Ausreißer

AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA​


Also stolpere ich an der Hand meiner Mama durch den Bahnhof.
Der kommt mir ziemlich braun vor, das ganze Gebäude.
Braun ist überhaupt alles rundherum.
Braun ist unser vollgepfropfter Koffer, braun ist der gesteppte Mantel meiner Mutter, wo unten so eine Teddybär-Borte drangenäht ist, braun ist sogar die Sonne, die durch die getönten Fenster der Bahnhofshalle hereinfällt, aber nur wenig.
Am Bahnhof gibt es ein Lokal, wo man sich einen Verlängerten bestellen kann, aber wir werden da wohl nicht in das Lokal hineingehen.
Meine Mama ist keine so feine Dame, die sich die Nägel rot macht und einem Kellner mal einfach so zuruft: „Einen Verlängerten, bitte!“, und dabei zupft sie an einer weißen Tischdecke rum.
Meine Mama ist dann doch eher eine ganz normale Frau.
Aber da, wo man im Vorbeigehen Zeitungen kaufen kann, kauft Mama schon auch eine Zeitung, und mir spendiert sie ein kleines Heftlein, wo die Maus und der Elefant drin sind.
Sicher macht sie das, weil heute so ein besonderer Tag ist und ich vergesse bestimmt nicht, mich zu freuen.
Das Heft besteht aus reinen Bildern, die aber richtig schön gemalt sind.
Die gemalten Sachen sind doch immer viel hübscher anzuschauen als die echten.
Auf den gemalten Bildern in meinem neuen Heft wäscht sich die orange Maus mit einem ziemlich großen Stück Seife, was ordentlich viel Schaum macht.
Seite für Seite immer mehr Schaum, bis die Bilder nur noch wild gekritzelt sind. Dann kommt der kleine blaue Elefant und prustet die Maus wieder sauber.
Fast muss ich lachen, aber ich stecke das Heft dann doch lieber in meine Manteltasche, damit ich es sicher nicht verliere.
„Ding Dong!“ macht es ganz laut, wenn ein Zug ankommt, und eine unsichtbare Frau, die sich so anhört wie die Stimme aus dem Fernseher, sagt den Leuten, wo ihre Züge abfahren.
Ich hoffe, Mama versteht das alles richtig, weil ich versteh kein einziges Wort in dem ganzen Durcheinander. Nur meine Hand in der von Mama.
„Ich glaube, das ist unser Zug“, sagt Mama.
Und sie sagt: „Komm, wir gehen“.
Diesmal meint sie es sehr wirklich sehr ernst.
Eine ganze Weile stehen wir mit irgendwelchen Fremden am Bahnsteig rum, wo es windig und kalt ist. Ein paar dürre Blätter wirbeln durch die Luft, wenn die staubbraunen Züge heranbrausen, aber dann dürfen wir doch einsteigen.





BBBBBBBBBBBBBBBBBBBBBB​


Braun ist auch der grobe Stoff vom Sofa im Zug drinnen, das man in ein lustiges Springbett verwandeln kann.
Was für ein Glück, wir haben ein ganzes Abteil nur für uns und sind scheinbar die einzigen, die von zu Hause weglaufen.
Wie meine Mama den braunen Mantel ausgezogen hat, kommt ihre Bluse mit den türkisen und den rosa Tupfen zum Vorschein, und dann ist auch die braune Stimmung verschwunden, grad als würd der Fahrtwind die bösen Gedanken durchs Fenster hinaussaugen.
Mein Saftpäckchen und ein paar Salzstangen hat Mama noch nicht mal vergessen, dabei haben wir uns so dermaßen beeilen müssen beim Zusammenpacken.
Ohne richtig Hunger zu haben, kaue ich auf den Soletti herum, lecke das Salz ab, manche lutsche ich weich, nur so zum Spaß, oder ich spiele Zigarette.
„Schau mal, wie Oma!“, sage ich zu Mama und ziehe kräftig an meiner Salzstange, als wäre das eine wirkliche Zigarette. Mama tut so, als müsste sie husten und als ob da wirklich ein Rauch wäre in unserem kleinen Abteil, aber sie spielt es schlecht.
„Ich freue mich ja schon soooo auf Oma!“, das soll meine Mama jedenfalls wissen, „Freust du dich auch?“
Mama nickt wie jemand, der eigentlich erst über eine Antwort nachdenken muss, und dann kommt der Herr Schaffner und kontrolliert uns.
Als er endlich wieder weg ist, macht Mama die Vorhänge zu und wir sind noch mehr miteinander allein, aber das ist schön.
Nur unten an der Tür ist ein Gitter, das kann man auf- und zuschieben und kleine goldene Lichtquadrate reinlassen oder raussperren.






CCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCC​


Christkinds Spuren sind bekanntlicherweise auch oft golden.
Einmal, ich weiß es sicher, habe ich seinen goldenen Gottesglanz rechts oben im Wohnzimmerfenster gesehen, da muss es wohl grad vorbeigeflogen sein.
Aber bis zum Christkind ist es noch weit und bis zu Omas Haus ebenso.
Ganz oben auf den Hügel hinauf müssen wir den Koffer wuchten, das heißt, meine Mama muss, weil ich bin ihr keine große Hilfe.
Trotzdem ist sie froh, dass sie mich dabeihat, das weiß ich genau, und mir geht es andersrum nicht anders, das braucht man gar nicht extra sagen.
Wo wir zwei dann oben auf dem Hügel so vor dem dunklen Haus stehen, schauen wir aber erst mal ganz schön dumm drein.
Draußen, wo wir stehen, ist es nämlich auch schon fast wieder dunkel und kein einziges warmes Licht lädt uns ein, reinzukommen.
Oben auf dem Dach macht ein sehr schwarzer Vogel ein Geräusch, das man bestimmt nicht Singen nennen kann. Es klingt fast so, als hätte der Vogel Halsweh, aber ich weiß ja, dass Vögel gar kein Halsweh haben.
Manchmal möchte ich wahnsinnig gern ein Vogel sein, ich weiß auch nicht.
Gott sei Dank weiß Mama, wie man von der anderen Seite reinkommt und wo es einen Schlüssel gibt.
Aber Mama ist plötzlich sehr seltsam und überhaupt ist alles richtig komisch und gar nicht so wie es sein soll.
Auch das Haus auf dem Hügel ist heute ganz anders als sonst.
So finster ist es, dass schon wieder fast alles ganz dunkelbraun ausschaut und gar nicht himmelblau und gemütlich wie normal.
Kalt und dunkel ist es und von Oma keine Spur.
Wenigstens riecht es noch nach Oma-Haus, nach kaltem Rauch, nach Schweinebraten und Küchenfett, nach dürrem Holz und feuchtem Stein, was alles meiner Oma allein gehört.
Es ist so wenig warm herinnen, dass ich meinen Mantel erst mal nicht ausziehen soll, das sagt jedenfalls Mama.
Ist auch schon wieder komisch, weil ich noch nie einen Mantel anhaben musste, wo es ein Drinnen gab.
Wenigstens haben wir dann ein Licht gemacht, das geht bei Oma genauso mit Knopfdruck wie zu Hause.
Mir scheint jedoch, noch nicht mal das himmelblaue Haus weiß, ob Oma je wieder zurückkommen wird, das denke ich so bei mir, aber dann kommt Oma doch noch.







DDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDD​


Die zwei Frauen sitzen alsbald drüben in der Küche, wo der große Kochofen steht.
Sie sitzen an einem runden Tisch mit einer dicken Holzplatte, und sie reden miteinander wie immer.
Wie Erwachsene trinken sie aus robusten Weinbechern, die haben einen Goldrand oben und unten einen kräftigen Stängel aus grünem Glas.
Oma raucht und Oma hustet.
Von ihrem Schreck hat sie sich auch schon erholt, denn wir hätten ja auch kriminelle Einbrecher sein können, hat sie gesagt.
Dann hat Oma gelacht, aber nicht ganz echt, wie das halt so ihre Art ist.
Demnach ist es jetzt schon fast wie völlig normal.
Der alte Ofen im Wohnzimmer hat Frau Kälte längst zur Haustür hinausgescheucht.
„Mach ruhig die Türen auf, damit es überall warm wird“, sagt Oma, als wäre das etwas sehr Großzügiges, und ich mache im Haus alle Türen auf, bis auf die, die nach draußen führen.
Zu Hause sind die Türen und die Wände glatt und weiß, dagegen bei meiner Oma schauen sie nicht grad so aus, als könnte man ein Lineal dranlegen. Weiß sind sie auch nicht, eher gelb. Oder sagen wir, golden.
Das fällt mir eben so auf, wie ich in der Tür zum Wohnzimmer stehe, während sich die Flüsterworte aus der Küche mit der Wärme aus dem Wohnzimmer im Flur treffen.
Ja, wirklich, es ist, als hätte man den Türrahmen in ein goldenes Licht getaucht.
Überhaupt kommt mir plötzlich alles so vor wie das verzauberte Haus der Frau Holle, und mit ein bisschen Glück dürfen auch wir ein ganzes Jahr bei meiner Oma fleißig sein und werden dann mit purem Gold übergossen, bestimmt.
Ich bleib mit voller Absicht unter dem goldenen Türrahmen meiner Oma stehen, mach meine Augen zu und wünsch mir was, so fest ich kann.
So steh ich geduldig lange in der Tür, in meiner Bluse mit den ganz kleinen bunten Punkten drauf, und warte auf den Goldregen.
Als ich wieder hinschaue, ist da plötzlich ein größerer goldgelber Punkt auf dem Ärmel, der vorher noch nicht da war, das weiß ich bestimmt.
Ich bin nicht sicher, ob ich meiner Mama davon erzählen soll, aber ich gehe jedenfalls in die Küche zu den anderen.
Vor Oma erzähle ich lieber nichts. Meine Oma ist keine Person, die noch an Märchen glaubt, dafür hat sie schon viel zu viel leben müssen.
„Morgen gehen wir einkaufen“ sagt Oma, und sie sagt außerdem, dass ich mir was Süßes aussuchen darf, und dass sie ja nicht gewusst hätte, dass wir heute kommen würden, sonst hätte sie was für mich besorgt.
Es besorgt mich ein wenig, dass es normal keine Süßigkeiten in dem kalten Haus gibt, und ich frage mich, wie Oma so leben muss, wenn wir nicht zu Besuch sind.





EEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEE​


Eigentlich, wenn Sommer wär, würde meine Oma ihr eigenes Gemüse verkochen, welches sie höchstpersönlich in ihrem Garten wachsen lässt.
Jetzt ist aber kein Sommer wie sonst, wenn wir Oma besuchen.
Trotzdem sind wir da.
Oma ist da, und Mama und ich, ich bin auch da.
Der große Kochofen in der Küche ist angeheizt, mit echtem Feuer drin und nicht mit Knopfdruck wie zu Hause, und wir kochen.
Auf einem kleinen Brett darf ich die Gurke kleinschneiden.
Die Zwiebeln übernimmt meine Mama, die ist das Weinen von uns dreien am ehesten gewöhnt.
Oma ist groß und aufrecht und quadratisch, und ich möchte sie nie im Leben weinen sehen.
„Erst schwitzen wir die Zwiebel an, und die Paprika gleich hinten nach“, erklärt mir Oma, was wir da miteinander tun.
„Dann kommt die Gurke, die ist das Wichtigste, geschält natürlich, und Tomatenmark, dann würzen wir…“
Oma wischt sich ihre Hände an der grünen Schürze ab. Kleine orangegelbe Blumen sind da draufgemalt, wie hübsch.
Omas große eckige Brillengläser beschlagen von dem Dampf in der Küche, aber das macht nichts, sie kann sogar blind kochen.
Eine Dose Tomaten wandert in den Topf und verzaubert alles in ein rotes Meer.
Anschließend muss man geduldig warten, bis alles weichgekocht ist.
Wir essen Omas Gurkengemüse mit einem großen Butterbrot und bleiben zusammen in der Küche sitzen, an dem großen, runden Tisch, der nie kaputt geht.
Sogar eine Kerze hat Oma in die Mitte gestellt, nur für uns, weil wir jetzt da sind. Dicke rote Wachsperlen rutschen nach unten auf den schwarzen Kerzenteller.
Das Essen schmeckt gut, weil ich ja so tüchtig geholfen habe.
Das macht mich natürlich stolz, und natürlich werde ich gelobt.
Ich schaue die beiden Frauen von der Seite an, meine Mama hier, meine Oma da.
„Oma, was hast du da?“, frage ich neugierig und deute auf ihren Kopf.
Ich traue mich nicht, selber hinzugreifen, denn so lieb ich meine Oma auch habe, eine Oma zum Kuscheln und Anfassen ist sie eher nicht.
Oma lacht, als wüsste sie noch mehr Geheimnisse, und für einen Moment glaube ich, sie wird mir über den Kopf streichen, aber das ist nicht ihre Art.
Immer noch lachend zupft sich meine Oma eine kleine graue Feder aus ihren Haaren.







FFFFFFFFFFFFFFFFFFFFFF​


Freundlich wie sie ist, hat Oma ganz viele Schaumküsse gekauft und bunten Puffreis auch.
Außerdem macht sie mir Kalten Hund.
Dafür schichtet sie Butterkekse und geschmolzene Schokolade zu einem Kuchen zusammen.
Ich darf den ganzen Tag spielen und ein bisschen fernsehen darf ich auch.
Am Abend trinken die Frauen Sekt und Orangensaft in der Küche, so lange, bis Mama weint.
Ich trinke nur Orangensaft, aber aus einem Stengelglas für Erwachsene, welches sehr zerbrechlich ist, man muss aufpassen.
Natürlich darf ich noch ein bisschen mehr fernsehen.
In meinem neuen Wohnzimmer fühle ich mich schon ziemlich zuhause. Man kann sagen, das Wohnzimmer ist mir am liebsten.
Meistens ist es ruhig im Haus, das ist eine schöne Neuheit für mich.
Hier gibt es keine Männer, die von der Arbeit nach Hause kommen.
Nur im Ofen knackst und kracht es ganz schön laut, so von Zeit zu Zeit, aber man hat sich schnell daran gewöhnt.
