Ruedipferd
Mitglied
Aus Jürgen wird Annette
Sie war zu dieser Zeit nur psychisch eine Frau gewesen und nannte sich Annette. Ihr Körper, den sie immer abgelehnt hatte, war noch der eines Mannes. In der Öffentlichkeit lebte sie als Rechtsanwalt Jürgen von Wichern in Köln.
Annette fühlte sich an dem Abend sehr unruhig. Werde ich auffallen? Wird man es mir ansehen? fragte sie sich ständig. Ob sich die Menschen auf der Straße zu mir umdrehen würden? Lachen würden? Vielleicht sich kichernd anstoßen: Guck mal die Alte, dort? Witzig, so eine Ulknudel, ein Paradiesvogel und es ist doch noch kein Karneval!
Sie war aufgeregt, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Was hatte sie eine Angst davor, anderen Menschen das erste Mal als Frau gekleidet zu begegnen!
Antworten auf eventuelle Fragen nach ihrer Herkunft hatte sie gut durchdacht. Sie wollte sich als Jurastudentin an der Kölner Uni ausgeben.
Juristin war sie tatsächlich, nur hatte sie die Examen bereits lange bestanden. Aber natürlich musste sie vorsichtig sein. Niemand durfte etwas von ihrem bürgerlichen Leben erfahren.
Immer wieder blickte die Frau in den Spiegel. War der Rock zu gewagt? Hatte sie die Schminke richtig verteilt oder schien noch etwas Bartwuchs am Kinn durch?
Annette nahm ihre Handtasche und lief, nachdem sie die Wohnungstür abgeschlossen hatte, zum Fahrstuhl. Dort drückte sie auf den Knopf zur Tiefgarage. Hoffentlich musste sie niemandem von der Hausgemeinschaft begegnen, kam ihr in den Sinn. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie sich ängstlich umschaute. Uff, als sie in ihrem Wagen saß, atmete sie aus. Das war geschafft. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis ich mich in meiner neuen Rolle sicher bewegen kann, dachte sie, als sie auf die Straße fuhr.
An einer der unzähligen roten Ampeln hielt ein BMW auf der Spur neben ihr. Der bärtige Typ in dem Wagen grinste sie frech an. Verschämt blickte sie nach unten und würgte dabei den Motor ab. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie ihn wieder gestartet hatte.
Nach einer ihr endlos scheinenden Fahrt kam sie zu dem Lokal, in dem sich die Selbsthilfegruppe für Transsexuelle traf. Auf dem dunklen Parkplatz davor stieg gerade jemand aus dem Auto aus.
Eine Frau stöckelte auf hohen Absätzen über die nasse Straße. Bei einem weiteren Blick war die Person verschwunden. Annette parkte ihren Wagen ein Stück weiter, stieg ungelenk aus und war glücklich, dass sie ihre Schuhe für diesen Abend nicht ganz so hoch gewählt hatte. Es befand sich frisch verteilter Split auf dem Platz und sie sank tief darin ein.
Als sie sich umsah, entdeckte sie ein kleines Häufchen Elend. Die Frau von eben lag der Länge nach auf dem Bürgersteig. Die unscheinbare Kante am Rinnstein war ihr wohl zum Verhängnis geworden. Alles schien verrutscht. Der Rock, die Bluse, ihre Jacke und die Perücke.
Annette eilte zu ihr und musste dabei höllisch aufpassen, nicht denselben Fehler zu machen. „Entschuldigung. Brauchen Sie Hilfe?“ fragte sie vorsichtig. Lächerlich. Wie konnte sie in einer derartigen Situation nur eine so dämliche Frage stellen?
Irgendwie schafften sie es mit vereinter Kraft, dass die Unglückliche wieder auf die Beine kam. Sie sahen einander an. Nach einer Schrecksekunde lagen sie sich lachend in den Armen.
Beide wussten sofort, was sie waren. Zur selben Zeit spürte Annette tief in sich ein wohliges Gefühl von Erleichterung und Sicherheit. Sie fühlte eine tiefe Verbundenheit mit der anderen.
Die junge Frau, die sich als Lisa vorstellte, war schon öfter hier gewesen und kannte sich im Lokal gut aus. Zusammen schlichen sie sich zur Damentoilette.
Annette blieb dabei fast das Herz stehen. Sie japste nach Luft und konnte Lisa nur noch zu piepsen: „Aber wir können doch nicht hier rein? Oh Gott, wenn uns jemand sieht!“
Lisa, die genau wie Annette körperlich noch männlich war, schüttelte lachend den Kopf. „Nein, du brauchst hier keine Angst zu haben“, sagte sie. „Dies ist unser Reich. Jeder weiß Bescheid und niemand kümmert sich um uns. Meine neuen Nylons sind zerrissen. Haben mich ein Vermögen gekostet. Der Absatz ist auch wieder hin. Warum erfindet die Industrie für uns Frauen bloß solche Mordwerkzeuge? Irgendwie bin ich über die Sch… Kante gestolpert und lag plötzlich flach. Gut, dass du kamst! Du bist neu hier? Wie heißt du eigentlich?“
Lisa hatte endlich ihren Redeschwall unterbrochen. Typisch Frau! Reden ohne Punkt und Komma, dachte Annette. Leicht amüsiert, dabei völlig überrumpelt und verwirrt antwortete sie: „Ich bin Annette, Studentin der Jurisprudenz in Köln.“
„Der was?“ Huch! Lisas Augen wurden immer größer. Plötzlich lachte sie los. Annette hatte schon geglaubt, sich mit Frauen auszukennen. Aber ein solch schrilles Gelächter, das in undefinierbarem Glucksen endete, war ihr noch nie untergekommen. Es wirkte, als nähere sich ihr Gegenüber dem Erstickungstod.
„Ich will Anwältin werden“, ergänzte sie ratlos.
„Ach so, eine Rechtsverdreherin. Warum sagst du das nicht gleich?“ Lisa schüttelte den Kopf, um im nächsten Augenblick wieder los zu prusten, während sie den gesamten Inhalt ihrer roten Lacklederhandtasche über dem Waschbecken auskippte. „Schick ist die, oder? Habe ich vor ein paar Tagen für zehn Euro bei meinem Stammkaufhaus ergattern können!“
Ihre langen knallrot lackierten Fingernägel stocherten in dem Sammelsurium an Schminkutensilien und Kleinteilen einen Augenblick lang suchend herum. Sie jauchzte vor Entzücken und griff nach einem abgewetzten Lippenstift, den sie mit gekonntem Schwung aus dem Handgelenk öffnete. Ihren linken kleinen Finger spreizte sie dabei soweit ab, dass es aussah, als würde er im nächsten Augenblick nach hinten abbrechen. Geschickt zog sie die helle rote Farbe auf ihren Lippen nach, schmatzte Ober- und Unterlippe zusammen und nickte befriedigt mit dem Kopf.
Annette staunte. Lisa füllte ihre Handtasche erneut. Nachdem ihre Siebensachen wieder in dem knallroten Beutel lagen, schob sie ihre neue Freundin lächelnd aus dem Klo.
Einen Moment später standen die beiden jungen Frauen im Gastraum. Lisa packte ihre Begleiterin sanft am Arm und zog sie bis zur hintersten Ecke zu einer Bank, wo sich zwei andere Frauen konzentriert mit der bunten Speisekarte beschäftigten.
„Hallo, ihr beiden Süßen, ich hatte gerade einen Unfall auf der Straße. Und wenn Annette hier nicht gewesen wäre, könntet ihr mich morgen früh wohl als Eisteddybärin vom Asphalt abkratzen“, begrüßte sie die beiden. „Also, das sind Arabella und Julchen. Ich kann erst mal eine heiße Schokolade vertragen. Wo bleibt überhaupt Ines?“
Puh! Annette hatte schon befürchtet, Lisa würde wieder kein Ende finden, doch die stoppte ihre Worte so plötzlich, wie sie mit dem wasserfallgleichen Redefluss angefangen hatte.
„Juliane“, stellte sich die rothaarige kräftige Dame im bunten blumengemusterten Chiffonkleid mit tiefem Bass vor. „Also, ich nehme eine Gulaschsuppe“, meinte ihre Nachbarin, deren Stimme sich ebenfalls sehr dunkel gefärbt anhörte. Sie hatte sich sorgfältig geschminkt, doch ihre Finger ließen einen derben Beruf im Bauhandwerk vermuten. Ihr schwarzer Rock und die dunkelrote Bluse standen ihr sehr gut, stellte Annette fest.
„Annette macht in Pudenz“, sagte Lisa erhaben.
„Ich studiere Jura und ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, wenn ich mich zu euch setze.“ Annette lachte. „Es ist mein erstes Mal in der Gruppe. Ich bin so fürchterlich aufgeregt“, meinte sie anschließend verlegen.
„Das wird bestimmt nicht das letzte Mal sein, Kindchen. Hier macht sich fast jede erst in den Schlüpfer, aber das gibt sich, glaub mir.“ Arabella legte die Speisekarte zur Seite und sah Annette prüfend an. „Du bist also noch ganz am Anfang?“, fragte sie mehr oder weniger beiläufig. Eine wirklich wahrheitsgemäße Antwort erwartete Arabella sichtlich nicht.
„Hast noch einen weiten Weg vor dir, je nachdem. Psychotherapie, Gutachter und wenn du endlich durch bist, die große OP. Dann ist alles weg und kommt nie mehr wieder. Überlege es dir gut. Es gibt Leute, die das heulende Elend überkommt, wenn sie feststellen, was einmal ab ist, bleibt ab. Nun, wie gefällt dir mein Oberteil? Hab ich als allererstes machen lassen. Untenrum ist noch alles da. Mal sehen, im Sommer vielleicht. Hab noch nicht den richtigen Operateur gefunden. Der Franzose ist zu teuer, den zahlt die Kasse nicht und die anderen, na ja… Es ist einfach zum Heulen. Wenn du Knete hast, kriegst du alles.“ Arabellas Augen hatten einen eigenartigen traurigen Glanz angenommen. Ihr fröhlicher Blick war tiefer Melancholie gewichen.
„Nicht alle halten dem Druck während des Geschlechtswechsels stand. Viele von uns sind mit der Situation überfordert und nicht wenige nehmen sich in dieser Zeit sogar das Leben. Es hängt viel von den Gutachtern ab. Nicht alle von denen behandeln uns gut. Für einige sind wir lediglich mysteriöse, wissenschaftliche Objekte, bizarr und unheimlich. Und natürlich mit einer großen Portion Perversion. Wer dann nicht wirklich selbstbewusst und stark ist, der geht unter. Ich kenne schon drei, die inzwischen durch eigene Hand auf dem Friedhof liegen“, erzählte Juliane, während sie ihre Freundin mit ängstlichem Blick zu mustern schien. „Arabella ist Gott sei Dank hart im Nehmen. Sie hat das Gutachterverfahren hinter sich. Nun kämpft sie nur noch mit der Krankenkasse. Als gesetzlich Versicherter hast du keine Wahl. Die schicken dich einfach irgendwo hin. Eigentlich kann man da auch gleich wie früher auf einen Seelenverkäufer steigen und nach Casablanca fahren“, setzte sie nach.
Annette schluckte. So hatte sie sich das erste Gruppentreffen nicht vorgestellt. Diese beiden transsexuellen Frauen waren natürlich Urgesteine, das merkte sie sofort. Aber wer waren sie wirklich? Lagen hinter der äußeren harten Fassade nicht sehr verletzliche Seelen? Jede hatte ihr eigenes Schicksal zu bewältigen und trotz scheinbarer Offenheit, blieben ihre Qualen im Verborgenen. Nur ein Mensch mit ausgeprägter Empathie konnte verstehen, was die Frauen durchmachten. Annette spürte eine tiefe Seelenverwandtschaft, die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen ließen sich nicht übersehen. Dass der Stammtisch nur von Frauen besucht wurde, störte die junge Anwältin deshalb nicht. Im Gegenteil. Es gab so viel zu erfahren und zu besprechen. Hormonelle Behandlung, Begutachtung, Operationen und die Probleme mit dem Lebensumfeld waren eben verschieden. Die Männer trafen sich separat an einem anderen Ort. Und die Frauen brauchten sich nicht scheuen, offen ihre Gefühle zu zeigen. ‚Frau‘ blieb hier unter sich. Und das empfand Annette gut. Man würde sich vielleicht gegenseitig stören.
Ihre Ansprechpartnerin aus der E-Mail hieß Ines. Sie hatte ihr etwas zur Gruppe geschrieben. Heute wollten sie sich hier treffen.
Dieser Stammtisch bestand bereits seit gut acht Jahren. Damals gab es in der Stadt einen Gynäkologen, der Menschen mit abweichender Geschlechtsidentität behandelte. Dort trafen sich ein paar der Frauen mehr oder weniger zufällig während der Sprechstunden im Wartezimmer. Sie stellten rasch die Ähnlichkeiten in ihren Lebensschicksalen fest und verabredeten sich an einem neutralen Ort. Das Lokal sprach sich herum und schnell fanden die Treffen regelmäßig einmal im Monat statt.
