Aussichtslos

Marystein

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Nico machte sich Arbeit. Er war noch müde und hatte dunkle Schatten unter den Augen, da er
länger gearbeitet hatte als ursprünglich geplant und er heute schon wieder früh raus musste.
Doch es ging nun mal nicht anders. Die Kinder hatten Hunger und die Arbeitsbedingungen
waren schlecht. Er bekam nur wenig Geld für harte Arbeit. Seine Frau Maria, wie er selbst aus
Mexiko, versuchte ebenfalls Arbeit zu finden, aber niemand wollte hier in den USA eine
Mexikanerin einstellen. Deshalb musste er selbst auch mehr arbeiten, denn die Kinder
brauchten Klamotten, Essen, sein Sohn Carlos wollte in einen Fußballverein, das Schulgeld,
die Miete, die vielen Rechnungen, das alles wollte bezahlt werden. Nicos einziger Wunsch
war es, dass seine Familie glücklich leben konnte. Doch das war nicht leicht, auch nicht für
die Kinder.
Vor ein paar Tagen war seine Tochter Valeria zu ihm gekommen und hatte ihn ernst
angeguckt. „Papa, sind wir arm?“, hatte sie ihn gefragt und ihn mit ihren großen braunen
Augen angeschaut. Die Frage hatte ihn erschreckt. Valeria war gerade einmal sieben Jahre alt.
„Aber nein, wie kommst du denn darauf?“ „Naja John meinte in der Schule wir wären arm,
weil ich nur ein Paar Turnschuhe habe und unsere Wohnung so klein ist. Und du bist auch
immer sooo oft arbeiten...“ „Prinzessin, wir haben alles was wir brauchen und wir sind
glücklich. Was nützt einem alles Geld der Welt, wenn man nicht glücklich ist?“ Valeria hatte
genickt und war nach draußen zu ihren Freundinnen gegangen.
Aber Nico wusste das seine Tochter Recht hatte, auch wenn er es nicht wahr haben wollte. Sie
waren arm und mit etwas mehr Geld wäre es sicherlich einfacher. Er hätte mehr Zeit für seine
Familie und sie alle wären glücklicher.
Aber jetzt musste er erstmal zur Arbeit.
Der Tag verging und es war bereits spät als Nico endlich die Wohnungstür aufschloss. Mit
einem leisen Knirschen öffnete sie sich und gab den Blick auf einen schmalen Flur frei. Das
Knattern des Ventilators war zuhören, doch es war trotzdem stickig, da halfen weder der
Ventilator noch die geöffneten Fenster. Draußen regte sich kein Lüftchen, nur das Bellen der
Straßenhunde und das gelengtliche Brummen, wenn ein Auto vorbeifuhr, durchbrach die
Stille.
‚Die Stille vor dem Sturm‘, dachte Nico, obwohl es keinen Grund dafür gab. Was sollte schon
passieren?
Valeria drehte sich unruhig in ihrem Bett. Obwohl sie schlief, schien es ihr nicht gut zugehen.
Schweißperlen standen ihr auf der Stirn, während sie sich fest in ihre Decke eingewickelt
hatte und am ganzen Körper zitterte. Maria kniete neben dem Bett strich ihrer Tochter über
die schwarzen Locken, als Nico eintrat. Ihre Miene war angespannt, sie machte sich große
Sorgen. Auch als sie ihren Mann sah, entspannte sich ihr Gesicht nicht.
„Sie ist krank. Ich weiß nicht was sie hat oder was ich dagegen tun kann. Nico wir brauchen
Hilfe.“
Nico wusste das sie recht hatte. Er kam langsam näher, möglichst leise, damit Valeria nicht
aufwachte. Als er sich neben sie aufs Bett setzte, spürte er die Wärme die sie ausstrahlte.
Vorsichtig strich er ihr über den Kopf.
„Du hast Recht Maria. Sie muss zu einem Arzt. Die Praxis an der Ecke sollte noch aufhaben.
Such du schnell das restliche Geld zusammen, die Medikamente werden bestimmt nicht
günstig.“.
Maria stand auf und ging ohne ein Wort zusagen aus dem Zimmer. Nico nahm seine Tochter
auf den Arm, verließ die Wohnung, stieg die Treppen hinunter und trat hinaus in die laue
Sommernacht. Kurze Zeit später kam seine Frau aus der Tür und gemeinsam machten sie sich
auf den Weg zur Arztpraxis.
Der Arzt, Mr. Johnson, untersuchte Valeria gründlich. „Es ist eine schwere Grippe. Viele
haben sie momentan, sie könnte sich überall angesteckt haben. Wenn ihre Tochter keine
Medikamente bekommt, weiß ich nicht ob sie es schaffen wird.“, wandte sich Mr. Johnson an
Nico und seine Frau.