Ich setze mich ans Wohnzimmerfenster und schaue hinaus in den Garten.
Da ist ein großer Nadelbaum vorm Fenster, der das Haus beschützt. Er schickt die kalten Winde wieder zurück in die Welt, sonst ist da nicht viel zu sehen.
Wohl deshalb schauen sich meine Augen lieber nach innen um, und eigentlich gefällt mir tatsächlich alles sehr gut.
Ein langer Kasten an der Wand, eine Couch und ein Fernseher, und nicht zu vergessen der glühende Ofen.
Die Tür aus reinem Glas führt auf eine Terrasse, zumindest wenn es warm ist draußen.
Dicke rote Vorhänge verzieren den Raum.
In jedem Zimmer von meiner Oma haben die Vorhänge eine andere Farbe.
Im Schlafzimmer sind sie dunkelblau, und Oma nennt das Schlafzimmer „blaues Zimmer“ und das Wohnzimmer „rote Stube“. Die Küche heißt einfach nur Küche und hat Vorhänge mit Wiesenblumen drauf.
In der roten Stube ist es friedlich und froh, in der Küche nicht immer.
Ich schaue dann doch wieder hinaus in den Garten.
Jetzt haben wir also einen Garten, wir drei zusammen, auch das finde ich schön.
Im Sommer kann man mit einer Decke auf dem Boden sitzen und Gänseblümchen pflücken und Löwenzahn und Hahnenfuß, aber der ist giftig.
Die Hügel rollen sich auf allen Seiten nach unten ab und wachsen mit hohen, braunen Gräsern wieder herauf. Dort wohnen normal die zirpenden Freunde und trällern ein Lied von der weizengelben Abendsonne.
Wieder rumpelt es in der Küche.
Ich stelle mir vor, dass es auch da draußen rumpelt und poltert, und dass die Erde erzittert und rundherum aufbricht, so entlang vom grünen Zaun.
Ich stelle mir das so vor, dass es mir erst Angst macht, aber dann gefällt es mir doch.
Dann soll sich das ganze himmelblaue Haus und der kleine Garten loslösen von allem und hinaufschweben in die hohen Wolken, wo wir sicher sind für immer und wo außer uns keiner jemals hinkommt. Vielleicht bröckelt auch ein bisschen braune Gartenerde von uns nach unten ab, die regnet dann den anderen auf den Kopf.
Manchmal stelle ich mir auch vor, wir verstecken uns im Wald.
Der Wald fängt gleich neben dem Haus an und wo er aufhört, weiß ich bestimmt nicht.
Ist aber bestimmt genug Platz, um sich zu verstecken.
Tausend schweigsame Bäume, in denen man wohnen kann und überall süße Beeren zum Naschen. Der kleine Bach ist zum Trinken da, und zum Baden auch.
Mir ist aber schon klar, dass das eher eine Idee für den Sommer ist, und der Sommer ist noch weit.
Draußen hat längst der braune Herbst seine Regierung angefangen und wird bereits silbergrau und eisig.
Fast keine Blätter mehr hat der Wind zum Ausreißen von den Bäumen, nur noch wenige liegen matschig auf der Straße herum.
Ich frage mich, wo die Blätter alle hingereist sind, wo Herr Wind sie wohl alle hinträgt in die Welt hinaus.
Schon wieder ist es Nacht draußen und es gibt wahrlich nicht viel zu sehen.
Der Wald schweigt dunkelgrün, und nur selten kommt ein Auto vorbei.
Mama erschrickt aber auch bei jedem Scheinwerferlicht, das zufällig hereinstrahlt.
„Komm weg vom Fenster“, sagt sie.
Und: „Zeit zum Schlafen“, fällt ihr noch ein.
Das sagt sie grad so, als könnte man so Sachen wie Schlafen aus reiner Zerstreutheit heraus vergessen.