Annette war sich jetzt gerade nicht sicher, ob sie das hier brauchte oder besser gesagt, überhaupt gebrauchen konnte. Zunächst einmal hatte sie gelogen. Natürlich studierte sie schon lange nicht mehr. Sie war seit vielen Jahren ein erfolgreicher, gut betuchter Anwalt in Köln mit einer eigenen Kanzlei und vorwiegend im Wirtschaftsrecht tätig.
Sie konnte ihre Neigungen, die sie seit frühester Kindheit in sich spürte, nicht offen leben, denn das hätte ihre Klienten, die allesamt aus der gehobenen Gesellschaftsschicht kamen, sofort auf ewig verschreckt. So war sie gezwungen, nur heimliche Schritte zu unternehmen, um ihrer wahren Identität auf die Spur zu kommen.
In Köln hieß Annette Jürgen von Wichern. Die Familie stammte aus Hamburg und die Eltern lebten dort im besten Stadtteil in einer großen Villa.
Der Vater, Friedrich von Wichern, hatte die beiden Söhne konservativ erzogen. Martin, der ältere Bruder, sollte die Reederei und die Konservenfabrik übernehmen und war bereits nach abgeschlossenem BWL Studium und einem einjährigen Aufenthalt in den USA in die elterliche Firma eingetreten.
Die Mutter, Magda, studierte im letzten Semester Medizin, als sie den reichen Kaufmannssohn kennenlernte. Ihre Eltern zeigten sich von ihrer Wahl begeistert. Die von Wicherns gehörten schließlich seit Jahrzehnten zu den alteingesessenen besten Familien der Stadt und stellten immer wieder Senatoren.
Magda von Wichern wurde die Mutter zweier Jungen und ging in dieser Rolle auf. Als Jürgen, der Jüngere, merkte, dass er anders war als die übrigen Männer, bekam er Angst vor dem strengen Vater und wählte die Universität in Köln für sein Jurastudium. So war es ein Leichtes, den Vater davon zu überzeugen, dass er dort in der Rheinmetropole die besten Chancen hatte, seine Anwaltskanzlei zu etablieren.
Eine Freundin gab es in Jürgens Leben nicht. Er versuchte sich einige Male mit mäßigem Erfolg in der Schwulenszene der Domstadt. Zwar verliebte er sich stets in Männer, erlebte sich aber in der Beziehung selbst nicht als solcher.
Während der Liebesakte erschien es ihm regelmäßig, als wäre er eine Frau. Es fühlte sich so real an, dass Jürgen bereits fürchtete, an einer geistigen Störung zu leiden.
Dann kam ihm der Zufall zu Hilfe. Eines Abends lernte er im Szenelokal einen jungen BWL-Studenten kennen. Nach einer Weile erzählte ihm dieser von seinem Geheimnis. Er hieß jetzt Tim und war Frau zu Mann transsexuell. Noch während des Studiums machte er von einem im Jahre 1980 eingeführten Gesetz Gebrauch und stellte beim Amtsgericht den Antrag auf Vornamen- und Personenstandänderung. Danach suchte er sich im Kölner Schwulen- und Lesben-Milieu eine Selbsthilfegruppe für Transsexuelle. Sein Studentenpsychologe von der Uni half ihm dabei, die erforderlichen medizinischen Gutachten zu bekommen und durch die Freunde aus der Gruppe wusste er sehr schnell, wer die knifflige Operation von Frau zu Mann vornehmen konnte.
Nachdem sich Tim dem medizinischen Dienst seiner Krankenkasse vorgestellt hatte, bekam er die Kostenzusage und fuhr zur Operation nach Frankreich. Sein Psychologe war eng mit dem Leiter der Kasse befreundet, welcher keine Schwierigkeiten darin sah, dem erfolgversprechenden Studenten im vorletzten BWL-Semester diese Operation zu genehmigen. Im Gegenteil. Der welterfahrene Mann verstand sofort, wie ernst es für Tim war und zeigte großes Verständnis für dessen Schicksal.
Jürgen von Wichern lud den neuen Freund zu sich ein und erfuhr auf diese Weise alles über seine eigenen Probleme. Nach den Gesprächen lag er noch lange im Bett wach.
Er dachte an sein Leben. Was ihm Tim erzählte, konnte er fast eins zu eins auf sich selbst übertragen. Jürgen wollte plötzlich nur noch Abstand von seinem Beruf und von Köln. Kurzerhand packte er die Koffer, fuhr drei Wochen an die kroatische Adria in den Urlaub und war sich, als er heimkam, sicher, ebenfalls transsexuell zu sein.
Er hatte sich zwischenzeitlich Informationen darüber aus dem Internet geholt und besorgte sich in Köln Fachbücher. Seine merkwürdigen unergründlichen Gefühle und Wünsche, die er seit frühester Jugend in sich verspürt und oft sehr geängstigt hatten, bekamen auf einmal einen Sinn.
Tim beendete das Bachelor-BWL-Studium mit guten Noten und schrieb Jürgen vor einigen Monaten eine begeisterte Mail von seinem neuen Arbeitsplatz. Er hatte sich alle Zeugnisse umschreiben lassen und arbeitete nun erfolgreich in männlicher Rolle für eine Ratingagentur im Banken- und Geschäftsviertel von New York.
Jürgen schluckte schwer, als er die Mail las. Er hatte sich zwar schon Gedanken über einen Geschlechtswechsel gemacht, es aber noch nicht gewagt, Schritte dazu in die Realität umzusetzen. So beließ er es zunächst dabei, nur davon zu träumen.
Doch vor zwei Monaten hatte er sich einen Ruck gegeben und war zum Shoppen nach Dortmund gefahren. In den Kaufhäusern besorgte er sich unerkannt Damenunterwäsche und Kleidung in seiner Größe. Das Schicksal war ihm gnädig, denn mit 1,75 m Körpergröße würde er in weiblicher Rolle kaum auffallen.
Jürgens Hobbys lagen sehr im sportlichen Bereich. Er ruderte im Sommer und gehörte dem Verein bereits seit seiner Studentenzeit an. In den Wintermonaten trainierte er begeistert Eiskunstlauf. Sein schlanker durchtrainierter Körper wies kein Gramm Fett zu viel auf.
Zu Hause warf er die Einkaufstüten aufs Bett und danach wurde aus dem Staranwalt Jürgen die hübsche Studentin Annette. Er brauchte nicht lange, um einen weiblichen Namen auszuwählen. Seine Mutter hatte ihm vor vielen Jahren erzählt, dass sie sich nach seinem Bruder Martin sehnlichst ein Mädchen gewünscht hatte und es auf die Namen Annette Christin taufen lassen wollte.
Nach vierzig Lebensjahren im falschen Geschlecht könnte sich dieser Wunsch endlich erfüllen, wenn er den Mut aufbrachte (den ersten Schritt war er bereits gegangen), sein bisheriges Leben zu beenden, um als Annette noch einmal ganz von vorn anzufangen.
Das Transsexuellengesetz bereitete ihm keine Sorgen. Schließlich war er Rechtsanwalt von Beruf. Jürgen überlegte, ein Doppelleben zu beginnen und sich irgendwo in einer anderen Stadt im Ruhrgebiet eine zweite Wohnung zu kaufen. Eine Wohnung, in der er am Wochenende als Frau lebte. Innerhalb der Woche würde er wieder in Köln sein und als Jürgen seine Kanzlei führen.
Er dürfte sich in der Zweitwohnung weiblich kleiden, schminken, vielleicht zur Sicherheit, um nicht erkannt zu werden, eine Perücke tragen und in der Öffentlichkeit als Frau am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
Zu mehr war Jürgen noch nicht bereit. Die Kanzlei aufzugeben, sein Lebenswerk zu beenden, dazu fehlte ihm die Kraft. Sich als Frau zu outen und zu versuchen, mit der Kanzlei einfach weiterzumachen, war nicht möglich und würde den gesellschaftlichen Abstieg zur Folge haben.
So entschied Jürgen sich dafür, seine weibliche Seele vorerst Schritt für Schritt zu leben. Nachdem er sich das entsprechende Outfit zugelegt hatte, suchte er im Internet nach Selbsthilfegruppen. Natürlich konnte er keine in seinem Wohnort in Köln nehmen. Aber die Entfernungen im Rhein-Ruhrgebiet ließen sich mit dem Auto schnell überbrücken.
Er schrieb die erste Mail an Ines. Diese leitete die Gruppe in Duisburg. Die war weit genug weg von seinen Geschäftspartnern und doch relativ unproblematisch mit dem Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen.
Annette schmunzelte. Schön! Bislang war alles gut gegangen. Ihr erster Auftritt als Frau in der Öffentlichkeit verlief hervorragend … obwohl die Gaststätte als Treffpunkt für Transsexuelle bekannt war.
Mit Lisa fand sie sogar auf Anhieb eine nette Freundin. Ihr Lächeln verschwand von den Lippen. Vater! Es gab noch einen weiteren, gewichtigen Grund, der es ihr unmöglich machte, sich als Frau zu outen: Ihre Familie.
In ihrem Fall war es ihr Vater Friedrich, dem sie schon als Kind nichts recht machen konnte. Er hatte ihr stets den ein Jahr älteren Bruder Martin vorgezogen. Martin war ein Junge, wie ihn sich der konservative Vater wünschte. Hart und männlich. Jürgens weibliche Züge irritierten den Fabrikbesitzer, Reeder und Senator.
Für den Vater verbog sich Jürgen. Er lernte Klavier spielen, obgleich er nicht musikalisch war und studierte Jura, obwohl er eigentlich Englisch- und Geschichtslehrer werden wollte. Für Friedrich von Wichern spielte er den harten Kerl, und verzichtete auf seine große Liebe, den Pferdesport.
Als kleiner Junge wünschte er sich ein Pony und bekam es. Allerdings mit der Auflage, Springreiten zu trainieren, um als junger Mann später am Deutschen Springderby in Hamburg teilnehmen zu können.
Jürgen hatte Angst vor den hohen Sprüngen. Sein Talent lag viel mehr im Bereich Dressur, wie seine Tante erkannte. Sie war sehr erfolgreich in dieser Sportart. Als der Vater davon hörte, verkaufte er das Pony. Sein Sohn würde sich entweder im Springsport einen Namen machen und ein richtiger Mann werden oder er könne sich die Reiterei gleich aus dem Kopf schlagen. Selbst die Mutter schaffte es nicht, den Vater umzustimmen. Auch in seinem Beruf kam Jürgen den Wünschen des Vaters nach. Eigentlich wollte er Lehrer werden. Englisch und Geschichte interessierten ihn sehr und er hatte sich ein Studium für das Lehramt am Gymnasium ausgesucht. Sein Vater war der Ansicht, dass er als Jurist der Firma besser nützen würde. Jürgen gehorchte schweren Herzens. Dem Vater zu widersprechen, kam ihm nicht in den Sinn. Streit und Auflehnung mochte er nicht. Der Einzug in das Kölner Studentenzimmer stellte nach dem Abitur eine große Erleichterung für ihn dar.
Annette schüttelte sich und das Bild des Vaters verschwand aus ihrem Kopf.
Ein leichter Luftzug wehte durch die kleine Damenrunde in der Duisburger Kneipe. Es hatte draußen etwas zu schneien angefangen. Eine junge Frau, die für das kurzzeitige Öffnen der Tür und die dadurch hereinströmende Kälte verantwortlich war, betrat das Lokal. Sie zog ihren Mantel aus, hängte ihn an die Garderobe gleich neben dem Eingang, nahm ihre Handtasche und grüßte freundlich den ältlichen, adipös wirkenden Wirt, während sie zielsicher auf die Damenbank zustrebte.
Das muss Ines sein, schoss es Annette durch den Kopf. Wie leicht und locker sie sich in ihrem Rock bewegte! Eine Frau und Dame vom Scheitel bis zur Sohle. Annette schluckte. Man sah Ines überhaupt nichts an. Und ihre Stimme? Jetzt fühlte sie eine Spannung in sich, gegen die die Ziehung der Lottozahlen bei inzwischen fünf Richtigen und der Aussicht auf einen Millionengewinn zur unwichtigsten Nebensache der Welt wurde.
„Einen schönen guten Abend alle miteinander. Wer hat denn dieses furchtbare Wetter mitgebracht?“ Die junge Frau klopfte einmal mit der Hand auf den Tisch, um sie dann Annette freundlich entgegenzustrecken. „Hallo, ich bin Ines und du musst Annette sein. Ich freue mich sehr, dich hier bei uns begrüßen zu dürfen!“
Annette erwiderte den Gruß völlig apathisch und hauchte nur ein leises: „Ja, die bin ich, vielen Dank für die Einladung.“ Mehr brachte sie im Augenblick nicht heraus.
Ines war einfach faszinierend! Ihre Stimme klang hell und warmherzig, wie die einer völlig normalen Frau. Kein einziger verräterischer Ton lag darin.
Lisa, die neben ihr saß, verzog unmerklich die Mundwinkel und lächelte in sich hinein. Ines war perfekt, das merkte jeder, der sie zum ersten Mal erlebte. Schmunzelnd betrachtete sie die erstaunte Annette.