„Und können sie ihr die Medikamente geben?“. Maria klang besorgt.
„Vielleicht. Sie müssen wissen, dass das Medikament in letzter Zeit aufgrund der vielen
Kranken sehr begehrt ist. Dadurch ist der Preis sehr gestiegen.“ Dann nannte er ihnen den
Preis. Nico hatte wirklich schon mit dem schlimmsten gerechnet, aber der Preis den sie
bezahlen sollten, war viel zu hoch. Das konnten sie niemals bezahlen. Der
Arzt interpretierte ihre Gesichter richtig. „Also dann kann ich leider nichts für sie tun. Gute
Nacht“, sagte er und ging einfach.
Nico nahm seine Tochter wieder auf den Arm und gemeinsam verließen er und Maria die
Praxis. Auf dem Heimweg diskutierten sie noch lange über den Preis. Maria war sich sicher,
dass der Arzt bei dem Preis gelogen hatte. Nico stimmte ihr zu. Der Arzt hatte ihnen nicht
helfen wollen, weil sie nicht aus Amerika kamen.
Am nächsten Morgen wachte Nico früh auf. Es war noch relativ kühl, also ging er schnell ins
Bad, duschte schnell, band seine noch nassen, schwarzen Haare im Nacken zu einem Zopf
zusammen und zog seine Arbeitsleidung an.
Kurz bevor er sich auf den Weg machte, schaute er noch nach seiner Tochter. Sie lag in ihrem
Bett uns schlief. Ihre Haare und ihre Kleidung waren nass geschwitzt, ihre Decke lag auf dem
Boden, sie musste sie im Schlaf weggetreten haben. Nico gab ihr einen Abschiedskuss und
schloss leise die Tür hinter sich.
Die Straßen waren noch wie leergefegt, nur eine Katze lief über die Straße. Langsam radelte
Nico auf seinem inzwischen recht klapprigen Fahrrad durch die Stadt zu der außerhalb
stehenden Fabrik, wo er arbeitete.
Seine Kollegen warteten wie jeden Morgen vor der Tür und quatschten noch ein wenig, bis
der Abteilungsleiter kam und ihre Schicht begann. In seiner Abteilung was Nico einer der
jüngsten, die meisten waren deutlich älter als er und arbeiteten schon ihr ganzes Leben in der
Fabrik.
Als Nico an diesem Morgen auf den Parkplatz fuhr, wusste er das etwas anders war als sonst.
Die großen Fabrikhallen beeindruckten ihn sonst immer, doch an diesem Morgen würdigte er
ihnen keines Blickes. Er war in Gedanken noch bei seiner Tochter. Wie sie da lag und sich im
Schlaf herumwälzte, gequält von Fieberträumen.
Wie von selbst marschierte er zum Treffpunkt und erschrak sehr, als einer seiner Kollegen
ihm als Begrüßung auf die Schulter klopfte und ihn so in die Wirklichkeit zurückholte.
„Hey, alles klar Kumpel?“, fragte Alex ihn.
„Ja klar. Meine Tochter liegt nur krank zuhause, aber das wird schon wieder“
Alex war einer seiner besten Freunde. Sie waren ungefähr gleich alt und arbeiten in der Fabrik
nebeneinander. So hatten sie sich auch kennengelernt. Alex war in Amerika geboren und
seine Familie lebte schon Ewigkeiten in Amerika, doch er hasste es wie seine Landsleute mit
Menschen mit anderen Nationalitäten umgingen. Mit der Zeit hatten sie sich angefreundet und
jetzt konnte sich Nico niemand besseren als Arbeitskollegen und Freund vorstellen.
„Wart ihr schon mit ihr beim Arzt?“ „Ja aber erfolglos.“ Nico erzählte Alex von dem Besuch
in später Nacht und wie Mr. Johnson sie abgewiesen hatte. Alex stimmte seiner Vermutung
wegen des Preises zu und war sehr aufgebracht über das Verhalten des Arztes.
Doch er hatte nicht lange Zeit seinem Unmut Luft zu machen, denn da kam schon Thomas
Smith, der Abteilungsleiter, und schloss die Tür auf. Den Vormittag redeten sie nicht mehr
miteinander, dafür war der Abteilungsleiter zu schlecht gelaunt. Und wenn er schlecht gelaunt
war, duldete er keine Gespräche und es war schlauer ihn nicht reizen.
So verging der Vormittag mit eintöniger Arbeit und die Zeit verging für Nico viel zu langsam,
doch dann war endlich nach einer gefühlten Ewigkeit Mittagspause.
In der Kantine ließen sich die Arbeiter ohne große Begeisterung Teller mit dünner
Erbsensuppe geben und verteilten sich an den Tischen.
Nico, Alex und der Rest ihrer Abteilung setzten sich gemeinsam an einen Tisch hinten links,
ihren Stammplatz. Alex lenkte das Gespräch unauffällig, aber bestimmt in Richtung

