nahm bleischwer seinen alten Platz ein. Mit Wucht wurde Hexe in den Sitz gepresst.
„Atmen!“, befahl Adeona.
Hexe presste die Luft mit aufgeblasenen Backen aus ihrer Lunge.
Schlagartig war alles wieder normal, ein paar Lichtblitze störten Catsins Blick.
Kurz nach diesem Ausflug stand der Gleiter im Hangar, Catsin stieg mit weichen Knien aus dem Fluggerät.
Hermes betrat die Flughalle und fragte unbekümmert:„Wie war der Ausflug?“
„Ein Hexenritt!“ Catsin funkelte den Magier zornig an. „Du hast den Flugplan gekannt, warum bist du nicht mitgekommen?“
„Ich vertrage es nicht besonders gut und Adeona hat gemeint, dass ihr es auch locker zu zweit schafft.“ Hermes fuhr fort: „ Der wichtigste Teil deiner Ausbildung ist abgeschlossen, Adeona ist zufrieden mit dir.“
„Der wichtigste Teil?“, fragte Catsin vorsichtig. „Was kommt noch?“
„Adeona hat etwas gesehen. Ich habe es mir angeschaut und möchte dir das zeigen.“
Die Nacht verbrachten der Magier und Hexe am Teleskop.
„Das ist ja fast schon romantisch“, witzelte Catsin.
Hermes zog eine Augenbraue hoch. „Siehst du den hellen Stern neben dem Mars?“
Catsin peilte durch das Teleskop. „Ja, fast so groß wie der rote Planet.“
„Das ist das Problem.“ Hermes schloss die Beobachtungskuppel. Der Magier fuhr fort: „Istar hat mir erzählt, dass diese Welt, so wie wir sie kennen, vernichtet wird. Sie sprach von einer Flut, die in einer Nacht die Welt vernichten wird.“
„So hat es mir Istar auch gesagt“, bestätigte Catsin.
„Nun, ich habe mir Gedanken gemacht, wie das möglich sein kann“, sagte Hermes. „Es gibt und gab schon schwere Katastrophen für alle Länder auf diesem Planeten. Fluten, Inseln, die verschwinden, die Wüste westlich vom Nil. Keine dieser Katastrophen vernichtet alles in einem Tag. Doch dieser Stern beim Mars, der verändert alles!“
„Was wird passieren?“, fragte Catsin.
Hermes erklärte: „Der Planet wird dicht an der Erde vorbeiziehen, die Anziehungskräfte sind dann gewaltig.“
Adeona übernahm den Vortrag. „Der Planet wird zwischen Mond und Erde an uns vorbeiziehen, das ist unglaublich dicht an unserem Planeten, eigentlich ein kosmischer Volltreffer. Es kann sein, dass der Mond aus seiner Bahn geworfen wird. Ich rechne noch an der Wahrscheinlichkeit. Die Gravitationskräfte, die auf die Erde wirken werden, sind - so oder so - gewaltig! Die Erdkruste wird in Schwingung geraten, das bedeutet Erdbeben in unvorstellbarer Stärke. Stürme - die Atmosphäre kommt in Wallung. Die Meere reagieren mit Flutwellen, die sehr, sehr hoch werden können.“
Catsin wurde blass. „Können wir das überleben? Ist Shambala sicher genug?“
Hermes schaute ernst. „Selbst Shambala ist nicht sicher, die Erdbeben werden auch hier vernichtend sein.“
„Können wir uns im Gleiter retten?“, fragte Catsin.
„Das wäre riskant, wir müssten tagelang in der Luft bleiben und Stürmen widerstehen, für die selbst ich nicht stark genug bin“, gab Adeona zu bedenken.
Hermes erklärte: „Istar hat unsere Rettung vorbereitet, sie hat gewusst, was kommen wird. Es gibt einen Plan. Viel Zeit bleibt uns allerdings nicht.“
„Und die Menschen?“, fragte Catsin.
Schweigend blickte Hermes auf den Boden.