Sie steht erst am Anfang, dachte Lisa, und sieht jetzt schon so weiblich aus. Wie wird sie erst in zwei oder drei Jahren sein, wenn sie ihre ersten Berührungsängste verloren hat und in psychotherapeutischer Behandlung ist?
Das Gefühl, diese tiefe innere Gewissheit, kein Mann, sondern eine Frau zu sein, würde ihr kein Psychologe der Welt nehmen können. Es war das untrügliche Anzeichen einer transsexuellen Prägung.
Die Therapie zielte somit nicht darauf ab, den Patienten wieder „umzukehren“, ihn also mit dem biologischen Geschlecht auszusöhnen. Solche Versuche endeten regelmäßig in einem Fiasko.
Der Therapeut sollte eine geistige Erkrankung ausschließen und schauen, ob vielleicht eine Psychose vorlag, in deren Verlauf der Patient glaubte, eine Frau zu sein. Würde man in diesem Fall eine geschlechtsangleichende Therapie vornehmen, hätte das fatale Folgen für den Patienten.
Ein guter Therapeut würde, wenn er als Mediziner, studierter Psychologe oder als Psychiater arbeitete, derartige Erkrankungen erkennen. Bei Mann zu Frau Transsexuellen waren Transvestismus und weibliche Homosexualität von Transsexualität abzugrenzen.
Niemand, der sich als Mann erlebte und mit seinem männlichen Geschlechtsteil zufrieden war, käme auf die Idee, sich dieses entfernen zu lassen. Nur wirkliche Transsexuelle waren in der Lage, derartige Gedankenspiele in die Realität umzusetzen. Aber der Weg dahin gestaltete sich schwer und lag mit Steinen und Tränen gepflastert vor dem Patienten. Wer sich zu diesem letzten unwiderruflichen Schritt entschlossen hatte, lief Gefahr, alles zu verlieren.
Die junge Frau wusste genau, was solch nüchternes medizinisches Fachwissen für das Leben einer Transsexuellen bedeutete. Sie durfte ihre Erfahrungen im familiären Bereich bereits machen. Ihre Eltern und der Bruder hatten ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie einen derartigen Weg aufs Schärfste verurteilen würden. Lisas Bruder Dirk hatte ihr Prügel angedroht, für den Fall, dass sie es jemals wagen sollte, in Frauenkleidern zu Hause aufzutauchen.
Ganz auf sich allein gestellt, lebte Lisa in einer billigen Zweizimmerwohnung im ärmsten Teil Duisburgs. Ihr Job als Lagerarbeiter sicherte ihr ein geringes Einkommen. Niemand in der Firma ahnte freilich etwas von ihrem Problem und das aus gutem Grund. Ihr Outing würde die sofortige Kündigung zur Folge haben.
Still saß sie neben Annette und hörte ihr zu. Die Schicksale gestalteten sich doch bei den meisten ähnlich, erkannte Lisa. Sie konnte einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken. Das Leben war schon ungerecht. Sie hätte alles dafür gegeben, wenn sie ohne männliche Geschlechtsteile geboren worden wäre und die Männer fuhren für die Operation sogar bis nach Frankreich, um welche zu bekommen. Verrückte Welt! Gefährliche Welt, dachte sie und atmete aus.
Transsexualität war nichts für schwache Nerven. Sie beeinflusste das gesamte Denken und Fühlen, und wer zu sehr unter Druck geriet, konnte in tiefe Depressionen verfallen. Vielen gelang der Weg daraus nicht mehr, und sie versuchten, ihrem Leben ein Ende zu setzen.
Sie erinnerte sich daran, wie auch sie einmal an Selbstmord gedacht hatte. Ihr Vater erklärte damals während einer Fernsehsendung, dass man aus seiner Sicht für Männer, die Frauen sein wollten, die Konzentrationslager von früher wieder einführen sollte. Mit dem Hinweis auf eine entsprechende Sendung hatte Lisa gehofft, ihrem Vater das Problem näher bringen zu können. Nach dessen menschenverachtenden Worten lief es ihr eiskalt den Rücken herunter.
Sie blickte, während Annette erzählte, zu Ines. Die hatte ihre Frau und die beiden Kinder, ihren Arbeitsplatz, ihr Haus und einen Großteil ihrer Familie verloren. Aber sie kämpfte weiter und gründete vor fast acht Jahren die Gruppe. Ines verdiente die Bewunderung, mit der ihr alle begegneten.
Lisa zitterte. Jede von uns hat ihre eigenen Probleme. Ich mag Annette. Sie umgibt ein Geheimnis und ich liebe Geheimnisse. Ihres bekomme ich auch noch raus. Annette wäre sicher eine gute Freundin für mich, dachte sie und fühlte, wie sich ihre Anspannung legte.
Annette nahm die Vorgänge und Erkenntnisse, die sich unmittelbar neben ihr abspielten, nicht wahr. Sie genoss es, endlich einmal ganz sie selbst sein zu können und verhalf damit ihrer weiblichen Seele nach fast vierzig Jahren Gefangenschaft zu einem kurzen Blick in die Freiheit.
Merkwürdige Bilder schossen ihr durch den Kopf. Noch war sie als Annette nicht geboren. Doch in Jürgen kreisten Gedanken, die ihm nicht aus dem Sinn gingen. Die Frau im Inneren wusste das mit tiefster Sicherheit.
Etwas Unaufhaltsames hatte begonnen, welches bei einer biologischen Frau nach neun Monaten mit Presswehen endete und einem Kind das Leben schenkte. Wie lange es dauern würde, bis aus Jürgen Annette hervorginge, stand an diesem kalten Winterabend in den Sternen. Der biologischen Schwangerschaft einer Frau ähnlich, hatte in ihm eine ganz besondere Art des Schwangerseins begonnen. Konnte sich ein Mensch selbst zur Welt bringen? fragte er/sie sich und saß nach ihrem Comingout genauso still auf ihrem Platz wie Lisa. Einerseits spürte sie noch Zerrissenheit, doch im nächsten Augenblick ungläubig eine enorme Wärme und das mächtige Verlangen nach Freiheit. Tief in ihrer Seele ahnte sie, dass heute für sie ein neues Leben angefangen hatte.
Ein Teil ihres nüchternen Verstandes weigerte sich noch, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Vielleicht war es auch nur ihre Bequemlichkeit. Annette war instinktiv klar, dass in absehbarer Zukunft kein Stein mehr auf dem anderen bleiben konnte.
Eine mörderische, alles Vertraute verschlingende Welle hatte sie erfasst, von ihr Besitz ergriffen und duldete keine Umkehr. Annette durfte nicht unter die Welle geraten. Sie musste mit ihr schwimmen, ja, wenn sie es geschickt anstellte und Acht gab, würde sie vielleicht sogar auf ihr reiten können.
Die einzige unbekannte Größe stellte die Zeit dar. Aber Annette hatte viel davon. Doch sie musste aufpassen. Sie durfte das wachsende Kind in sich nicht mehr aus den Augen verlieren.
Es könnte sonst alles zerstören, denn es war bereits stark, sehr stark. Wenn es hervorpreschte und zu viel auf einmal verlangte, würde es sich selbst und seinem Träger Jürgen schwer schaden. Annette wog die Situation ab und entwickelte rasend schnell Muttergefühle für das ungeborene Mädchen in ihr. Sie schützte es mit der ganzen Kraft ihrer Liebe. Es hatte zu leben begonnen. Annettes Kinderherz schlug nun rhythmisch und taktgleich mit dem seines großen „Bruders“ Jürgen.
Jetzt würden nur die äußeren Umstände die Geschwindigkeit seines Wachstums bestimmen. In absehbarer Zukunft würde es in diese Welt geboren werden. Lief alles gut, fand es Liebe, Geborgenheit und die Anerkennung, die es braucht. Eine starke und gesunde Persönlichkeit konnte sich entwickeln. Was für eine Chance!
Erfuhr es jedoch Ablehnung, Hass und Verachtung, bliebe es zaghaft, verschlossen, in sich gekehrt und in seiner Entwicklung zurück. Eine solche Seele würde zu schwach für das Leben sein.
In der Realität fanden sich viele Beispiele. Der psychische und häufig sogar reale physische Tod, Drogenabhängigkeit, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch, Kriminalität, psychische Störungen, zwanghaftes Verhalten und schwere Depressionen waren die möglichen Folgen.
Annette blickte in Gedanken ängstlich zu Jürgen, der ihr lächelnd zunickte. Ich weiß Bescheid, schien er ihr mitteilen zu wollen. Ich liebe unser Baby genau wie du und werde alles tun, damit es zu einem glücklichen Menschen heranwachsen kann. Sei beruhigt. Wir sind jetzt Mutter und Vater, Erwachsener und Kind in einer einzigen Person. Aber das kann ein Vorteil sein. Wir werden einen gangbaren Weg für uns finden, es könnte nur ausnahmsweise mehr als neun Monate dauern.
Solange wirst du dich gedulden müssen. Doch du hast deine Träume und am Ende dieses Weges steht die ersehnte Freiheit.
„Wie hat es dir denn nun bei uns gefallen, Annette?“
Was? Die Angesprochene zuckte kurz zusammen. Sie kam langsam wieder in die Realität zurück.
Ines blickte das neue Mitglied in der Selbsthilfegruppe neugierig an. Sie ahnte, was in Annette jetzt gerade vor sich ging. Die junge Frau hatte in den letzten Augenblicken ihr erstes Comingout erlebt. Sie wusste nun, was und wer sie war und würde ihren eigenen individuellen Weg mit der Problematik finden müssen.
Annette lächelte. „Es gefällt mir gut. Ich glaube, ich bin ein ganzes Stück mit meiner Selbstfindung weitergekommen. Aber irgendwie graust mir auch davor. Die Zukunft wird nicht leicht werden und ich muss sie konsequent und mit klarem Kopf planen“, antwortete sie ruhig.
Ines nickte verständnisvoll. „Du kannst mich jederzeit anrufen. Meine Nummer hast du ja. Wenn du Schritte hinsichtlich des Gutachterverfahrens unternehmen willst, sprich unbedingt mit mir. Wir haben hier leider in Duisburg einen Mediziner, der sich als der Herr der Welt aufspielt und sich nicht so verhält, wie man es von einem Arzt erwarten sollte. Für ihn scheinen wir als Patienten menschlich nicht zu existieren. Er schreibt die Gutachten erst nach mehreren Jahren Alltagstest und die Sitzungen bei ihm werden regelmäßig zur Tortur.“
„Gibt es nicht noch andere in der Region? Ich habe gelesen, dass für die Vornamen- und Personenstandänderung zwei Gutachten erforderlich sind, in denen der Arzt nur zu drei Fragen Stellung nehmen muss. Zum einen, ob der Antragsteller transsexuell geprägt ist, dieses seit mehr als drei Jahren vorliegt und es sich zum anderen in absehbarer Zeit nicht ändern wird. Für die Feststellung zur Personenstandänderung durfte man bis zum Anfang dieses Jahres nicht verheiratet sein und musste sich einer geschlechtsangleichenden Behandlung unterzogen haben, die eine möglichst deutliche Annäherung an das gewünschte Geschlecht zeigte und Fortpflanzungsunfähigkeit beinhaltete. Das Bundesverfassungsgericht hat nun auch Teile des Gesetzes für verfassungswidrig erklärt. Man muss sich im Moment wohl anwaltlichen Rat holen, aber das ist bei mir nicht das Problem. Es kann doch nicht so schwer sein, so ein Gutachten zu fertigen?“, fragte Annette.
Ines schüttelte sorgenvoll den Kopf. Auch die anderen hatten aufmerksam zugehört. Juliane brachte es auf den Punkt. „Es liegt an der Art und Weise des Umgangs. Dr. Klaus Loran ist schlichtweg menschlich ein Schwein! Man muss das einfach so sagen. Er verhält sich anfangs noch sehr freundlich, aber nach zwei Sitzungen, spätestens wenn du den Antrag bei Gericht eingereicht hast und er offiziell zum Gutachter bestellt wurde, zeigt er sein wahres Gesicht.“
Arabella sah Annette traurig an. „Du hast noch wenig Erfahrung im Umgang mit anderen Menschen, wenn sie erst von deinem Problem wissen. Transsexuelle sind für viele Leute der Inbegriff von Perversion. Männer, die Frauen sein wollen, haben in unserer Machowelt nichts zu suchen. Es ist fast noch schlimmer das Geschlecht wechseln zu wollen, als schwul zu sein! Loran macht da keine Ausnahme. Er glaubt alles über Transsexualität zu wissen und ist in der Fachwelt ein anerkannter Mann, aber wir sind für ihn nur Forschungsobjekte und pathologische Fälle. Er verachtet uns und das lässt er einen spüren. Ich wollte ihn wechseln und nach Dortmund fahren. Aber ich bekam Prozesskostenhilfe und das Gericht hatte meinen Antrag auf Gutachterwechsel einfach abgelehnt. Ich durfte mich drei Jahre lang von diesem feinen Herrn Doktor quälen lassen. Nun, jetzt bin ich damit durch, doch ich musste erst einen Anwalt beauftragen, damit er endlich das Gutachten schrieb.“
Es war sehr ruhig in der Runde geworden. Ines senkte leicht den Kopf und ergänzte leise: „Dr. Loran ist nichts für jemand mit zarten Nerven. Es haben sich während der Begutachtung durch ihn schon drei Mädchen das Leben genommen. Er weigerte sich, das Gutachten zu schreiben und begründete es mit seinem Eindruck, dass sie nicht transsexuell wären, sondern sich nur wichtigmachen wollten. Er würde auf jeden Fall ein negatives Gutachten an das Gericht schicken. Seine Stellungnahmen sind sowieso eine Schande. Er schreibt genau mit, was du sagst und alles Private, was du ihm erzählst, verwendet er dann in seinem Bericht gegen dich.“
Annettes Anwaltsherz schlug hart in ihrer Brust. „Aber es gibt juristische Regeln! An die muss sich auch ein Gutachter halten und wir sind hier ein Rechtsstaat. Mit anwaltlicher Hilfe kann man in Deutschland so ziemlich alles hinbekommen!“, meinte sie empört.