von Nicos Tochter und dem Vorfall mit dem Arzt. Und wie so oft regte er sich über
diese Ungerechtigkeiten auf und wiederholte das man doch endlich etwas tun müsse. Nico
hörte ihm gar nicht mehr richtig zu, Alex erzählte sowieso immer dasselbe. Inzwischen nervte
es alle am Tisch und darum wurde dieses Thema so gut es ging gemieden.
Plötzlich unterbrach Finn Alex Redefluss: „Du erzählst jedes Mal das gleiche, vielleicht wird
es jetzt endlich Zeit etwas zu unternehmen.“
Alle blickten ihn erstaunt an. Finn sagte sonst nie etwas und hielt sich meist im Hintergrund.
„Was wollen wir denn schon unternehmen? Wir sind doch alle arm wie Kirchenmäuse.“
„Aber...“, protestierte Finn noch einmal. „Nichts aber. Wir sind mittelos. Wir können nichts
machen.“, unterbrach ihn einer der älteren Männer. Den Rest der Mittagspause sagte niemand
mehr was.
Doch als sie zurückgingen, hielt Nico Finn am Ärmel fest. „Hey, warte mal. An was hattest
du gedacht? Die anderen haben schon recht, ohne Geld wird es schwierig irgendetwas zu
unternehmen.“ „Ja aber an Geld lässt sich ja rankommen.", meinte Finn und löste
sein Handgelenk aus Nicos Griff. Nachdenklich folgte Nico ihm zurück in die Halle.
Der Rest des Tages verging langsam, doch als endlich Feierabend war, beschloss Nico noch
mit Finn etwas zutrinken zugehen um mehr aus ihm rauszukriegen. Gemeinsam gingen sie in
eine Kneipe, die nicht weit von der Fabrik entfernt lag.
„Bist du denn wirklich bereit alles zu tun?“, fragte Finn ihn, als er sich noch einmal nach dem
Geld erkundigte. „Ich will nur das meine Familie glücklich leben kann.“ Das war die
Wahrheit und er würde alles dafür tun. „Das ist gut.“ Und dann begann Finn ihm von seinem
Plan zu erzählen. Niemals hätte Nico bei so etwas mitgemacht, doch er hatte die ganze Zeit
das Bild von Valeria im Kopf, wie sie krank dalag und seine frau wie sie daneben saß mit
Tränen in den Augen, und ihm wurde klar, dass es das nicht für seine Familie wollte. Er
atmete noch einmal tief durch und stimmte dem Plan dann zu. Finn gab ihm
alle Informationen über den Ort und die Zeit.
Als er die Kneipe verließ, zitterten seine Knie und ihm wurde klar was er da grade getan hatte.
Er hatte zusammen mit einem Arbeitskollegen etwas geplant was verboten war und was er nie
gedacht hatte einmal zu tun. Doch ihm war auch klar, dass er jetzt keinen Rückzieher mehr
machen konnte. Jetzt musste er erstmal nach Hause. Er kaufte unterwegs noch eine Tafel
Schokolade für Valeria und Kaugummi für Carlos.
Es war schon sehr spät, als Nico Zuhause ankam. Die Kinder schliefen schon längst und auch
Maria schlummerte schon. Leise stellte er die Sachen für die Kinder auf den Küchentisch und
legte sich dann auch schlafen.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, schien draußen bereits die Sonne und einzelne
Strahlen schienen durch die Rollläden hindurch und tauchten das Schlafzimmer in goldenes
Licht. Als er sich zu seiner frau umdrehte, saß sie bereits im Bett und schaute ihn an. Er
wollte etwas sagen, doch kaum hatte er zum „Guten Morgen“ angesetzt, unterbrach ihn Maria
auch schon. „Wo warst du gestern Nacht Nico?“ Das war alles. Kein ‚Guten Morgen‘ oder
‚Wie hast du geschlafen?‘. Ihre Stimme war gefährlich ruhig, sie passte so gar nicht zu ihrem
Gesichtsausdruck, er wusste er musste jetzt genau überlegen was er sagte. „Ich war noch auf
der Arbeit, da musste noch was zu Ende gemacht werden.“ „Ach ja? Ich hab da angerufen.
Mr. Smith hat mir gesagt, dass du pünktlich um 18 Uhr gegangen bist. Ich dachte wir würden
über sowas stehen. Valeria geht es sehr schlecht sie hat dich gestern Abend gebraucht!“ Ihre
Stimme war nicht länger leise, ihre Augen funkelten gefährlich. „Schatz, hör mal...“, wollte
Nico sie beschwichtigen, doch Maria unterbrach in erneut. „Nein Nico, du hörst mir jetzt mal
zu! Deine Tochter hat dich gebraucht und ich auch. Während du dich sonst
wo herumgetrieben hast, saß ich hier und habe mir Sorgen um dich gemacht und jetzt lügst du
mich auch noch an? Also bitte!“, rief sie. „Schatz die Kinder...“
Und da öffnete sich auch schon die Tür und Carlos guckte durch die Tür. „Alles ok bei euch?
Ich hab euch streiten gehört.“