Der Start war härter als der Hexenritt in den Orbit, Hermes keuchte in seinem Sitz, Catsin biss auf die Zähne und presste ein „wie lange noch?“ hervor.
„Noch 120 Sekunden bis Zone null G“, informierte Adeona.
„Grrr!“
„Pfrr!“, war Hermes` Antwort.
Adeona entschuldigte sich: „Es geht leider nicht sanfter - noch 90 Sekunden.“
Die gnadenlose Kraft presste die zwei Menschen noch härter in die Sitze, die Manschetten um die Oberschenkel pressten das Blut aus den Beinen in den Kopf. Schwarze Flecken tanzten vor Hexes Augen. Lass es vorbei sein!
„Abbruch!“, erlöste Adeona.
Mit einem Schlag setzte die Schwerelosigkeit ein. Das bekannte Gefühl der suchenden Organe überfiel Catsin.
„Wir sind in einem Zwischenorbit, Hexe, kümmere dich um Hermes, er antwortet nicht mehr!“
Catsin drehte sich in ihren Gurten und gab dem Magier einen kräftigen Stoß mit ihren Armen, den Hermes mit einem Grunzen beantwortete. Die Hexe rüttelte am Oberkörper und schlug Hermes mit aller Kraft auf die Brust. Hermes schlug die Augen auf und versuchte, seine Umgebung zu fixieren. Catsin sah, wie die Augen von Hermes rhythmisch zuckten, sie konnte seinen Blick einfach nicht einfangen.
Ein Stöhnen entwich dem Magier. Kurz darauf: „Mir ist so schlecht!“
Hermes’ Augen wurden ruhiger, die Atmung war schnell aber regelmäßig.
„Sind wir da?“, fragte Hermes.
„Ich habe die Startsequenz abgebrochen, es fehlen noch 30 Sekunden bis zur geplanten Beschleunigung. Alternativ 40 Sekunden bei reduzierter Gravitation.“ Adeona klang beleidigt. „Ich zünde jetzt!“
Die Schwerkraft nahm stetig zu, doch es war kein Hammerschlag mehr.
„Noch 30 Sekunden.“ Adeona zählte herunter. „20 Sekunden. 10 Sekunden. 4 - 3- 2 - 1. Aus!“
„Besser!“ Hexe konnte wieder sprechen.
Von Hermes kamen nur einige undefinierbare Töne.
Auf dem Bildschirm erschien das Himmelsrad. Im Hintergrund stand ein riesiger Halbmond, der nur die Erde sein konnte.
„Wow!“ , fuhr es aus Catsin.
Hermes schwieg.
Das Rad drehte sich in stetiger Bewegung.
„Können wir eine Pause machen?“, fragte der Magier.
„Problemlos.“
Catsin sog den Anblick in sich auf. Die Erde strahlte als Halbmond, die Meere in hellem Blau, Wolkenfelder und die bräunlichen Farben der Kontinente, mit grünen Zonen. Ehrfurcht durchströmte sie und eine Träne rollte über ihre Wange, bevor sie sich von ihrem Gesicht löste und als eigener kleiner Planet durch die Kabine schwebte.
Nach einer Stunde fragte Adeona höflich, ob das Koppelmanöver starten könne.
Das Himmelsrad begann langsamer zu drehen und kam kaum merklich näher. Dafür rotierte die Erde in ihrer Pracht langsam um das Rad.
„Korrespondenz!“, rief der Magier. „Hier kann ich es endlich sehen und begreifen. Eines hängt vom anderen ab, eines dreht sich, das andere bleibt stehen.“
„Oder es beginnt sich alles zu drehen“, warf Hexe ein, bei der sich der Magen wieder meldete.
Das Rad blieb stehen, dafür rotierte die Halb-Erde in unnatürlicher Geschwindigkeit um die Station. Das Himmelsrad stand fest am Himmel, die Erde drehte sich wie wild.
„Soll ich interpolieren?“, fragte der Gleiter.
„Bitte?“, hakte Catsin nach.
„Die Bilder werden dann ruhiger, ich rechne die Drehungen heraus.“
„OK, bevor mir wieder schlecht wird…“
Die Sicht aus dem Gleiter wurde fast statisch, eine ruhende Station und ein ruhender Halbmond, der die Erde darstellte.