„Ja, Herzchen, wenn du Geld hast, ist das auch kein Problem. So einen Anwalt musst du bezahlen können, und wenn du über genügend Kleingeld verfügst, kannst du nach Hamburg fahren. Dort gibt es jemand, der nicht nur ein vernünftiges Gutachten in angemessener Zeit schreibt, sondern menschlich und hilfsbereit auf seine Patienten eingeht. Aber der nimmt nur Privatpatienten. Dasselbe gilt für die OP. Wenn du alles selber zahlen kannst, steht dir eine schöne Zeit in Paris bevor. Du fährst neugeboren wieder nach Hause. Eventuell kannst du es hier in Deutschland machen lassen. Aber wenn du erst bei deiner gesetzlichen Kasse auf die Warteliste musst, dauert es sehr lange und du kannst dich nur von einem der hier niedergelassenen Chirurgen operieren lassen. Einige machen das noch nicht einmal schlecht, aber es ist mit vielen Komplikationen verbunden und wie gesagt, langer Wartezeit.“
Juliane nahm sich nach ihren Worten mit zitternden Fingern eine Zigarette aus ihrer Handtasche. Sie wusste, wovon sie sprach. Ihre beste Freundin Monika hatte sich erst vor einem halben Jahr operieren lassen und war seitdem nur noch krank und arbeitsunfähig. Sie benötigte Vorlagen, konnte nicht mehr normal zur Toilette gehen. Ihr Unterleib hatte sich entzündet und Monika musste nicht nur starke Antibiotika einnehmen, sondern fand vor qualvollen Schmerzen kaum noch Ruhe.
„Haben denn alle dieselben Erfahrungen mit diesem Dr. Loran gemacht?", fragte Annette. „Ja“, erfuhr sie von Ines. „Nur die Männer aus der Frau zu Mann Gruppe kommen einigermaßen mit ihm zurecht. Aber die Jungs lassen sich auch nichts gefallen und einer hat dem Herrn Doktor wohl sogar Prügel angedroht, wenn er nicht schnellst möglich mit dem Gutachten rüber kommt.“
Alle lachten. „Das wäre schön“, meldete sich nun auch Lisa zu Wort. „So einen herrlichen Jackvoll, da möchte ich gerne Mäuschen spielen. Ich kenne einige der Männer. Die meisten gehen, wenn sie mit der Testosteronbehandlung beginnen, sofort ins Sportstudio und trainieren gezielt ihren Muskelaufbau. Da hätte der Doc nichts mehr zu lachen. Der Typ, der ihm das ankündigte, heißt Marius und ist eigentlich ein ganz netter Kerl. Doch er kann ziemlich sauer werden und dann sollte man ihn nicht zum Feind haben!“
Augenblicklich sprachen wieder alle durcheinander. Annette sah auf ihre Armbanduhr. Es war gleich elf Uhr. Sie hatte morgen früh um neun Uhr einen Termin und sollte sich langsam auf den Heimweg machen. Lächelnd winkte sie dem Wirt. „Zahlen, bitte. Ich muss nach Hause. Wann ist das nächste Treffen?“, fragte sie in die Runde. Lisa antwortete schnell. „In drei Wochen, gleiche Zeit, gleicher Ort“, lachte sie Annette an.
Diese gab dem Wirt zehn Euro. „Stimmt so“, erklärte sie großzügig und wandte sich Lisa zu. „Aber tu mir bitte den Gefallen und zieh nicht wieder diese fürchterlichen Schuhe an. Du hast nun wirklich allen Grund neue Schuhe kaufen zu gehen!“, meinte sie schmunzelnd. Sie nahm Lisas Handy, welches auf dem Tisch lag und speicherte ihre Nummer ein. „Hier ist meine Telefonnummer. Du kannst mich ja mal anrufen, wenn du Langeweile hast.“
Zufrieden erhob sie sich und klopfte einmal auf den Tisch. „Tschüss, dann bis in drei Wochen!“
Lisa und die anderen sahen ihr bewundernd nach. Annette war stark, selbstbewusst und strahlte eine Sicherheit aus, welche die Frauen neidlos in Erstaunen versetzte. Sie würde ihren Weg machen, da waren sich alle ohne Worte einig. Und Annette? Die fühlte sich rundum glücklich, genoss bewusst den Augenblick.
Super! Alles war so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Nun musste sie nur noch eine kleine Eigentumswohnung in Duisburg finden. So wäre ihr neues Leben perfekt strukturiert.
Sie könnte jederzeit hierher fahren, sich umziehen und als Frau unerkannt die Stadt erkunden. Schön, ich bin ein ganzes Stück weiter gekommen, lächelte sie entspannt.
Jürgen von Wichern blickte am nächsten Tag gedankenverloren aus dem Fenster seines Büros hinaus, als er durch die Stimme seiner Sekretärin aus der Gegensprechanlage aufgeschreckt wurde.
„Ihre Mutter ist am Apparat, kann ich durchstellen?“ „Ja, gerne, Frau Hausmann. „Mutter? Das ist aber eine Überraschung. Wie geht es dir?“
Am anderen Ende der Leitung war nur ein leises Knacken zu hören, doch dann meldete sich die dunkle Frauenstimme seiner Mutter. „Jürgen, mir geht es gut, aber Papa ist sehr krank. Die Ärzte haben einen Tumor in seiner Lunge festgestellt. Kannst du nach Hause kommen?“
Die letzten Worte wurden zitternd gesprochen und aus dem Hörer erklang ein verzweifeltes Schluchzen. Jürgen schluckte. Das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater könnte besser sein, doch durch die Entfernung zwischen Hamburg und Köln kamen sie einander nicht in die Quere und selbst die wenigen Telefonate gingen friedlich von statten.
„Ist es Krebs?", fragte er mit ruhiger Stimme. „Ja, Jürgen. Er wird wohl nicht mehr lange leben.“ Seine Mutter Magda weinte.
„Ich habe morgen früh noch einen wichtigen Gerichtstermin, Mama, aber danach packe ich und werde aller Voraussicht nach übermorgen bei euch sein. Ist das in Ordnung für dich?“
Magda hatte ihre Fassung wieder gefunden. „Natürlich, mein Junge. Im Augenblick besteht noch keine akute Lebensgefahr. Aber ich musste dich einfach anrufen. Martin hat wenig Zeit. Er hat alle Firmengeschäfte übernommen und ich brauche einfach einen von euch zum Reden. Du bist ein besserer Zuhörer als dein Bruder. Bei dir finde ich immer Verständnis für meine Sorgen. Fahr vorsichtig. Ich hab dich lieb, Jürgen.“
„Ich dich auch, Mama. Grüße Papa und Martin. Tschüss und denke bitte nicht zu viel an das, was kommen könnte, sondern genieße mit Papa jeden Tag und das Jetzt und Hier.“
Jürgens Augen füllten sich mit Tränen, als er den Hörer auflegte. Den Rat, den er gerade seiner Mutter gegeben hatte, hätte er sich selbst geben können.
Er sah die Bilder von Trapper vor seinem geistigen Auge. Trapper war sein Pony gewesen. Er hatte den kleinen dunkelbraunen Wallach, der ihm schlitzohrig die Mohrrüben aus der Hosentasche zog, über alles geliebt. Aber weil er nur Dressur reiten wollte, schimpfte ihn sein Vater ständig aus. Jürgen sollte Springreiter werden. Der Springsport wäre populärer als die Dressur, wie sein Vater meinte. Nach einer heftigen Auseinandersetzung, als der zehnjährige Jürgen statt der vom Vater gewünschten Springprüfung nur an einer Pony E-Dressur teilgenommen hatte, machte der strenge Senator seine öfter ausgesprochene Drohung wahr und nahm dem kleinen Jungen das Tier weg. Es wurde an einen Bekannten verkauft, dessen Tochter mehr Mumm in den Knochen hatte, als sein Sohn. Jürgen weinte am Abend bitterlich um seinen vierbeinigen Freund. Und er fühlte sich nach den harten Worten des Vaters abgelehnt und ungeliebt. Er musste schlucken. Auch wenn die Beziehung zu seinem Vater nie gut gewesen war, schmerzte ihn die Nachricht über dessen tödliche Krankheit sehr.
Er registrierte deshalb die junge Frau nicht, welche ohne anzuklopfen sein Büro betrat und ihm einige Akten auf den Schreibtisch legte. Angelika Hausmann arbeitete seit nunmehr acht Jahren für ihren Chef. Die erfahrene Sekretärin hatte ihn noch nie weinen sehen.
„Um Gottes willen, was ist denn geschehen? Kann ich etwas für Sie tun?“, fragte sie sofort hilfsbereit. „Mein Vater ist schwer krank. Er hat Krebs, Frau Hausmann. Ich werde übermorgen für eine Weile nach Hamburg fahren. Wir kommunizieren übers Handy und übers Internet. Frau Walther soll die anderen Fälle übernehmen. Ich spreche gleich mit ihr, wenn sie vom Gericht zurückkommt.“
„Das ist ja furchtbar. Wie lange werden Sie fort sein?“ „Ich denke eine Woche auf jeden Fall. Aber wenn ich den Termin morgen früh in der Arides Sache gut hinter mich bringe, werden wir etwas Luft haben. Frau Walther kann mich sicher problemlos vertreten und sich so schon mal auf ihre eigene Selbständigkeit vorbereiten.“
„Wenn ich etwas für Sie tun kann, einen Tee oder Saft vielleicht?“ „Nein, danke. Ich brauche allerdings die Arides Akten noch einmal.“ „Sofort, Chef“, erwiderte die Sekretärin betrübt und verließ rasch das Büro.
Jürgen sah noch eine Weile aus dem Fenster. Die Kanzlei lag im siebten Stock eines Bürogebäudes mitten in der Kölner Innenstadt mit herrlichem Blick auf den Kölner Dom und über den Rhein.
Komisch, dachte er, gestern war ich noch so glücklich über mein erstes gelungenes Comingout und heute erhalte ich eine solche niederschmetternde Nachricht. Wenn Vater wüsste, dass ich transsexuell bin, würde er mich sofort enterben.
Jürgen lachte und verstummte gleich darauf. Es hatte wahrlich Situationen in seinem Leben gegeben, in denen er sich gewünscht hatte, den Vater nie mehr sehen zu müssen. Jetzt machte sich ein beklemmendes Gefühl von schlechtem Gewissen breit. Jürgen wurde bewusst, wie sehr er den Vater trotz dessen unnahbarer Haltung liebte.
Trotzdem schlich sich in die Trauer auf einmal etwas Hoffnung. Wenn der Vater nicht mehr wäre, würde sich für ihn einiges ändern. Martin erbte die Firma und für den jüngeren Bruder Jürgen waren Wertpapiere zu festen Konditionen hinterlegt worden. Mutter würde die Villa erhalten und gut abgesichert sein. Möglicherweise wollte sie dort nicht mehr wohnen und würde sie an Martin und dessen Familie abgeben.
Die Aussicht auf finanziellen Zugewinn war für Jürgen nicht wichtig, denn er verdiente selbst genug, um sich ein sorgenfreies Leben gönnen zu können.
Vater würde ihm nicht länger ein künftiges Leben als Frau verbauen. Mit seiner Mutter verband Jürgen seit jeher so etwas wie Seelenverwandtschaft. Sie würde ihm keine Steine in den Weg legen.
Martin brauchte es vorerst nicht zu wissen. Jürgen liebte seinen Bruder. Sie hatten sich stets gut verstanden. Doch Martin war von ihrem Vater zum Nachfolger bestimmt und dazu erzogen worden, das Familienerbe zu erhalten.
Solange Jürgen nicht in Hamburg lebte, kämen Martins Ansehen und das der Firma nicht in Verruf. War, was jetzt gerade geschah, vielleicht Gottes Wille?
Zuerst der Schritt in die Selbsthilfegruppe, nun dies. Lisa! Ob ich … Nein! Jürgen verwarf den Gedanken, Lisa anzurufen, sofort wieder. Lisa sollte von seinem Doppelleben noch nichts erfahren.
Ich muss sehr vorsichtig sein, denn die kleinste Unachtsamkeit könnte alles zunichtemachen, dachte er betrübt.
