Ausgerechnet Chanel No. 5

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Bo-ehd

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Nur einen Meter vor der Drehtür des Kaufhauses Heyden & Heyden stand plötzlich ein Mann mittleren Alters und hinderte Emilie Carstens daran, das Gebäude zu verlassen. Sie hielt ihn für einen Unhöfling, wie es sie überall gibt, wo Menschen zusammenkommen, und versuchte, an seiner Rechten vorbeizukommen, aber der Mann streckte seinen Arm aus und hielt sie auf.
„Der Direktor möchte Sie sprechen, und ich soll Sie zu ihm bringen“, erklärte der Mann.
„Wenn er mich sprechen möchte, soll er einen Termin machen“, entgegnete sie resolut.
„Er besteht darauf, dass Sie jetzt in seinem Büro erscheinen.“
„Und wenn ich mich weigere?“
„Hören Sie, es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder Sie begleiten mich jetzt, oder Sie bekommen eine Polizeieskorte. Suchen Sie sich etwas aus. Und jetzt kommen Sie!“ Der Mann verlor etwas an Höflichkeit.
„Was sind das für Methoden!?“, ächzte sie ganz verhalten, so dass es niemand mitbekam.
„Das wird Ihnen der Direktor erklären. Und jetzt gehen Sie bitte zum Fahrstuhl, ich bleibe hinter Ihnen. Und versuchen Sie nicht, mir zu entkommen. Ich kann per Knopfdruck alle Türen verriegeln. Führen Sie ein ehrliches Gespräch mit dem Direktor, das ist das Vernünftigste, was Sie in dieser Situation tun können.“
Emilie suchte nach einem Ausweg. Flucht ins Gedränge, auf die Toilette, vorgetäuschter Schwächeanfall, ein Chaos in der Menge – sie spielte in der kurzen Zeit bis zum Fahrstuhl alle Möglichkeiten blitzartig durch, sah aber schnell ein, dass sie in der Falle saß. Also: Hin zum Direktor und ihren Charme als Abwehrwaffe einsetzen.

Der Direktor war ein älterer, grauhaariger Mann, der wie ein Herrscher hinter seinem Schreibtisch saß. Als sie den Raum betreten hatte, musterte er sie von oben bis unten, als wollte er sie abscannen. Dann deutete er mit einer Hand auf einen Stuhl direkt vor ihm und bat sie wortlos, Platz zu nehmen.
„Sie wissen, warum Sie hier sind?“, fragte er.
„Ehrlich gesagt nein. Sie werden es mir gleich sagen.“
Oliver Heyden räumte ein paar Kataloge zur Seite und wandte sich mit strenger Stimme an sie: „Leeren Sie bitte Ihre Tasche hier auf dem Schreibtisch.“
„Niemals!“, donnerte Emilie. „Wie komme ich dazu? Da sind intime Dinge drin. Das können Sie doch keiner Frau zumuten!“
„Doch. Ihre intimen Dinge interessieren mich nicht. Unsere Läger sind voll davon, damit können Sie mich nicht überraschen. Also machen Sie jetzt keine Schwierigkeiten und leeren Sie Ihre Tasche, oder ich muss die Polizei rufen, was nicht im Interesse unseres Hauses wäre. Also bitte!“, forderte er sie im Tonfall eines gereizten Managers auf.
Emilie sah keinen Ausweg mehr, stand auf und kippte den Inhalt ihrer Tasche auf den Schreibtisch. „So, bitte!“, krächzte sie garstig.
„Feldmann, treten Sie näher. Sie müssen das jetzt bezeugen“, wandte er sich an den Hausdetektiv, stand ebenfalls auf und fischte aus dem Sammelsurium aus Schminkzeug, einem Päckchen Taschentücher, einem Brillenetui, einem Schlüsselbund, einer Schachtel Zigaretten, einer Geldbörse und ihrem Handy eine graue Schachtel mit Goldrand und dem Aufdruck Chanel No. 5 in Reliefdruck. Letztere nahm er an sich, stellte sie auf die andere Seite des Schreibtischs und zog ein Formular aus einem Papierfach.
„Ich nehme jetzt Ihre Personalien auf und …“
„Halt!“, kreischte sie, und ihr Gesicht wurde weiß wie ein Ziegenkäse. „Das möchte ich nicht. Kann ich meinen Mann bitte anrufen? Er arbeitet in der Kanzlei gegenüber und ist in zwei Minuten hier. Er ist Rechtsanwalt, wissen Sie?“