GGGGGGGGGGGGGGGGGGGGGG​


Ganz schrecklich finster ist es beim Aufwachen.
Fast noch finsterer als beim Einschlafen, und ich fühle mich auf jeden Fall verraten.
Denn ich wache auf in einer ziemlichen Fremde und man hat mich absolut verlassen.
Mama ist nicht da, Oma ist nicht da.
Also bin ich völlig allein in dem großen Bett, allein in diesem blaukalten Zimmer.
Mein Mama-Schutzwall rechts und mein Oma-Schutzwall links: verschwunden, einfach verschwunden.
Ohne jeden Schutz muss ich daliegen.
Es dauert ein bisschen, bis mein Kopf vollkommen aufgewacht ist.
Als es soweit ist, kriecht mir die Angst die eingefrorenen Füße hinauf, bis auch das letzte Eck von mir mit Angst angemalt ist.
Noch nie ist mir das blaue Zimmer so fremd gewesen.
Ich weiß nicht, wo man das Licht anmacht, und meine Stimme ist irgendwo in meinem Hals angeklebt.
Es bleibt dunkel und es bleibt still und ich bleibe an das Kissen angenäht.
Ich weiß mit Sicherheit, dass mich irgendwas beobachtet, und dass ich mich nicht bewegen darf.
Meine Augen mache ich so groß, dass sie mir fast rausfallen, und nach einer Weile hilft das was und ich kann ein bisschen sehen.
Ich sehe das große, leere Bett in dem großen, blauen Zimmer, weiter sehe ich nicht.
Eine Zeit vergeht, und die Uhr in der roten Stube klopft sie tickend ab.
Dann höre ich was von draußen.
Von dort, wo der Garten ist und der Wald, da ist gar kein Zweifel.
Es ist ein hoher, langer Ton, und ich bin sicher, dass mich der überhaupt erst geweckt hat.
Mal lauter, mal leiser wird der seltsame Ton, dann wieder Stille.
Beim fünften Mal oder so wird mir klar, dass das Geräusch auch seine Tonhöhe ändert, fast wie eine Melodie, oder wie eine Sirene.
Dann ist plötzlich was anders.
Erst verstehe ich nicht was, aber bald drauf merke ich, dass ich nicht mehr vor Angst schwer schnaufen muss, sondern wieder halbwegs normal atmen kann.
Ich suche den ganzen Mut zusammen, den ich unter der Bettdecke finden kann, und stürme mit einem Satz hinaus ins Wohnzimmer, in die Küche, aber überall ist es finster und total verlassen ist es auch.
Die Straßenlaterne ist zu weit weg, sodass ich nicht erkennen kann, ob da heimlich ein Auto gekommen ist und sich eingeparkt hat, damit es uns hinterrücks holen kommt.
Aber ich ahne, dass jetzt alles aus ist.
Das Küchenfenster zeigt mir das Bild vom Garten und es geht nicht anders, ich muss einfach hinschauen.
Im Garten bewegt sich was, und genau von da kommen auch die seltsamen Geräusche.





HHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHH​


Hoffnungsleer schwarz und nass ist das Gras an meinen Füßen, welche schonungslos nackt sind.
Meine Zehen verwandeln sich ziemlich schnell in Eiswürfel.
Obenrum sickert der Wind in mein dünnes Nachthemd hinein und kitzelt mich mit verfrühten Winterfingern frostig am ganzen Körper.
Ich muss einmal ums Haus herumgehen und taste mich vorsichtig an den himmelblauen Wänden entlang, die in der Nacht aber gar keine richtige Farbe haben.
Am Eck bleibe ich stehen. Vorsichtig luge ich nach drüben.
Und wirklich:
Da ist meine Oma.
Da ist meine Mama.
Sie haben auch nur ihre Nachthemden an, aber wenigstens Pantoffeln, während ich barfuß bin.
Ja, wirklich:
Meine Mama und meine Oma stehen in der Nacht, stehen im Garten und müssten eigentlich frieren, aber das tun sie scheinbar nicht.
Zumindest merkt man ihnen nichts an.
Sie lachen. Stehen da und lachen.
Sie lachen wie jemand, der gerade in der Sonne spazieren geht, und dabei schauen sie fast aus wie Gespenster in ihren weißen langen Baumwollhemden mit den pinken und lila Rosen drauf.
Es scheint auch so gar keine Sonne, nur ein bisschen der bleiche Mond.
Wären es nicht meine Mama und meine Oma, hätte ich wohl eine ziemliche Angst.





IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII​


Immerhin dauert es eine Weile, bis sie merken, dass ich da bin.
„Da bist du ja“, sagt Mama, „komm doch herüber, komm her zu uns!“
„Na, bist du endlich aufgewacht?“ fragt Oma.
Ich komm zu ihnen rüber und frage erst mal, was los ist, aber sie lachen bloß immer weiter.
Zur Abwechslung lachen die Zwei mal richtig, und zwar so, als würden sie es ernst meinen.
„Komm, wir tanzen“, sagt Oma schließlich feixend, und wenn meine Füße nicht so taub vor Kälte wären, würde ich glatt meinen, das alles wär bloß ein blöder Traum.
Aber wirklich tanzt meine Oma durch ihren Garten und fasst meine Mama bei der Hand, damit sie auch mittut, und meine Mama fasst mich, ganz in echt, ich kann es fühlen.
Wie die Hexen tanzen wir zu der kleinen Hütte, wie man sie beim Baumarkt kaufen kann und wo das ganze Gartenwerkzeug drin ist, tanzen zur Regentonne und zu den Kellerstufen, die nach unten führen, tanzen in den Keller hinein, wo das Holz und die Spinnweben lagern, und es ist ein Wunder, dass ich mir keinen Schiefer und keinen Nagel eintrete.
Wir tanzen Polonaise wieder zum Keller hinaus, zum großen Nadelbaum und wieder zurück.
Dreimal ums Haus herum, wenn ich richtig gezählt habe, tanzen drei schneeweiße Gespenster über das pechschwarze Gras.
Nach einer Weile höre ich überhaupt ganz auf, meine Füße zu spüren, und ab dem Punkt macht das Tanzen erst so richtig Spaß.
Wir nehmen uns erneut an den Händen, nur Mamas und Mädchen sind wir, und wir drehen uns immer schneller im Kreis, dass ich fast das Gefühl habe, wir heben langsam aber sicher vom Boden ab.
So genau kann ich das auch gar nicht mehr sagen, weil sich ja meine Füße gefühlsmäßig verabschiedet haben.
Obenrum ist mir durch das Herumhüpfen dankenswerterweise wieder warm geworden und jetzt will ich gar nicht mehr aufhören.
Längst habe auch ich angefangen mit Lachen.
Alles ist jetzt anders, alles ist jetzt gut und unser Lachen ist zur Abwechslung wirklich echt.
Das kann natürlich nicht ewig so weitergehen, Oma ist dann doch bald aus der Puste.
Sie stemmt die Arme in die Hüften und keuchhustet ein wenig.
Ich und Mama tänzeln noch ein bisschen weiter, tanzen zu Oma hin, die sich an ihrem Haus festhält, dann stehen wir einfach nur so da, wir drei miteinander.
Wir stehen in unserem Garten in unserer Nacht.
Oma streicht mir über den Kopf, und das tut sie sehr zärtlich.
Als sie fertig ist mit Kopfstreicheln, hält sie etwas in ihrer Faust versteckt.
Omas Faust baumelt vor meinem Gesicht herum und ich frag mich schon.
Nur ganz langsam macht sie die Finger auf, damit es extra spannend bleibt.
Ich staune.
Oma schenkt mir eine blütenreine Feder, die so hellweiß ist, dass meine Augen blinzeln müssen und so unbeschreiblich weich, wer will mir das glauben.
Ich möchte „Danke!“ sagen, aber es geht nicht.
Allein das macht mich plötzlich tränenhaft traurig.
Es bespringt mich das dunkle Gefühl, dass das hier außergewöhnlich wichtig ist, das alles.
Ich will Oma zurückfragen, was nicht stimmt, weil irgendwas stimmt absolut nicht, aber Oma dreht mir einfach den Rücken zu.
Da kann ich dann gar nichts mehr sagen, weil aus Omas Nachthemd sprießen tausend flaumige Federn meinen geblendeten Augen entgegen, und ich verstehe gar nichts mehr.
Manche Federn sind weiß und strahlend, manche glänzen braun und mattgraue gibt es auch.
„Nimm dir ruhig welche!“, sagt Oma über ihre Schulter, aber das traue ich mich dann doch nicht.
Das wäre einfach nicht richtig, obwohl, es sind ja nur Federn und keine Flügel.
Oma hat keine Flügel, nur ein Nachthemd, in dem Federn stecken, es ist wirklich komisch.
Ich glaube nicht, dass Oma jetzt vor meinen Augen in den Himmel fliegen wird.
„Da, schau, ein Vogel!“, ruft jetzt Mama, und noch während ich in die gewiesene Richtung schaue, weiß ich, dass das ein Trick war.
„Aber in der Nacht schlafen die Vögelchen doch“, versuche ich meiner Mama noch zu erklären - denn damit kenne ich mich ein bisschen aus - jedoch ist längst keine Mama mehr da und von Oma schon gar keine Spur.

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