„Siehst du die Luke im Zentrum des Rades?“, fragte Adeona.
Catsin erinnerte sich. „Ja, da müssen wir anlegen, du hast es mir erklärt.“
Nach einer Stunde waren beide Raumschiffe miteinander verbunden, nach einer weiteren Stunde waren Catsin und Hermes an Bord des Himmelsrades und genossen die angenehme, gleichbleibende Schwerkraft. Catsin blickte auf die Erde, die still und majestätisch, unter ihr lag.
„Illusion?“, fragte Catsin.
„Illusion“, antwortete Hermes.
Catsin nahm allen ihren Mut zusammen: „Adeona, kannst du die Illusion kurz aufheben? Ich möchte die Realität sehen.“
Die Erde drehte sich wie wild unter Catsins Beinen, die Sonne strahlte grell, ging in Sekunden auf und wieder unter. Vor den Augen der Hexe begann alles zu rotieren, sogar die Wände der Station. Nichts war fest, nichts war sicher.
„Aufhören“, stöhnte der Magier.
Der Blick auf die Erde war augenblicklich majestätisch in seiner Ruhe.
Der Planet des Todes, so wie ihn Hermes nannte, war nun ohne Teleskop zu erkennen. Der kalte Stern raste unaufhaltsam auf die Erde zu.
Adeona brachte die Raumstation möglichst weit aus dem Orbit.
Hermes und Catsin saßen angeschnallt in ihren Sitzen und starrten auf den Planeten, der immer größer wurde und sich scheinbar zwischen Erde und Mond durch den Raum schob.
Die Gravitation erfasste die Raumstation und sorgte für spürbare Erschütterungen. Die Triebwerke arbeiteten in eine Richtung und korrigierten sofort in die Gegenrichtung.
Der Killerplanet erreichte die Größe der Erde und warf einen Schatten, der zwischen den Himmelskörpern wanderte.
Hermes starrte auf den Bildschirm und sog die fatalen Bilder in sich auf. „Siehst du das?“, fragte er.
„Was meinst du?“, fragte Catsin.
„Die weiße Linie, die sich von einem Pol zum anderen Pol erstreckt.“
„Was ist das? Es wandert ganz langsam über den Planeten. „Adeona, kannst du uns das erklären?“, fragte Catsin.
„Es ist Wasser, eine Wand aus Wasser, die über den Planeten zieht. Das habe ich noch nie gesehen. Die Wand ist mindestens 1000 Meter hoch und bewegt sich unglaublich schnell, etwa 900 km/h. An manchen Stellen schneller als der Schall! Von hier aus scheint die Linie zu kriechen, am Boden ist das unsagbar schnell. Jetzt erreicht die Welle das Land am Nil. Die Welle zieht weiter, ändert die Farbe in ein schmutziges Grau. Seht ihr das?“
Hermes nickte stumm, Adeona berichtete weiter.
„Das Wasser mischt sich mit Sand und Erde.“
Auf der Nachtseite der Erde wurden riesige feurige Risse sichtbar, an manchen Stellen brach die Erdkruste auf. Vulkane erwachten zum Leben.
Die Wasserlinien zogen über den Planeten, an manchen Stellen kreuzten sich die Linien und türmten sich zu gigantischen Wasserwänden auf.
Der fremde Planet zog weiter und wurde kleiner, die Katastrophe auf der Erde erreichte ungeahnte Höhepunkte. Hermes fand keine Ruhe und auch Catsin war völlig übermüdet.
Hermes erwachte im Pilotensitz, Catsin hatte es bis zur Schlafkabine geschafft, dankbar zog sie an ihrer Decke und wärmte ihre ausgekühlte Schulter.
Der Magier bewegte seinen Körper durch die Station, er ließ seinen Unmut hören und mischte ein paar Schimpfwörter in seine Ausrufe.
„Catsin bist du wach?“
„Ich höre dich, Hermes.“
Zwei ganze Tage in bleiernem Schlaf waren vergangen, Adeona rechtfertigte den Schlafgas-Einsatz mit Notwehr.
„Wer hat dir das erlaubt?“, polterte der Magier.
„Die Notfallprotokolle“, antwortete Adeona kühl.
Die Wellenfronten waren nun kleiner, dafür kreuz und quer über den Planeten verteilt.
Der Magier benutzte das Teleskop, um die Lage auf der Erde abzuschätzen.
„Adeona, wo ist Atlantis?“
„Atlantis ist nicht mehr existent, es ist von der neuen Landkarte verschwunden.“
Catsin entdeckte ein neues Meer im Nordosten vom Nil. „Was ist das?“, fragte sie.
„Ein neuer Teil des Mittleren Meeres.“, antwortete Adeona.
„Das Wasser dort ist schwarz!“ Hexe schüttelte den Kopf. „Ein schwarzes Meer…“
Die neue See wurde von einem gigantischen Wasserfall gefüllt, der die Landmassen in Wasser umwandelte. Hexe entdeckte auch die Strudel vom Atlantik zum Mittleren Meer, die wie ein Mahlstrom alles vernichteten, was sie zu fassen bekamen.
Hermes rief: „Es gibt kein Grün mehr auf der Erde, die Wälder sind verschwunden!“
Die Zerstörung war unbeschreiblich.
Die Wochen vergingen, Monate zogen über die zerstörte Erde.
„Wir brauchen einen Plan.“ Der Magier sprach zu Catsin und zu Adeona.
„Die Erde ist wüst und leer, ich konnte bisher nichts entdecken, was größer als eine Maus ist.“ Catsin zuckte mit den Schultern. „Es ist sinnlos, weiter zu suchen, die Zerstörung ist unbeschreiblich.“
Adeona mischte sich ein. „Ihr braucht Zeit und Trost. Die Erde braucht Zeit, um ihre Wunden zu heilen.“
Hermes war den Tränen nahe.
Adeona erklärte die Lage: „Es wird lange dauern, bis der Planet sein Gleichgewicht wieder findet. Bis zu diesem Zeitpunkt könnt ihr nichts ausrichten, nichts bewegen. Hermes, deine Gen-Sammlung ist wirkungslos ohne Tiere, welche die Gene austragen könnten. Es kann auch sein, dass es ein neues Gleichgewicht gibt, das kann heute noch nicht abgeschätzt werden. Kurz: Es ist Zeit nötig.“
„Wie viel Zeit?“, fragte Hermes.
„So viel wie nötig.“
„Danke für deine exakte Auskunft.“
Adeona fuhr fort: „Du weißt, dass ich ein Teil von Ka bin?“
„Ich habe es geahnt.“ Hermes wirkte verunsichert.
Adeona fuhr fort: „Es ist ein einfacher Eingriff in die Zeitlinie, es gibt kein Paradox zu beachten, die Linie geht einfach vorwärts. Es ist eine simple Übung für mich - dein Einverständnis macht es allerdings noch einfacher.“
Hermes schwieg.
Hexe mischte sich ein. „Wovon redet ihr? Werde ich nicht gefragt? Was ist mit meinem Einverständnis? Was ist mit der Erde?“
„Das sind viele Fragen“, antwortete Adeona. „Willst du einsam und sinnlos sterben, oder auf eine Reise gehen?“
„Reisen war mir immer lieber.“
Adeona aktivierte das Ka von Catsin und Hermes.