Sie war zu dieser Zeit nur psychisch eine Frau gewesen und nannte sich Annette. Ihr Körper, den sie immer abgelehnt hatte, war noch der eines Mannes. In der Öffentlichkeit lebte sie als Rechtsanwalt Jürgen von Wichern in Köln.
Annette fühlte sich an dem Abend sehr unruhig. Werde ich auffallen? Wird man es mir ansehen? fragte sie sich ständig. Ob sich die Menschen auf der Straße zu mir umdrehen würden? Lachen würden? Vielleicht sich kichernd anstoßen: Guck mal die Alte, dort? Witzig, so eine Ulknudel, ein Paradiesvogel und es ist doch noch kein Karneval!
Sie war aufgeregt, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Was hatte sie eine Angst davor, anderen Menschen das erste Mal als Frau gekleidet zu begegnen!
Antworten auf eventuelle Fragen nach ihrer Herkunft hatte sie gut durchdacht. Sie wollte sich als Jurastudentin an der Kölner Uni ausgeben.
Juristin war sie tatsächlich, nur hatte sie die Examen bereits lange bestanden. Aber natürlich musste sie vorsichtig sein. Niemand durfte etwas von ihrem bürgerlichen Leben erfahren.
Immer wieder blickte die Frau in den Spiegel. War der Rock zu gewagt? Hatte sie die Schminke richtig verteilt oder schien noch etwas Bartwuchs am Kinn durch?
Annette nahm ihre Handtasche und lief, nachdem sie die Wohnungstür abgeschlossen hatte, zum Fahrstuhl. Dort drückte sie auf den Knopf zur Tiefgarage. Hoffentlich musste sie niemandem von der Hausgemeinschaft begegnen, kam ihr in den Sinn. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie sich ängstlich umschaute. Uff, als sie in ihrem Wagen saß, atmete sie aus. Das war geschafft. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis ich mich in meiner neuen Rolle sicher bewegen kann, dachte sie, als sie auf die Straße fuhr.
An einer der unzähligen roten Ampeln hielt ein BMW auf der Spur neben ihr. Der bärtige Typ in dem Wagen grinste sie frech an. Verschämt blickte sie nach unten und würgte dabei den Motor ab. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie ihn wieder gestartet hatte.
Nach einer ihr endlos scheinenden Fahrt kam sie zu dem Lokal, in dem sich die Selbsthilfegruppe für Transsexuelle traf. Auf dem dunklen Parkplatz davor stieg gerade jemand aus dem Auto aus.
Eine Frau stöckelte auf hohen Absätzen über die nasse Straße. Bei einem weiteren Blick war die Person verschwunden. Annette parkte ihren Wagen ein Stück weiter, stieg ungelenk aus und war glücklich, dass sie ihre Schuhe für diesen Abend nicht ganz so hoch gewählt hatte. Es befand sich frisch verteilter Split auf dem Platz und sie sank tief darin ein.
Als sie sich umsah, entdeckte sie ein kleines Häufchen Elend. Die Frau von eben lag der Länge nach auf dem Bürgersteig. Die unscheinbare Kante am Rinnstein war ihr wohl zum Verhängnis geworden. Alles schien verrutscht. Der Rock, die Bluse, ihre Jacke und die Perücke.
Annette eilte zu ihr und musste dabei höllisch aufpassen, nicht denselben Fehler zu machen. „Entschuldigung. Brauchen Sie Hilfe?“ fragte sie vorsichtig. Lächerlich. Wie konnte sie in einer derartigen Situation nur eine so dämliche Frage stellen?
Irgendwie schafften sie es mit vereinter Kraft, dass die Unglückliche wieder auf die Beine kam. Sie sahen einander an. Nach einer Schrecksekunde lagen sie sich lachend in den Armen.
Beide wussten sofort, was sie waren. Zur selben Zeit spürte Annette tief in sich ein wohliges Gefühl von Erleichterung und Sicherheit. Sie fühlte eine tiefe Verbundenheit mit der anderen.
Die junge Frau, die sich als Lisa vorstellte, war schon öfter hier gewesen und kannte sich im Lokal gut aus. Zusammen schlichen sie sich zur Damentoilette.
Annette blieb dabei fast das Herz stehen. Sie japste nach Luft und konnte Lisa nur noch zu piepsen: „Aber wir können doch nicht hier rein? Oh Gott, wenn uns jemand sieht!“
Lisa, die genau wie Annette körperlich noch männlich war, schüttelte lachend den Kopf. „Nein, du brauchst hier keine Angst zu haben“, sagte sie. „Dies ist unser Reich. Jeder weiß Bescheid und niemand kümmert sich um uns. Meine neuen Nylons sind zerrissen. Haben mich ein Vermögen gekostet. Der Absatz ist auch wieder hin. Warum erfindet die Industrie für uns Frauen bloß solche Mordwerkzeuge? Irgendwie bin ich über die Sch… Kante gestolpert und lag plötzlich flach. Gut, dass du kamst! Du bist neu hier? Wie heißt du eigentlich?“
Lisa hatte endlich ihren Redeschwall unterbrochen. Typisch Frau! Reden ohne Punkt und Komma, dachte Annette. Leicht amüsiert, dabei völlig überrumpelt und verwirrt antwortete sie: „Ich bin Annette, Studentin der Jurisprudenz in Köln.“
„Der was?“ Huch! Lisas Augen wurden immer größer. Plötzlich lachte sie los. Annette hatte schon geglaubt, sich mit Frauen auszukennen. Aber ein solch schrilles Gelächter, das in undefinierbarem Glucksen endete, war ihr noch nie untergekommen. Es wirkte, als nähere sich ihr Gegenüber dem Erstickungstod.
„Ich will Anwältin werden“, ergänzte sie ratlos.
„Ach so, eine Rechtsverdreherin. Warum sagst du das nicht gleich?“ Lisa schüttelte den Kopf, um im nächsten Augenblick wieder los zu prusten, während sie den gesamten Inhalt ihrer roten Lacklederhandtasche über dem Waschbecken auskippte. „Schick ist die, oder? Habe ich vor ein paar Tagen für zehn Euro bei meinem Stammkaufhaus ergattern können!“
Ihre langen knallrot lackierten Fingernägel stocherten in dem Sammelsurium an Schminkutensilien und Kleinteilen einen Augenblick lang suchend herum. Sie jauchzte vor Entzücken und griff nach einem abgewetzten Lippenstift, den sie mit gekonntem Schwung aus dem Handgelenk öffnete. Ihren linken kleinen Finger spreizte sie dabei soweit ab, dass es aussah, als würde er im nächsten Augenblick nach hinten abbrechen. Geschickt zog sie die helle rote Farbe auf ihren Lippen nach, schmatzte Ober- und Unterlippe zusammen und nickte befriedigt mit dem Kopf.
Annette staunte. Lisa füllte ihre Handtasche erneut. Nachdem ihre Siebensachen wieder in dem knallroten Beutel lagen, schob sie ihre neue Freundin lächelnd aus dem Klo.
Einen Moment später standen die beiden jungen Frauen im Gastraum. Lisa packte ihre Begleiterin sanft am Arm und zog sie bis zur hintersten Ecke zu einer Bank, wo sich zwei andere Frauen konzentriert mit der bunten Speisekarte beschäftigten.
„Hallo, ihr beiden Süßen, ich hatte gerade einen Unfall auf der Straße. Und wenn Annette hier nicht gewesen wäre, könntet ihr mich morgen früh wohl als Eisteddybärin vom Asphalt abkratzen“, begrüßte sie die beiden. „Also, das sind Arabella und Julchen. Ich kann erst mal eine heiße Schokolade vertragen. Wo bleibt überhaupt Ines?“
Puh! Annette hatte schon befürchtet, Lisa würde wieder kein Ende finden, doch die stoppte ihre Worte so plötzlich, wie sie mit dem wasserfallgleichen Redefluss angefangen hatte.
„Juliane“, stellte sich die rothaarige kräftige Dame im bunten blumengemusterten Chiffonkleid mit tiefem Bass vor. „Also, ich nehme eine Gulaschsuppe“, meinte ihre Nachbarin, deren Stimme sich ebenfalls sehr dunkel gefärbt anhörte. Sie hatte sich sorgfältig geschminkt, doch ihre Finger ließen einen derben Beruf im Bauhandwerk vermuten. Ihr schwarzer Rock und die dunkelrote Bluse standen ihr sehr gut, stellte Annette fest.
„Annette macht in Pudenz“, sagte Lisa erhaben.
„Ich studiere Jura und ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, wenn ich mich zu euch setze.“ Annette lachte. „Es ist mein erstes Mal in der Gruppe. Ich bin so fürchterlich aufgeregt“, meinte sie anschließend verlegen.
„Das wird bestimmt nicht das letzte Mal sein, Kindchen. Hier macht sich fast jede erst in den Schlüpfer, aber das gibt sich, glaub mir.“ Arabella legte die Speisekarte zur Seite und sah Annette prüfend an. „Du bist also noch ganz am Anfang?“, fragte sie mehr oder weniger beiläufig. Eine wirklich wahrheitsgemäße Antwort erwartete Arabella sichtlich nicht.
„Hast noch einen weiten Weg vor dir, je nachdem. Psychotherapie, Gutachter und wenn du endlich durch bist, die große OP. Dann ist alles weg und kommt nie mehr wieder. Überlege es dir gut. Es gibt Leute, die das heulende Elend überkommt, wenn sie feststellen, was einmal ab ist, bleibt ab. Nun, wie gefällt dir mein Oberteil? Hab ich als allererstes machen lassen. Untenrum ist noch alles da. Mal sehen, im Sommer vielleicht. Hab noch nicht den richtigen Operateur gefunden. Der Franzose ist zu teuer, den zahlt die Kasse nicht und die anderen, na ja… Es ist einfach zum Heulen. Wenn du Knete hast, kriegst du alles.“ Arabellas Augen hatten einen eigenartigen traurigen Glanz angenommen. Ihr fröhlicher Blick war tiefer Melancholie gewichen.
„Nicht alle halten dem Druck während des Geschlechtswechsels stand. Viele von uns sind mit der Situation überfordert und nicht wenige nehmen sich in dieser Zeit sogar das Leben. Es hängt viel von den Gutachtern ab. Nicht alle von denen behandeln uns gut. Für einige sind wir lediglich mysteriöse, wissenschaftliche Objekte, bizarr und unheimlich. Und natürlich mit einer großen Portion Perversion. Wer dann nicht wirklich selbstbewusst und stark ist, der geht unter. Ich kenne schon drei, die inzwischen durch eigene Hand auf dem Friedhof liegen“, erzählte Juliane, während sie ihre Freundin mit ängstlichem Blick zu mustern schien. „Arabella ist Gott sei Dank hart im Nehmen. Sie hat das Gutachterverfahren hinter sich. Nun kämpft sie nur noch mit der Krankenkasse. Als gesetzlich Versicherter hast du keine Wahl. Die schicken dich einfach irgendwo hin. Eigentlich kann man da auch gleich wie früher auf einen Seelenverkäufer steigen und nach Casablanca fahren“, setzte sie nach.
Annette schluckte. So hatte sie sich das erste Gruppentreffen nicht vorgestellt. Diese beiden transsexuellen Frauen waren natürlich Urgesteine, das merkte sie sofort. Aber wer waren sie wirklich? Lagen hinter der äußeren harten Fassade nicht sehr verletzliche Seelen? Jede hatte ihr eigenes Schicksal zu bewältigen und trotz scheinbarer Offenheit, blieben ihre Qualen im Verborgenen. Nur ein Mensch mit ausgeprägter Empathie konnte verstehen, was die Frauen durchmachten. Annette spürte eine tiefe Seelenverwandtschaft, die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen ließen sich nicht übersehen. Dass der Stammtisch nur von Frauen besucht wurde, störte die junge Anwältin deshalb nicht. Im Gegenteil. Es gab so viel zu erfahren und zu besprechen. Hormonelle Behandlung, Begutachtung, Operationen und die Probleme mit dem Lebensumfeld waren eben verschieden. Die Männer trafen sich separat an einem anderen Ort. Und die Frauen brauchten sich nicht scheuen, offen ihre Gefühle zu zeigen. ‚Frau‘ blieb hier unter sich. Und das empfand Annette gut. Man würde sich vielleicht gegenseitig stören.
Ihre Ansprechpartnerin aus der E-Mail hieß Ines. Sie hatte ihr etwas zur Gruppe geschrieben. Heute wollten sie sich hier treffen.
Dieser Stammtisch bestand bereits seit gut acht Jahren. Damals gab es in der Stadt einen Gynäkologen, der Menschen mit abweichender Geschlechtsidentität behandelte. Dort trafen sich ein paar der Frauen mehr oder weniger zufällig während der Sprechstunden im Wartezimmer. Sie stellten rasch die Ähnlichkeiten in ihren Lebensschicksalen fest und verabredeten sich an einem neutralen Ort. Das Lokal sprach sich herum und schnell fanden die Treffen regelmäßig einmal im Monat statt.
