Balance

anghenfil

Mitglied
Schnell setzt er den ersten Fuß auf den schmalen Fenstersims. Hält inne. Versucht die Balance zu halten, auf dem schmalen Steg der Hoffnung. Es folgt der zweite Fuß. Die Hände krallen sich an die Innenseiten des Fensters. Er blickt die schwindelerregende Höhe hinab. Wie hoch war er nur? 10 Meter? 20 Meter? 30 Meter? Hoch genug.
Ein zweiter Blick. Der graue, triste Bürgersteig unter ihm erscheint wie leergefegt. Er hört nichts mehr, der heiße Schweiß tropft ihm von der Stirn. „Ich hätte mich verabschieden sollen“, dröhnt es immer wieder durch seinen Kopf. Er musste an die vielen glücklichen Momente, die sie zusammen erlebt hatten denken, doch sogleich schossen ihm auch die Erinnerungen an die vielen hässlichen Konflikte, die er zur Genüge hatte ertragen müssen durch den Kopf. Dennoch hatte sie sicherlich nicht gewollt, dass das ganze so sein Ende findet.
Seine Augen tränen, seine Knie zittern. Ein dritter Blick. Er muss es tun, er muss jetzt springen! Auf dem Bürgersteig sieht er eine junge Frau, die Hände trichterartig geformt. Ruft sie etwas? Sein Schädel dröhnt, die Schläfen pochen. Verzweifelt versucht er sich zu konzentrieren. Was ruft diese Frau dort unten? Es gelingt ihm nicht. Doch, einige Wortfetzen kann er aufschnappen. "Springen ... Nicht ... Sie sind bald da." Verwirrt blickt er auf die Frau hinab. Aber er muss es doch tun. Er muss es jetzt tun!
Hilflos dreht er den Kopf, blickt zurück auf die Überbleibsel seines bisherigen Lebens. Auf dem nahen Schreibtisch fällt es ihm ins Auge. Schnell steigt er vom Fenstersims herab, zurück in das Zimmer. Beeilung! Er geht zum Schreibtisch, greift die schwarze, lederne Geldbörse und steckt sie wie immer in die Innentasche seiner Jacke. Sein Blick fällt auf das kleine Bild, dass er auf dem sonst karg eingerichteten Schreibtisch aufgestellt hatte. Damals, als noch alles in Ordnung war. Er starrt auf das Bild. Er kann sich nicht lösen, genießt den schmerzlichen Anblick. Er reißt sich los. Er geht zurück. Zurück zum Fenster. Seine Knie zittern nun noch mehr. Wieder steigt er auf den schmalen Fenstersims. Vorsichtig. Wieder tropft ihm der Schweiß von der Stirn. Er riskiert den letzter Blick, spürt die Angst. Doch er springt.
Und landet. Er blickt hinauf. Wenige Meter über sich sieht er sein Zuhause in Flammen aufgehen. Gerade recht.
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo anghenfil, Herzlich willkommen!
Nun habe ich den Text zweimal gelesen – komme aber irgendwie nicht ganz mit. Es klingt nach einem Selbstmord. Eine Frau auf der Strasse blickt zu ihm hinauf und ruft: "Springen ... Nicht ... Sie sind bald da." Da fragte ich mich:
Wer ist bald da?
Dann geht er zurück zum Schreibtisch und steckt die schwarze, lederne Geldbörse ein….
Warum?
Dann, nach dem Springen, blickt er hoch und sieht sein Zuhause in Flammen aufgehen.
Wie das?
Ich würde den Text gern verstehen wollen – vielleicht ein bisschen Hilfe? :)
 



 
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