Er war tatsächlich in dieser kurzen Zeit zur Stelle und bezeugte die Aufnahme der Personalien und das Verhängen des Hausverbotes für dieses und alle anderen Häuser von Heyden & Heyden. Von einer Strafanzeige wurde abgesehen. Carstens bedankte sich brav dafür. „Ich weiß, welchen Schaden Ladendiebstähle im Handel verursachen. Ich kann gut nachvollziehen, dass Sie kompromisslos dagegen vorgehen. Auf jeden Fall danke ich Ihnen für die Nachsicht und dass Sie es auf einem Hausverbot beruhen lassen. Meine Frau und ich werden die Sache sehr ernst angehen und vielleicht einen Arzt bemühen. Also nochmals vielen Dank.“
Ralph Carstens führte seine Frau, aus deren Gesicht jegliches Blut gewichen war, in die Tiefgarage seiner Firma, ließ sie auf dem Beifahrersitz seines Nobelwagens Platz nehmen und blies ihr den Marsch.
Kopfschüttelnd erklärte er ihr, was sie schon lange wusste: „Diese Kosmetikabteilung mit den teuren Markenparfüms, die ist doch abgesichert wie Fort Knox. Wann begreifst du das denn endlich! Wie kann man nur so dämlich sein, dort lange Finger zu machen?“ Auf dem viertelstündigen Weg nach Hause musste sie sich einen Vorwurf nach dem anderen anhören, bis ihre Nerven so schwach wurden, dass Sturzbäche von Tränen über ihre Wange liefen.
Zu Hause zog sie sich sofort in ihr Zimmer zurück, während Ralph in sein Arbeitszimmer ging, sich in seinen urgemütlichen Lesesessel setzte und einen Zigarillo aus dem Spender nahm. Dann griff er in seine Jackentasche und holte eine kleine Schachtel mit einem Klarsichtdeckel hervor. Beim Blick darauf schlug sein Herz schneller. Er öffnete sie und entnahm ihr ein Kunstwerk von einem Feuerzeug. Er bewunderte die saubere Verarbeitung, das künstlerisch anmutende Design und das dezente satte Klicken, wenn er es betätigte.
Nach dem ersten Zug nahm er die leere Schachtel, schaute kurz auf das Preisschild, zog die Stirn hoch und warf sie mit einem herablassenden „Pfffff“ in den Papierkorb.
 

anbas

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Moin Bo-ehd,
eine schöne und überraschende Wendung zum Schluss.
Gerne gelesen.
Liebe Grüße
Andreas
 

Bo-ehd

Mitglied
Hi, Andreas, freut mich, dass dir meine Geschichte gefällt. Ich bemühe mich immer, eine Pointe oder Wende unterzubringen, weil nur das meine Storys aus dem Alltag richtig abrundet.
Gruß Bo-ehd
 

steyrer

Mitglied
Hallo Bo-ehd!

Nach dem ersten Zug nahm er die leere Schachtel, schaute kurz auf das Preisschild, zog die Stirn hoch und warf sie mit einem herablassenden „Pfffff“ in den Papierkorb.
Der Anwalt klaut offensichtlich nur dort, wo die Waren erstens nicht gescannt werden (wozu ist sonst ein Preisschild nötig) und zweitens billiges Zeug verkloppt wird. : )

Schöne Grüße
steyrer
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo steyrer,
nimm das mal nicht so ernst. Es gibt noch genug kleine, spezialisierte Geschäfte, die die Produkte mit einem Preisetikett auszeichnen. Etwa Rauchwaren- oder Antiquitätenhändler, also keine Billigheimer.
Gruß Bo-ehd
 



 
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