Babylon Tower

Matula

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Wir trafen uns ein letztes Mal in unserem alten Büro und sahen der Sonne beim Untergehen zu. Genau genommen war es nicht "unser" Büro. Wir hatten es vor ein paar Jahren nur samt der Einrichtung gemietet, als wir noch dachten, dass die halbe Welt auf unser Werbedesign abfahren würde. Wir sagten uns, dass der Schlüssel zum Erfolg eines Unternehmens in der totalen Vermarktung seiner Produkte oder Dienstleistungen liegt und wir diese Vermarktung zur technischen Vollendung bringen würden. Zunächst lief alles wie erhofft.

Zwei Kartons standen noch herum. Sie enthielten meine und Chloes persönliche Sachen. Eine Zeitlang wollte sie bei mir wohnen und dann entscheiden, ob sie blieb oder in die USA zurückkehrte. Vasily litt am meisten unter unserem Schiffbruch. Er war nur gekommen, um sich von Oskar zu verabschieden. Dem Ende zu entstand ein Grabenbruch zwischen der männlichen und der weiblichen Hälfte unseres kleinen Unternehmens. Das war nicht gut, aber auch nicht ausschlaggebend. Ausschlaggebend war, dass wir nicht gut genug waren.

Chloe verschaffte uns die ersten Aufträge. Die Amerikaner sind die besten Netzwerker, vor allem im Ausland. Sie nennen jeden "Honey" und lassen ihn nicht mehr aus ihren Klauen. Wir arbeiteten für eine Parfümeriekette, für einen Baumarkt und eine Hagelversicherung. Als Start-up half man uns bei der Gesellschaftsgründung und der Entwicklung eines Businessplans. Ein Steuerberater kümmerte sich um unsere Finanzen, weil wir uns ganz auf unser Hauptgeschäft konzentrieren sollten. Oskar meinte, wir hätten mehr über Sein und Schein nachdenken sollen. Ich weiß nicht. Wir hatten uns ja von Anfang an für eine Arbeit in der Scheinwelt entschieden.

Vasily stand vor dem Panoramafenster, breitete die Arme aus und lehnte sich dagegen. Er wollte uns ein letztes Mal beweisen, dass er seine Höhenangst überwunden hatte. Wir waren uns einig, dass wir dieses Büro vermissen würden. Wenn man im zweiundzwanzigsten Stockwerk arbeitet, glaubt man, arriviert zu sein. Man hält sich für unangreifbar, "too high to fail", wie Chloe einmal scherzhaft formulierte. Oskar war der Überzeugung, nur fernab von Verkehrslärm und Menschengewimmel kreativ arbeiten zu können. Mir persönlich waren die langen Liftfahrten immer unangenehm.

In den ersten Jahren waren wir sehr erfolgreich. Wir wurden mehrmals für den Staatspreis "Werbung und Design" vorgeschlagen und obwohl wir ihn nie gewannen, konnten wir uns über einen Mangel an Aufträgen nicht beklagen. Wir konnten uns sogar leisten, kleinere Aufträge abzulehnen, wenn sie unserem Ansehen in der Branche nicht zuträglich waren. Chloe führte die Verhandlungen mit viel Geschick. Ich glaube, sie machte dabei Andeutungen über ihre Familie in den USA und ließ ein paar Namen von bekannten überseeischen Unternehmen fal. Oskar gefiel das nicht, aber er ließ sie machen.

Vielleicht war es die viele Zeit, die wir in unserem Büro im Babylon Tower verbrachten, vielleicht hatten wir zu wenig Kontakt zu Menschen, die nicht in der Werbung arbeiteten, wie auch immer. Uns entgingen die kleinen schrittweisen Veränderungen, die überall stattfanden. Unsere Auftraggeber wurden sparsamer. Für Servicearbeiten wurden interne Mitarbeiter ausgebildet und eingesetzt. Bei der Überarbeitung von Konzepten wollte man auf Bewährtes setzen, um die Nutzer nicht zu verwirren. Und überhaupt hatte unsere bunte Lebendigkeit ausgedient. Weniger Schnickschnack und mehr Seriosität war gefragt.

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn man allmählich kaltgestellt wird. Man meint zuerst, man irre sich, es müsse eine harmlose Erklärung für die Flaute geben. Dann kommen die Zweifel an den eigenen Fähigkeiten. Oskar hatte sie bis zuletzt. Fast täglich sagte er uns, dass wir besser werden müssten, dass wir uns mehr anstrengen sollten, dass es endlich vorwärts gehen müsse, dass wir wieder unseren Platz in der Reihe der Besten einzunehmen hätten - darin einem Politiker nicht unähnlich. Chloe ließ sich mitreißen. Vasily blieb skeptisch. Er plädierte für Sparmaßnahmen. Unter anderem wollte er unser Büro gegen ein kostengünstigeres eintauschen.

Jetzt saßen wir an unseren leeren Schreibtischen, so als ob alle Arbeit getan wäre. Drei der fünf Büros im zweiundzwanzigsten Stock des Babylon Tower waren schon geräumt. Chloe wollte mit Verweis darauf die Hausverwalter überreden, unsere Miete herabzusetzen. Sie dachten nicht im Traum daran, weil sie von der Rückkehr der alten Zeiten träumten. Oskar erzählte von seinem neuen Job als technischer Berater in der Stadtverwaltung. Er war auf ein Jahr befristet. Danach würde man weitersehen. Seine Freundin wollte gleich nach der Geburt des Kindes wieder arbeiten gehen. Vasily hatte über Vermittlung eines Freundes eine Anstellung bei einem Landsmann gefunden. Er bezeichnete ihn als "Oligarchenschwein", dem er die Post erledigen und die Füße küssen dürfe.

Eine wachsende Zahl unserer Kunden musste Konkurs anmelden, darunter die Parfümeriekette und ein großes Möbelhaus. Die Konsumenten übten sich in Zurückhaltung. Je mehr man ihnen diese und jene Anschaffung ans Herz legte, desto vorsichtiger wurden sie. Auch als man sie auf den Zusammenhang zwischen ihrem Kaufverhalten und ihrem Arbeitsplatz aufmerksam machte, zeigten sie sich ungläubig. In der Parkanlage vor dem Babylon Tower nächtigten immer mehr Obdachlose.

Wir hätten uns mehr um den Lebensmittelhandel und die Arzneimittelhersteller bemühen sollten, meinte Oskar. Selbst am letzten Tag wollte er noch glauben, dass wir es in der Hand gehabt hätten. Auch Chloe hatte sich eine Erklärung zurechtgelegt: In Europa nimmt man zu viel Rücksicht auf alles und jeden, zu viele Vorschriften, zu hohe Abgaben! Immerhin schafften wir es dank Vasily, unsere Schulden in einem überschaubaren Rahmen zu halten.

Die Sonne war untergegangen, nur die rot leuchtenden Wolken verrieten noch ihre Anwesenheit hinter dem Horizont. Wir haben uns nichts vorzuwerfen, sagte ich. Man fädelt sich in den Stoff ein, den man vorfindet, Generation um Generation. Was soll man auch sonst tun? Zum Innehalten ist keine Zeit, weil Innehalten Stillstand bedeutet und Stillstand heißt, ins Hintertreffen zu geraten, abgehängt zu werden, auf der Strecke zu bleiben. So sehen wir immer zu spät, dass die Karawane längst weitergezogen ist. - Adieu, Babylon Tower, wir werden wohl nicht mehr zurückkehren. Die Krähen warten schon, dich in Besitz zu nehmen.
 



 
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