„Ja alles gut. Leg dich doch noch ein bisschen hin und schlaf, es ist doch Sonntag“, sagte
Nico und Carlos schloss die Tür wieder hinter sich.
Den ganzen restlichen Tag war die Stimmung angespannt.
Valeria ging es immer noch nicht besser, das Fieber war zwar etwas zurückgegangen, doch
am Mittag fing sie an zu halluzinieren. Sie sprach die ganze Zeit mit ihrer Großmutter.

Zumindest glaubte sie das. „Papa, schau mal“, sagte sie, „da ist Grams. Und sie hat Zitronen-
bonbons! Darf ich eins? Bitte“

Es brauch Nico das Herz sie so zusehen. Ihre Grams war vor einem Jahr gestorben und weil
Valeria sie sehr liebgehabt hatte, vermisste sie sie auch. Aber er wollte seiner Tochter diese
glücklichen Momente nicht nehmen und sagte deshalb: „Aber natürlich. Geh zu deiner
Grams“ Sie sprang von seinem Arm und lief zu ihrer Grams. konnte. Eine Träne lief Nico die
Wange hinunter, als er beobachtete wie die Kleine mit ihrer toten Großmutter sprach, die nur
in ihrem Kopf existierte.
Den ganzen Tag kümmerte er sich um Valeria, während Maria bei verschiedenen Ärzten
war, um irgendwo doch noch Medikamente für Valeria zubekommen, doch entweder hatte der
Arzt keine passenden Medikamente mehr oder sie waren zu teuer.
Gegen Abend wurden Valerias Halluzinationen schlimmer. Sie sah nicht mehr ihre Grams,
sondern Monster die sie überallhin verfolgten. Nico, Maria, Carlos, sie alle probierten
Valeria zu beruhigen und tatsächlich schlief sie irgendwann ein.
Am nächsten Morgen verließ Nico so früh das Haus, dass noch nicht einmal die Sonne
aufgegangen war, als er durch die Straßen zum vereinbarten Treffpunkt fuhr. Finn erwartete
ihn bereits. Ohne ein Wort zusagen, reichte er ihm eine Waffe. Nico wusste das sie echt war.
„Kannst du damit umgehen?“ Nico musterte kritisch den Revolver in seiner Hand un nickte.
Zusammen machten sie sich auf den Weg zu ihrem Ziel, einer der größten Banken in der
Umgebung. Gemeinsam gingen sie die Stufen hoch und betraten die Bank.
„Wir öffnen erst um acht“, sagte einer der Securitymänner. „Alles zu Boden!“, rief Finn
und hielt seine Pistole schussbereit in der Hand. Doch ehe er reagieren konnte, fiel bereits der
erste Schuss. Der Securitymann hatte auf Nico geschossen, der leblos am Boden lag.
 



 
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