Annette war sich jetzt gerade nicht sicher, ob sie das hier brauchte oder besser gesagt, überhaupt gebrauchen konnte. Zunächst einmal hatte sie gelogen. Natürlich studierte sie schon lange nicht mehr. Sie war seit vielen Jahren ein erfolgreicher, gut betuchter Anwalt in Köln mit einer eigenen Kanzlei und vorwiegend im Wirtschaftsrecht tätig.
Sie konnte ihre Neigungen, die sie seit frühester Kindheit in sich spürte, nicht offen leben, denn das hätte ihre Klienten, die allesamt aus der gehobenen Gesellschaftsschicht kamen, sofort auf ewig verschreckt. So war sie gezwungen, nur heimliche Schritte zu unternehmen, um ihrer wahren Identität auf die Spur zu kommen.
In Köln hieß Annette Jürgen von Wichern. Die Familie stammte aus Hamburg und die Eltern lebten dort im besten Stadtteil in einer großen Villa.
Der Vater, Friedrich von Wichern, hatte die beiden Söhne konservativ erzogen. Martin, der ältere Bruder, sollte die Reederei und die Konservenfabrik übernehmen und war bereits nach abgeschlossenem BWL Studium und einem einjährigen Aufenthalt in den USA in die elterliche Firma eingetreten.
Die Mutter, Magda, studierte im letzten Semester Medizin, als sie den reichen Kaufmannssohn kennenlernte. Ihre Eltern zeigten sich von ihrer Wahl begeistert. Die von Wicherns gehörten schließlich seit Jahrzehnten zu den alteingesessenen besten Familien der Stadt und stellten immer wieder Senatoren.
Magda von Wichern wurde die Mutter zweier Jungen und ging in dieser Rolle auf. Als Jürgen, der Jüngere, merkte, dass er anders war als die übrigen Männer, bekam er Angst vor dem strengen Vater und wählte die Universität in Köln für sein Jurastudium. So war es ein Leichtes, den Vater davon zu überzeugen, dass er dort in der Rheinmetropole die besten Chancen hatte, seine Anwaltskanzlei zu etablieren.
Eine Freundin gab es in Jürgens Leben nicht. Er versuchte sich einige Male mit mäßigem Erfolg in der Schwulenszene der Domstadt. Zwar verliebte er sich stets in Männer, erlebte sich aber in der Beziehung selbst nicht als solcher.
Während der Liebesakte erschien es ihm regelmäßig, als wäre er eine Frau. Es fühlte sich so real an, dass Jürgen bereits fürchtete, an einer geistigen Störung zu leiden.
Dann kam ihm der Zufall zu Hilfe. Eines Abends lernte er im Szenelokal einen jungen BWL-Studenten kennen. Nach einer Weile erzählte ihm dieser von seinem Geheimnis. Er hieß jetzt Tim und war Frau zu Mann transsexuell. Noch während des Studiums machte er von einem im Jahre 1980 eingeführten Gesetz Gebrauch und stellte beim Amtsgericht den Antrag auf Vornamen- und Personenstandänderung. Danach suchte er sich im Kölner Schwulen- und Lesben-Milieu eine Selbsthilfegruppe für Transsexuelle. Sein Studentenpsychologe von der Uni half ihm dabei, die erforderlichen medizinischen Gutachten zu bekommen und durch die Freunde aus der Gruppe wusste er sehr schnell, wer die knifflige Operation von Frau zu Mann vornehmen konnte.
Nachdem sich Tim dem medizinischen Dienst seiner Krankenkasse vorgestellt hatte, bekam er die Kostenzusage und fuhr zur Operation nach Frankreich. Sein Psychologe war eng mit dem Leiter der Kasse befreundet, welcher keine Schwierigkeiten darin sah, dem erfolgversprechenden Studenten im vorletzten BWL-Semester diese Operation zu genehmigen. Im Gegenteil. Der welterfahrene Mann verstand sofort, wie ernst es für Tim war und zeigte großes Verständnis für dessen Schicksal.
Jürgen von Wichern lud den neuen Freund zu sich ein und erfuhr auf diese Weise alles über seine eigenen Probleme. Nach den Gesprächen lag er noch lange im Bett wach.
Er dachte an sein Leben. Was ihm Tim erzählte, konnte er fast eins zu eins auf sich selbst übertragen. Jürgen wollte plötzlich nur noch Abstand von seinem Beruf und von Köln. Kurzerhand packte er die Koffer, fuhr drei Wochen an die kroatische Adria in den Urlaub und war sich, als er heimkam, sicher, ebenfalls transsexuell zu sein.
Er hatte sich zwischenzeitlich Informationen darüber aus dem Internet geholt und besorgte sich in Köln Fachbücher. Seine merkwürdigen unergründlichen Gefühle und Wünsche, die er seit frühester Jugend in sich verspürt und oft sehr geängstigt hatten, bekamen auf einmal einen Sinn.
Tim beendete das Bachelor-BWL-Studium mit guten Noten und schrieb Jürgen vor einigen Monaten eine begeisterte Mail von seinem neuen Arbeitsplatz. Er hatte sich alle Zeugnisse umschreiben lassen und arbeitete nun erfolgreich in männlicher Rolle für eine Ratingagentur im Banken- und Geschäftsviertel von New York.
Jürgen schluckte schwer, als er die Mail las. Er hatte sich zwar schon Gedanken über einen Geschlechtswechsel gemacht, es aber noch nicht gewagt, Schritte dazu in die Realität umzusetzen. So beließ er es zunächst dabei, nur davon zu träumen.
Doch vor zwei Monaten hatte er sich einen Ruck gegeben und war zum Shoppen nach Dortmund gefahren. In den Kaufhäusern besorgte er sich unerkannt Damenunterwäsche und Kleidung in seiner Größe. Das Schicksal war ihm gnädig, denn mit 1,75 m Körpergröße würde er in weiblicher Rolle kaum auffallen.
Jürgens Hobbys lagen sehr im sportlichen Bereich. Er ruderte im Sommer und gehörte dem Verein bereits seit seiner Studentenzeit an. In den Wintermonaten trainierte er begeistert Eiskunstlauf. Sein schlanker durchtrainierter Körper wies kein Gramm Fett zu viel auf.
Zu Hause warf er die Einkaufstüten aufs Bett und danach wurde aus dem Staranwalt Jürgen die hübsche Studentin Annette. Er brauchte nicht lange, um einen weiblichen Namen auszuwählen. Seine Mutter hatte ihm vor vielen Jahren erzählt, dass sie sich nach seinem Bruder Martin sehnlichst ein Mädchen gewünscht hatte und es auf die Namen Annette Christin taufen lassen wollte.
Nach vierzig Lebensjahren im falschen Geschlecht könnte sich dieser Wunsch endlich erfüllen, wenn er den Mut aufbrachte (den ersten Schritt war er bereits gegangen), sein bisheriges Leben zu beenden, um als Annette noch einmal ganz von vorn anzufangen.
Das Transsexuellengesetz bereitete ihm keine Sorgen. Schließlich war er Rechtsanwalt von Beruf. Jürgen überlegte, ein Doppelleben zu beginnen und sich irgendwo in einer anderen Stadt im Ruhrgebiet eine zweite Wohnung zu kaufen. Eine Wohnung, in der er am Wochenende als Frau lebte. Innerhalb der Woche würde er wieder in Köln sein und als Jürgen seine Kanzlei führen.
Er dürfte sich in der Zweitwohnung weiblich kleiden, schminken, vielleicht zur Sicherheit, um nicht erkannt zu werden, eine Perücke tragen und in der Öffentlichkeit als Frau am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
Zu mehr war Jürgen noch nicht bereit. Die Kanzlei aufzugeben, sein Lebenswerk zu beenden, dazu fehlte ihm die Kraft. Sich als Frau zu outen und zu versuchen, mit der Kanzlei einfach weiterzumachen, war nicht möglich und würde den gesellschaftlichen Abstieg zur Folge haben.
So entschied Jürgen sich dafür, seine weibliche Seele vorerst Schritt für Schritt zu leben. Nachdem er sich das entsprechende Outfit zugelegt hatte, suchte er im Internet nach Selbsthilfegruppen. Natürlich konnte er keine in seinem Wohnort in Köln nehmen. Aber die Entfernungen im Rhein-Ruhrgebiet ließen sich mit dem Auto schnell überbrücken.
Er schrieb die erste Mail an Ines. Diese leitete die Gruppe in Duisburg. Die war weit genug weg von seinen Geschäftspartnern und doch relativ unproblematisch mit dem Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen.
Annette schmunzelte. Schön! Bislang war alles gut gegangen. Ihr erster Auftritt als Frau in der Öffentlichkeit verlief hervorragend … obwohl die Gaststätte als Treffpunkt für Transsexuelle bekannt war.
Mit Lisa fand sie sogar auf Anhieb eine nette Freundin. Ihr Lächeln verschwand von den Lippen. Vater! Es gab noch einen weiteren, gewichtigen Grund, der es ihr unmöglich machte, sich als Frau zu outen: Ihre Familie.
In ihrem Fall war es ihr Vater Friedrich, dem sie schon als Kind nichts recht machen konnte. Er hatte ihr stets den ein Jahr älteren Bruder Martin vorgezogen. Martin war ein Junge, wie ihn sich der konservative Vater wünschte. Hart und männlich. Jürgens weibliche Züge irritierten den Fabrikbesitzer, Reeder und Senator.
Für den Vater verbog sich Jürgen. Er lernte Klavier spielen, obgleich er nicht musikalisch war und studierte Jura, obwohl er eigentlich Englisch- und Geschichtslehrer werden wollte. Für Friedrich von Wichern spielte er den harten Kerl, und verzichtete auf seine große Liebe, den Pferdesport.
Als kleiner Junge wünschte er sich ein Pony und bekam es. Allerdings mit der Auflage, Springreiten zu trainieren, um als junger Mann später am Deutschen Springderby in Hamburg teilnehmen zu können.
Jürgen hatte Angst vor den hohen Sprüngen. Sein Talent lag viel mehr im Bereich Dressur, wie seine Tante erkannte. Sie war sehr erfolgreich in dieser Sportart. Als der Vater davon hörte, verkaufte er das Pony. Sein Sohn würde sich entweder im Springsport einen Namen machen und ein richtiger Mann werden oder er könne sich die Reiterei gleich aus dem Kopf schlagen. Selbst die Mutter schaffte es nicht, den Vater umzustimmen. Auch in seinem Beruf kam Jürgen den Wünschen des Vaters nach. Eigentlich wollte er Lehrer werden. Englisch und Geschichte interessierten ihn sehr und er hatte sich ein Studium für das Lehramt am Gymnasium ausgesucht. Sein Vater war der Ansicht, dass er als Jurist der Firma besser nützen würde. Jürgen gehorchte schweren Herzens. Dem Vater zu widersprechen, kam ihm nicht in den Sinn. Streit und Auflehnung mochte er nicht. Der Einzug in das Kölner Studentenzimmer stellte nach dem Abitur eine große Erleichterung für ihn dar.
Annette schüttelte sich und das Bild des Vaters verschwand aus ihrem Kopf.
Ein leichter Luftzug wehte durch die kleine Damenrunde in der Duisburger Kneipe. Es hatte draußen etwas zu schneien angefangen. Eine junge Frau, die für das kurzzeitige Öffnen der Tür und die dadurch hereinströmende Kälte verantwortlich war, betrat das Lokal. Sie zog ihren Mantel aus, hängte ihn an die Garderobe gleich neben dem Eingang, nahm ihre Handtasche und grüßte freundlich den ältlichen, adipös wirkenden Wirt, während sie zielsicher auf die Damenbank zustrebte.
Das muss Ines sein, schoss es Annette durch den Kopf. Wie leicht und locker sie sich in ihrem Rock bewegte! Eine Frau und Dame vom Scheitel bis zur Sohle. Annette schluckte. Man sah Ines überhaupt nichts an. Und ihre Stimme? Jetzt fühlte sie eine Spannung in sich, gegen die die Ziehung der Lottozahlen bei inzwischen fünf Richtigen und der Aussicht auf einen Millionengewinn zur unwichtigsten Nebensache der Welt wurde.
„Einen schönen guten Abend alle miteinander. Wer hat denn dieses furchtbare Wetter mitgebracht?“ Die junge Frau klopfte einmal mit der Hand auf den Tisch, um sie dann Annette freundlich entgegenzustrecken. „Hallo, ich bin Ines und du musst Annette sein. Ich freue mich sehr, dich hier bei uns begrüßen zu dürfen!“
Annette erwiderte den Gruß völlig apathisch und hauchte nur ein leises: „Ja, die bin ich, vielen Dank für die Einladung.“ Mehr brachte sie im Augenblick nicht heraus.
Ines war einfach faszinierend! Ihre Stimme klang hell und warmherzig, wie die einer völlig normalen Frau. Kein einziger verräterischer Ton lag darin.
Lisa, die neben ihr saß, verzog unmerklich die Mundwinkel und lächelte in sich hinein. Ines war perfekt, das merkte jeder, der sie zum ersten Mal erlebte. Schmunzelnd betrachtete sie die erstaunte Annette.