Catsin träumte von der Sonnenuhr, der Schatten glitt über die Steine, die Sonne ging auf und wieder unter. Catsin sah das Feuer, das Istar verschlang und die Sonnenuhr zerstörte, sie sah das zerfurchte Gesicht von Hesto. Schmerzhaft spürte sie den Eisbrocken, der ihre Schläfe traf und sie griff nach Istars Hand.

Zeit?
Was ist Zeit?
Das waren die Gedanken von Catsin.





Fortsetzung folgt.






 

John Goodman

Mitglied
Moin Herr Kempa.

Um es einmal vorweg zunehmen, du hast eine sehr lebendige Erzählweise, die gespickt ist mit spannenden Dialogen. Deine Story hat mir gut gefallen.

Jedoch bin ich bei einer Szene etwas aus dem Rhythmus gekommen. Folgendes ist mir aufgefallen:


"So schnell war sie noch nie gewesen; Übelkeit überfiel sie, wie beim Klettern auf einen sehr hohen Turm."

Der Geschwindigkeitsvergleich passt hier nicht ganz rein, da das Gefühl der Höhe und Geschwindigkeit unterschiedliche Empfindungen sind.



Dieser oben genannte Vergleich würde viel besser zur folgenden Szene passen, die ich ein wenig ummodelliert habe zur Veranschaulichung:

"Vorsichtig sah Catsin durch die Frontscheibe. So weit oben war sie noch nie gewesen; Übelkeit überfiel sie, wie der Blick von dem Rand eines sehr hohen Turms. Die Landschaft zog an ihr vorbei. Die Bäume wurden zu Wald, zu einer undefinierbaren, grünen Fläche, die sich langsam davon schob."




Liebe Grüße


John
 

Michael Kempa

Mitglied
Hallo John,
OK, ich werde den Absatz bearbeiten.
"So schnell war sie noch nie gewesen; Übelkeit überfiel sie, wie beim Klettern auf einen sehr hohen Turm."
Hier habe ich eigene Empfindungen verarbeitet.

1. Ich habe Höhenangst.
2. Meine Erinnerung an einen Windenstart mit dem Segelflieger.
3. Eine Fahrt mit der Achterbahn (Silverstar in Rust).

Also kenne ich das Gefühl, wenn der Kopf den Magen überholt... (oder umgekehrt)

Katsin (Hexe) ist noch nie im Leben geflogen und sie war noch nie schneller unterwegs, wie sie rennen kann.
OK, Geschwindigkeit und Höhe sind verschiedene Sachen.
Ich denke mir was aus.

Gruß Michael
 



 
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