Sie steht erst am Anfang, dachte Lisa, und sieht jetzt schon so weiblich aus. Wie wird sie erst in zwei oder drei Jahren sein, wenn sie ihre ersten Berührungsängste verloren hat und in psychotherapeutischer Behandlung ist?
Das Gefühl, diese tiefe innere Gewissheit, kein Mann, sondern eine Frau zu sein, würde ihr kein Psychologe der Welt nehmen können. Es war das untrügliche Anzeichen einer transsexuellen Prägung.
Die Therapie zielte somit nicht darauf ab, den Patienten wieder „umzukehren“, ihn also mit dem biologischen Geschlecht auszusöhnen. Solche Versuche endeten regelmäßig in einem Fiasko.
Der Therapeut sollte eine geistige Erkrankung ausschließen und schauen, ob vielleicht eine Psychose vorlag, in deren Verlauf der Patient glaubte, eine Frau zu sein. Würde man in diesem Fall eine geschlechtsangleichende Therapie vornehmen, hätte das fatale Folgen für den Patienten.
Ein guter Therapeut würde, wenn er als Mediziner, studierter Psychologe oder als Psychiater arbeitete, derartige Erkrankungen erkennen. Bei Mann zu Frau Transsexuellen waren Transvestismus und weibliche Homosexualität von Transsexualität abzugrenzen.
Niemand, der sich als Mann erlebte und mit seinem männlichen Geschlechtsteil zufrieden war, käme auf die Idee, sich dieses entfernen zu lassen. Nur wirkliche Transsexuelle waren in der Lage, derartige Gedankenspiele in die Realität umzusetzen. Aber der Weg dahin gestaltete sich schwer und lag mit Steinen und Tränen gepflastert vor dem Patienten. Wer sich zu diesem letzten unwiderruflichen Schritt entschlossen hatte, lief Gefahr, alles zu verlieren.
Die junge Frau wusste genau, was solch nüchternes medizinisches Fachwissen für das Leben einer Transsexuellen bedeutete. Sie durfte ihre Erfahrungen im familiären Bereich bereits machen. Ihre Eltern und der Bruder hatten ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie einen derartigen Weg aufs Schärfste verurteilen würden. Lisas Bruder Dirk hatte ihr Prügel angedroht, für den Fall, dass sie es jemals wagen sollte, in Frauenkleidern zu Hause aufzutauchen.
Ganz auf sich allein gestellt, lebte Lisa in einer billigen Zweizimmerwohnung im ärmsten Teil Duisburgs. Ihr Job als Lagerarbeiter sicherte ihr ein geringes Einkommen. Niemand in der Firma ahnte freilich etwas von ihrem Problem und das aus gutem Grund. Ihr Outing würde die sofortige Kündigung zur Folge haben.
Still saß sie neben Annette und hörte ihr zu. Die Schicksale gestalteten sich doch bei den meisten ähnlich, erkannte Lisa. Sie konnte einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken. Das Leben war schon ungerecht. Sie hätte alles dafür gegeben, wenn sie ohne männliche Geschlechtsteile geboren worden wäre und die Männer fuhren für die Operation sogar bis nach Frankreich, um welche zu bekommen. Verrückte Welt! Gefährliche Welt, dachte sie und atmete aus.
Transsexualität war nichts für schwache Nerven. Sie beeinflusste das gesamte Denken und Fühlen, und wer zu sehr unter Druck geriet, konnte in tiefe Depressionen verfallen. Vielen gelang der Weg daraus nicht mehr, und sie versuchten, ihrem Leben ein Ende zu setzen.
Sie erinnerte sich daran, wie auch sie einmal an Selbstmord gedacht hatte. Ihr Vater erklärte damals während einer Fernsehsendung, dass man aus seiner Sicht für Männer, die Frauen sein wollten, die Konzentrationslager von früher wieder einführen sollte. Mit dem Hinweis auf eine entsprechende Sendung hatte Lisa gehofft, ihrem Vater das Problem näher bringen zu können. Nach dessen menschenverachtenden Worten lief es ihr eiskalt den Rücken herunter.
Sie blickte, während Annette erzählte, zu Ines. Die hatte ihre Frau und die beiden Kinder, ihren Arbeitsplatz, ihr Haus und einen Großteil ihrer Familie verloren. Aber sie kämpfte weiter und gründete vor fast acht Jahren die Gruppe. Ines verdiente die Bewunderung, mit der ihr alle begegneten.
Lisa zitterte. Jede von uns hat ihre eigenen Probleme. Ich mag Annette. Sie umgibt ein Geheimnis und ich liebe Geheimnisse. Ihres bekomme ich auch noch raus. Annette wäre sicher eine gute Freundin für mich, dachte sie und fühlte, wie sich ihre Anspannung legte.
Annette nahm die Vorgänge und Erkenntnisse, die sich unmittelbar neben ihr abspielten, nicht wahr. Sie genoss es, endlich einmal ganz sie selbst sein zu können und verhalf damit ihrer weiblichen Seele nach fast vierzig Jahren Gefangenschaft zu einem kurzen Blick in die Freiheit.
Merkwürdige Bilder schossen ihr durch den Kopf. Noch war sie als Annette nicht geboren. Doch in Jürgen kreisten Gedanken, die ihm nicht aus dem Sinn gingen. Die Frau im Inneren wusste das mit tiefster Sicherheit.
Etwas Unaufhaltsames hatte begonnen, welches bei einer biologischen Frau nach neun Monaten mit Presswehen endete und einem Kind das Leben schenkte. Wie lange es dauern würde, bis aus Jürgen Annette hervorginge, stand an diesem kalten Winterabend in den Sternen. Der biologischen Schwangerschaft einer Frau ähnlich, hatte in ihm eine ganz besondere Art des Schwangerseins begonnen. Konnte sich ein Mensch selbst zur Welt bringen? fragte er/sie sich und saß nach ihrem Comingout genauso still auf ihrem Platz wie Lisa. Einerseits spürte sie noch Zerrissenheit, doch im nächsten Augenblick ungläubig eine enorme Wärme und das mächtige Verlangen nach Freiheit. Tief in ihrer Seele ahnte sie, dass heute für sie ein neues Leben angefangen hatte.
Ein Teil ihres nüchternen Verstandes weigerte sich noch, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Vielleicht war es auch nur ihre Bequemlichkeit. Annette war instinktiv klar, dass in absehbarer Zukunft kein Stein mehr auf dem anderen bleiben konnte.
Eine mörderische, alles Vertraute verschlingende Welle hatte sie erfasst, von ihr Besitz ergriffen und duldete keine Umkehr. Annette durfte nicht unter die Welle geraten. Sie musste mit ihr schwimmen, ja, wenn sie es geschickt anstellte und Acht gab, würde sie vielleicht sogar auf ihr reiten können.
Die einzige unbekannte Größe stellte die Zeit dar. Aber Annette hatte viel davon. Doch sie musste aufpassen. Sie durfte das wachsende Kind in sich nicht mehr aus den Augen verlieren.
Es könnte sonst alles zerstören, denn es war bereits stark, sehr stark. Wenn es hervorpreschte und zu viel auf einmal verlangte, würde es sich selbst und seinem Träger Jürgen schwer schaden. Annette wog die Situation ab und entwickelte rasend schnell Muttergefühle für das ungeborene Mädchen in ihr. Sie schützte es mit der ganzen Kraft ihrer Liebe. Es hatte zu leben begonnen. Annettes Kinderherz schlug nun rhythmisch und taktgleich mit dem seines großen „Bruders“ Jürgen.
Jetzt würden nur die äußeren Umstände die Geschwindigkeit seines Wachstums bestimmen. In absehbarer Zukunft würde es in diese Welt geboren werden. Lief alles gut, fand es Liebe, Geborgenheit und die Anerkennung, die es braucht. Eine starke und gesunde Persönlichkeit konnte sich entwickeln. Was für eine Chance!
Erfuhr es jedoch Ablehnung, Hass und Verachtung, bliebe es zaghaft, verschlossen, in sich gekehrt und in seiner Entwicklung zurück. Eine solche Seele würde zu schwach für das Leben sein.
In der Realität fanden sich viele Beispiele. Der psychische und häufig sogar reale physische Tod, Drogenabhängigkeit, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch, Kriminalität, psychische Störungen, zwanghaftes Verhalten und schwere Depressionen waren die möglichen Folgen.
Annette blickte in Gedanken ängstlich zu Jürgen, der ihr lächelnd zunickte. Ich weiß Bescheid, schien er ihr mitteilen zu wollen. Ich liebe unser Baby genau wie du und werde alles tun, damit es zu einem glücklichen Menschen heranwachsen kann. Sei beruhigt. Wir sind jetzt Mutter und Vater, Erwachsener und Kind in einer einzigen Person. Aber das kann ein Vorteil sein. Wir werden einen gangbaren Weg für uns finden, es könnte nur ausnahmsweise mehr als neun Monate dauern.
Solange wirst du dich gedulden müssen. Doch du hast deine Träume und am Ende dieses Weges steht die ersehnte Freiheit.
„Wie hat es dir denn nun bei uns gefallen, Annette?“
Was? Die Angesprochene zuckte kurz zusammen. Sie kam langsam wieder in die Realität zurück.
Ines blickte das neue Mitglied in der Selbsthilfegruppe neugierig an. Sie ahnte, was in Annette jetzt gerade vor sich ging. Die junge Frau hatte in den letzten Augenblicken ihr erstes Comingout erlebt. Sie wusste nun, was und wer sie war und würde ihren eigenen individuellen Weg mit der Problematik finden müssen.
Annette lächelte. „Es gefällt mir gut. Ich glaube, ich bin ein ganzes Stück mit meiner Selbstfindung weitergekommen. Aber irgendwie graust mir auch davor. Die Zukunft wird nicht leicht werden und ich muss sie konsequent und mit klarem Kopf planen“, antwortete sie ruhig.
Ines nickte verständnisvoll. „Du kannst mich jederzeit anrufen. Meine Nummer hast du ja. Wenn du Schritte hinsichtlich des Gutachterverfahrens unternehmen willst, sprich unbedingt mit mir. Wir haben hier leider in Duisburg einen Mediziner, der sich als der Herr der Welt aufspielt und sich nicht so verhält, wie man es von einem Arzt erwarten sollte. Für ihn scheinen wir als Patienten menschlich nicht zu existieren. Er schreibt die Gutachten erst nach mehreren Jahren Alltagstest und die Sitzungen bei ihm werden regelmäßig zur Tortur.“
„Gibt es nicht noch andere in der Region? Ich habe gelesen, dass für die Vornamen- und Personenstandänderung zwei Gutachten erforderlich sind, in denen der Arzt nur zu drei Fragen Stellung nehmen muss. Zum einen, ob der Antragsteller transsexuell geprägt ist, dieses seit mehr als drei Jahren vorliegt und es sich zum anderen in absehbarer Zeit nicht ändern wird. Für die Feststellung zur Personenstandänderung durfte man bis zum Anfang dieses Jahres nicht verheiratet sein und musste sich einer geschlechtsangleichenden Behandlung unterzogen haben, die eine möglichst deutliche Annäherung an das gewünschte Geschlecht zeigte und Fortpflanzungsunfähigkeit beinhaltete. Das Bundesverfassungsgericht hat nun auch Teile des Gesetzes für verfassungswidrig erklärt. Man muss sich im Moment wohl anwaltlichen Rat holen, aber das ist bei mir nicht das Problem. Es kann doch nicht so schwer sein, so ein Gutachten zu fertigen?“, fragte Annette.
Ines schüttelte sorgenvoll den Kopf. Auch die anderen hatten aufmerksam zugehört. Juliane brachte es auf den Punkt. „Es liegt an der Art und Weise des Umgangs. Dr. Klaus Loran ist schlichtweg menschlich ein Schwein! Man muss das einfach so sagen. Er verhält sich anfangs noch sehr freundlich, aber nach zwei Sitzungen, spätestens wenn du den Antrag bei Gericht eingereicht hast und er offiziell zum Gutachter bestellt wurde, zeigt er sein wahres Gesicht.“
Arabella sah Annette traurig an. „Du hast noch wenig Erfahrung im Umgang mit anderen Menschen, wenn sie erst von deinem Problem wissen. Transsexuelle sind für viele Leute der Inbegriff von Perversion. Männer, die Frauen sein wollen, haben in unserer Machowelt nichts zu suchen. Es ist fast noch schlimmer das Geschlecht wechseln zu wollen, als schwul zu sein! Loran macht da keine Ausnahme. Er glaubt alles über Transsexualität zu wissen und ist in der Fachwelt ein anerkannter Mann, aber wir sind für ihn nur Forschungsobjekte und pathologische Fälle. Er verachtet uns und das lässt er einen spüren. Ich wollte ihn wechseln und nach Dortmund fahren. Aber ich bekam Prozesskostenhilfe und das Gericht hatte meinen Antrag auf Gutachterwechsel einfach abgelehnt. Ich durfte mich drei Jahre lang von diesem feinen Herrn Doktor quälen lassen. Nun, jetzt bin ich damit durch, doch ich musste erst einen Anwalt beauftragen, damit er endlich das Gutachten schrieb.“
Es war sehr ruhig in der Runde geworden. Ines senkte leicht den Kopf und ergänzte leise: „Dr. Loran ist nichts für jemand mit zarten Nerven. Es haben sich während der Begutachtung durch ihn schon drei Mädchen das Leben genommen. Er weigerte sich, das Gutachten zu schreiben und begründete es mit seinem Eindruck, dass sie nicht transsexuell wären, sondern sich nur wichtigmachen wollten. Er würde auf jeden Fall ein negatives Gutachten an das Gericht schicken. Seine Stellungnahmen sind sowieso eine Schande. Er schreibt genau mit, was du sagst und alles Private, was du ihm erzählst, verwendet er dann in seinem Bericht gegen dich.“
Annettes Anwaltsherz schlug hart in ihrer Brust. „Aber es gibt juristische Regeln! An die muss sich auch ein Gutachter halten und wir sind hier ein Rechtsstaat. Mit anwaltlicher Hilfe kann man in Deutschland so ziemlich alles hinbekommen!“, meinte sie empört.
„Ja, Herzchen, wenn du Geld hast, ist das auch kein Problem. So einen Anwalt musst du bezahlen können, und wenn du über genügend Kleingeld verfügst, kannst du nach Hamburg fahren. Dort gibt es jemand, der nicht nur ein vernünftiges Gutachten in angemessener Zeit schreibt, sondern menschlich und hilfsbereit auf seine Patienten eingeht. Aber der nimmt nur Privatpatienten. Dasselbe gilt für die OP. Wenn du alles selber zahlen kannst, steht dir eine schöne Zeit in Paris bevor. Du fährst neugeboren wieder nach Hause. Eventuell kannst du es hier in Deutschland machen lassen. Aber wenn du erst bei deiner gesetzlichen Kasse auf die Warteliste musst, dauert es sehr lange und du kannst dich nur von einem der hier niedergelassenen Chirurgen operieren lassen. Einige machen das noch nicht einmal schlecht, aber es ist mit vielen Komplikationen verbunden und wie gesagt, langer Wartezeit.“
Juliane nahm sich nach ihren Worten mit zitternden Fingern eine Zigarette aus ihrer Handtasche. Sie wusste, wovon sie sprach. Ihre beste Freundin Monika hatte sich erst vor einem halben Jahr operieren lassen und war seitdem nur noch krank und arbeitsunfähig. Sie benötigte Vorlagen, konnte nicht mehr normal zur Toilette gehen. Ihr Unterleib hatte sich entzündet und Monika musste nicht nur starke Antibiotika einnehmen, sondern fand vor qualvollen Schmerzen kaum noch Ruhe.
„Haben denn alle dieselben Erfahrungen mit diesem Dr. Loran gemacht?", fragte Annette. „Ja“, erfuhr sie von Ines. „Nur die Männer aus der Frau zu Mann Gruppe kommen einigermaßen mit ihm zurecht. Aber die Jungs lassen sich auch nichts gefallen und einer hat dem Herrn Doktor wohl sogar Prügel angedroht, wenn er nicht schnellst möglich mit dem Gutachten rüber kommt.“
Alle lachten. „Das wäre schön“, meldete sich nun auch Lisa zu Wort. „So einen herrlichen Jackvoll, da möchte ich gerne Mäuschen spielen. Ich kenne einige der Männer. Die meisten gehen, wenn sie mit der Testosteronbehandlung beginnen, sofort ins Sportstudio und trainieren gezielt ihren Muskelaufbau. Da hätte der Doc nichts mehr zu lachen. Der Typ, der ihm das ankündigte, heißt Marius und ist eigentlich ein ganz netter Kerl. Doch er kann ziemlich sauer werden und dann sollte man ihn nicht zum Feind haben!“
Augenblicklich sprachen wieder alle durcheinander. Annette sah auf ihre Armbanduhr. Es war gleich elf Uhr. Sie hatte morgen früh um neun Uhr einen Termin und sollte sich langsam auf den Heimweg machen. Lächelnd winkte sie dem Wirt. „Zahlen, bitte. Ich muss nach Hause. Wann ist das nächste Treffen?“, fragte sie in die Runde. Lisa antwortete schnell. „In drei Wochen, gleiche Zeit, gleicher Ort“, lachte sie Annette an.
Diese gab dem Wirt zehn Euro. „Stimmt so“, erklärte sie großzügig und wandte sich Lisa zu. „Aber tu mir bitte den Gefallen und zieh nicht wieder diese fürchterlichen Schuhe an. Du hast nun wirklich allen Grund neue Schuhe kaufen zu gehen!“, meinte sie schmunzelnd. Sie nahm Lisas Handy, welches auf dem Tisch lag und speicherte ihre Nummer ein. „Hier ist meine Telefonnummer. Du kannst mich ja mal anrufen, wenn du Langeweile hast.“
Zufrieden erhob sie sich und klopfte einmal auf den Tisch. „Tschüss, dann bis in drei Wochen!“
Lisa und die anderen sahen ihr bewundernd nach. Annette war stark, selbstbewusst und strahlte eine Sicherheit aus, welche die Frauen neidlos in Erstaunen versetzte. Sie würde ihren Weg machen, da waren sich alle ohne Worte einig. Und Annette? Die fühlte sich rundum glücklich, genoss bewusst den Augenblick.
Super! Alles war so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Nun musste sie nur noch eine kleine Eigentumswohnung in Duisburg finden. So wäre ihr neues Leben perfekt strukturiert.
Sie könnte jederzeit hierher fahren, sich umziehen und als Frau unerkannt die Stadt erkunden. Schön, ich bin ein ganzes Stück weiter gekommen, lächelte sie entspannt.
Jürgen von Wichern blickte am nächsten Tag gedankenverloren aus dem Fenster seines Büros hinaus, als er durch die Stimme seiner Sekretärin aus der Gegensprechanlage aufgeschreckt wurde.
„Ihre Mutter ist am Apparat, kann ich durchstellen?“ „Ja, gerne, Frau Hausmann. „Mutter? Das ist aber eine Überraschung. Wie geht es dir?“
Am anderen Ende der Leitung war nur ein leises Knacken zu hören, doch dann meldete sich die dunkle Frauenstimme seiner Mutter. „Jürgen, mir geht es gut, aber Papa ist sehr krank. Die Ärzte haben einen Tumor in seiner Lunge festgestellt. Kannst du nach Hause kommen?“
Die letzten Worte wurden zitternd gesprochen und aus dem Hörer erklang ein verzweifeltes Schluchzen. Jürgen schluckte. Das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater könnte besser sein, doch durch die Entfernung zwischen Hamburg und Köln kamen sie einander nicht in die Quere und selbst die wenigen Telefonate gingen friedlich von statten.
„Ist es Krebs?", fragte er mit ruhiger Stimme. „Ja, Jürgen. Er wird wohl nicht mehr lange leben.“ Seine Mutter Magda weinte.
„Ich habe morgen früh noch einen wichtigen Gerichtstermin, Mama, aber danach packe ich und werde aller Voraussicht nach übermorgen bei euch sein. Ist das in Ordnung für dich?“
Magda hatte ihre Fassung wieder gefunden. „Natürlich, mein Junge. Im Augenblick besteht noch keine akute Lebensgefahr. Aber ich musste dich einfach anrufen. Martin hat wenig Zeit. Er hat alle Firmengeschäfte übernommen und ich brauche einfach einen von euch zum Reden. Du bist ein besserer Zuhörer als dein Bruder. Bei dir finde ich immer Verständnis für meine Sorgen. Fahr vorsichtig. Ich hab dich lieb, Jürgen.“
„Ich dich auch, Mama. Grüße Papa und Martin. Tschüss und denke bitte nicht zu viel an das, was kommen könnte, sondern genieße mit Papa jeden Tag und das Jetzt und Hier.“
Jürgens Augen füllten sich mit Tränen, als er den Hörer auflegte. Den Rat, den er gerade seiner Mutter gegeben hatte, hätte er sich selbst geben können.
Er sah die Bilder von Trapper vor seinem geistigen Auge. Trapper war sein Pony gewesen. Er hatte den kleinen dunkelbraunen Wallach, der ihm schlitzohrig die Mohrrüben aus der Hosentasche zog, über alles geliebt. Aber weil er nur Dressur reiten wollte, schimpfte ihn sein Vater ständig aus. Jürgen sollte Springreiter werden. Der Springsport wäre populärer als die Dressur, wie sein Vater meinte. Nach einer heftigen Auseinandersetzung, als der zehnjährige Jürgen statt der vom Vater gewünschten Springprüfung nur an einer Pony E-Dressur teilgenommen hatte, machte der strenge Senator seine öfter ausgesprochene Drohung wahr und nahm dem kleinen Jungen das Tier weg. Es wurde an einen Bekannten verkauft, dessen Tochter mehr Mumm in den Knochen hatte, als sein Sohn. Jürgen weinte am Abend bitterlich um seinen vierbeinigen Freund. Und er fühlte sich nach den harten Worten des Vaters abgelehnt und ungeliebt. Er musste schlucken. Auch wenn die Beziehung zu seinem Vater nie gut gewesen war, schmerzte ihn die Nachricht über dessen tödliche Krankheit sehr.
Er registrierte deshalb die junge Frau nicht, welche ohne anzuklopfen sein Büro betrat und ihm einige Akten auf den Schreibtisch legte. Angelika Hausmann arbeitete seit nunmehr acht Jahren für ihren Chef. Die erfahrene Sekretärin hatte ihn noch nie weinen sehen.
„Um Gottes willen, was ist denn geschehen? Kann ich etwas für Sie tun?“, fragte sie sofort hilfsbereit. „Mein Vater ist schwer krank. Er hat Krebs, Frau Hausmann. Ich werde übermorgen für eine Weile nach Hamburg fahren. Wir kommunizieren übers Handy und übers Internet. Frau Walther soll die anderen Fälle übernehmen. Ich spreche gleich mit ihr, wenn sie vom Gericht zurückkommt.“
„Das ist ja furchtbar. Wie lange werden Sie fort sein?“ „Ich denke eine Woche auf jeden Fall. Aber wenn ich den Termin morgen früh in der Arides Sache gut hinter mich bringe, werden wir etwas Luft haben. Frau Walther kann mich sicher problemlos vertreten und sich so schon mal auf ihre eigene Selbständigkeit vorbereiten.“
„Wenn ich etwas für Sie tun kann, einen Tee oder Saft vielleicht?“ „Nein, danke. Ich brauche allerdings die Arides Akten noch einmal.“ „Sofort, Chef“, erwiderte die Sekretärin betrübt und verließ rasch das Büro.
Jürgen sah noch eine Weile aus dem Fenster. Die Kanzlei lag im siebten Stock eines Bürogebäudes mitten in der Kölner Innenstadt mit herrlichem Blick auf den Kölner Dom und über den Rhein.
Komisch, dachte er, gestern war ich noch so glücklich über mein erstes gelungenes Comingout und heute erhalte ich eine solche niederschmetternde Nachricht. Wenn Vater wüsste, dass ich transsexuell bin, würde er mich sofort enterben.
Jürgen lachte und verstummte gleich darauf. Es hatte wahrlich Situationen in seinem Leben gegeben, in denen er sich gewünscht hatte, den Vater nie mehr sehen zu müssen. Jetzt machte sich ein beklemmendes Gefühl von schlechtem Gewissen breit. Jürgen wurde bewusst, wie sehr er den Vater trotz dessen unnahbarer Haltung liebte.
Trotzdem schlich sich in die Trauer auf einmal etwas Hoffnung. Wenn der Vater nicht mehr wäre, würde sich für ihn einiges ändern. Martin erbte die Firma und für den jüngeren Bruder Jürgen waren Wertpapiere zu festen Konditionen hinterlegt worden. Mutter würde die Villa erhalten und gut abgesichert sein. Möglicherweise wollte sie dort nicht mehr wohnen und würde sie an Martin und dessen Familie abgeben.
Die Aussicht auf finanziellen Zugewinn war für Jürgen nicht wichtig, denn er verdiente selbst genug, um sich ein sorgenfreies Leben gönnen zu können.
Vater würde ihm nicht länger ein künftiges Leben als Frau verbauen. Mit seiner Mutter verband Jürgen seit jeher so etwas wie Seelenverwandtschaft. Sie würde ihm keine Steine in den Weg legen.
Martin brauchte es vorerst nicht zu wissen. Jürgen liebte seinen Bruder. Sie hatten sich stets gut verstanden. Doch Martin war von ihrem Vater zum Nachfolger bestimmt und dazu erzogen worden, das Familienerbe zu erhalten.
Solange Jürgen nicht in Hamburg lebte, kämen Martins Ansehen und das der Firma nicht in Verruf. War, was jetzt gerade geschah, vielleicht Gottes Wille?
Zuerst der Schritt in die Selbsthilfegruppe, nun dies. Lisa! Ob ich … Nein! Jürgen verwarf den Gedanken, Lisa anzurufen, sofort wieder. Lisa sollte von seinem Doppelleben noch nichts erfahren.
Ich muss sehr vorsichtig sein, denn die kleinste Unachtsamkeit könnte alles zunichtemachen, dachte er betrübt.