Zu Gast bei den Beckers
Die Stehparty war vorbei, die Schnittchen waren gegessen, und es ging auf neun Uhr zu. Die vier Gäste mit ihren Ehefrauen machten es sich in den schweren Ledersesseln und auf der Couch in Beckers englisch eingerichtetem Wohnzimmer bequem. Wie bei jedem Geburtstag erwarteten sie von Kriminalhauptkommissar a. D. Rolf Becker, dass er nun einen seiner spektakulären Fälle aus seiner Dienstzeit zum Besten gab. Das Erzählen war – wann immer die Beckers Gäste hatten – zu einer geschätzten Gewohnheit geworden, was nicht nur an den Erzählqualitäten des Gastgebers und seiner bassigen, ruhigen Stimme lag. Hauptgrund waren vielmehr die verzwickten Kriminalfälle, die er zudem immer so schilderte, dass sich seine Zuhörer zum Schluss fragen mussten, wer was wie und warum so und nicht anders getan hatte.
„Ich muss immer tiefer in meinem Gedächtnis graben, um einen interessanten Kriminalfall für euch zu finden“, stapelte er tief. „Mein letzter Fall liegt immerhin schon sieben Jahre zurück. Mein Gott, als Pensionär bekommt man gar nicht mit, wie schnell die Zeit vergeht.“ Er senkte den Kopf, stützte das Kinn mit dem linken Zeigefinger, nahm dabei die Pose eines intensiv Nachdenkenden ein und sagte dann: „Doch! Eine Geschichte habe ich noch aus meiner Zeit, als ich sechs Monate Austausch-Cop beim FBI in den Staaten war. Sie war eine ziemlich gemeine Sache damals, die in der Öffentlichkeit monatelang diskutiert wurde. Leider waren die Umstände ziemlich komplex, und gerade dieser Fall …“
„Rolf, bitte, ich habe mir schon zweimal nachschenken müssen, weil du nicht anfängst. Lass uns doch nicht so lange warten!“, unterbrach ihn Günter Borg, ein Staatsanwalt aus dem Nachbarbezirk, der ein Jahr nach ihm in den Ruhestand gegangen war.
„Ist ja gut, Freunde“, versuchte Becker seine Gäste zu beruhigen und begann zu erzählen:
Wir gehen zurück ins Jahr 2003. Die Hauptbeteiligten in diesem Fall sind zwei junge Männer von 35 und 36 Jahren, die eine Druckerei besaßen. Der Betrieb lief anfangs großartig, in den letzten Jahren aber zusehends schlechter, was eindeutig damit zu tun hatte, dass die beiden Eigentümer ein zu luxuriöses und damit kostspieliges Leben führten, was der Betrieb wenn überhaupt nur mit Ach und Krach verkraftete. In den Jahren nach der Jahrtausendwende kam aber noch eine Erschwernis hinzu: Die beiden Inhaber verschliefen die Digitalisierung der Branche und die Einführung des revolutionären Digitaldruckes. Während die Mitbewerber auf die Übertragung der Daten direkt auf die Druckplatten umstiegen, arbeiteten Marc Feinberg und Dennis Martin weiterhin mit der viel aufwendigeren und fehleranfälligen Herstellung und Montage von Filmen, die auch deutlich mehr Personal erforderte. So manövrierten sie sich zuverlässig in die roten Zahlen.
Um da wieder herauszukommen, mussten sie investieren, aber sie hatten in den letzten Jahren keine finanziellen Reserven mehr bilden können, und die Hypotheken und Kredite waren ausgereizt. Keine Bank riskierte bei der aktuellen Geschäftsentwicklung von Feinberg & Martin auch nur einen Dollar. Es war schlicht unmöglich, weitere Kredite ohne neue Sicherheiten zu bekommen.
Jetzt kam Helen Feinberg ins Spiel. Sie hatte zur Hochzeit vor über zehn Jahren ein Privatvermögen von ihrem Vater, einem Juwelier, in Höhe von eineinhalb Millionen Dollar in Wertpapieren bekommen, über das sie aber nicht einfach so verfügen wollte und konnte.
„Wir brauchen doch nur vierhunderttausend, und wir wollen sie ja auch nicht geschenkt. Du gibst sie uns als Darlehen, und wir zahlen sie in monatlichen Raten zurück. Liebling, gib uns doch diese Chance!“, bettelte Marc sie an, und als ihr steinernes Gesicht sich zu keiner Regung hinreißen ließ, fügte er noch hinzu: „Dann steh du uns wenigstens als Bürge bei, bitte.“
„Dann kann ich euch das Geld auch gleich geben“, fauchte sie. „Du weißt, dass Dad mir die Aktien unter Auflagen anvertraut hat. Die Papiere dienen dazu, mein Leben, das Leben seiner Tochter, abzusichern. Und so, wie ich die Situation einschätzte, tritt dieser „Absicherungsfall“ gerade ein. Warum verkauft ihr die Klitsche nicht einfach?“, fragte sie fordernd. „Fangt was Neues an und macht die gleichen Fehler nicht ein zweites Mal. Oder geht zur Abwechslung mal arbeiten wie andere Leute auch“, gab sie sich altklug und sorgte dafür, dass sich nun auch Marcs Gesicht versteinerte. So endete wohl das letzte längere Gespräch zwischen den beiden nicht gerade einvernehmlich.
Marc überbrachte die schlechte Nachricht seinem Partner.
„Was haben wir noch für Möglichkeiten?“, fragte Dennis und ließ das Eis in seinem Whiskeyglas kreisen.
„Keine. Wir sollten den Laden abstoßen.“
„Wer will so einen runtergewirtschafteten Laden schon kaufen?“
„Fackeln wir ihn ab?“
Dennis erkannte sofort die Realitäten. „Wenn bei dem Kontostand, wie wir ihn zur Zeit haben, ein Gebäude brennt, hockst du schon zu 98 Prozent im Gefängnis. Jeder weiß, dass wir die Bude in Brand gesetzt haben und somit Brandstiftung vorliegt, und danach hast du nicht nur die Polizei mit ihren Spezialisten am Hals, sondern auch noch die Detektive der Versicherungsgesellschaft. Da geht es nur noch darum, dass sie ein paar Indizien finden. Nein, Marc, das können wir nicht riskieren. Lass uns eine Nacht darüber schlafen.“
Sie schliefen drei Nächte darüber, und als Dennis am vierten Tag morgens in die Druckerei kam, hielt ihm Marc die Morgenzeitung vors Gesicht.
„Lies mal!“
Dennis murmelte leise vor sich hin: „… muss es sich um einen oder mehrere professionelle Diebe mit guten Ortskenntnissen handeln. Allein für die letzten beiden Monate werden ihnen 14 Fälle zugeschrieben, zehn im benachbarten Eastwood, vier in Southgate.“„Das ist bei uns, wie du unschwer erkennst.“
Sie schauten sich beide an und wussten, was der andere dachte.
„Aber wie willst du deine Helen bestehlen, Marc? Ein Aktienpaket ist eine Zeile auf einem Depotauszug.“
„Lass mich erklären, was ich mit dieser geizigen Kröte vorhabe.“
Dennis erschrak. Solche Begriffe hatte sein Freund noch nie benutzt, um seine geliebte Helena zu betiteln. Sieht aus, als hätten sie sich richtig heftig in die Haare gekriegt, mutmaßte er.
„Das, liebe Freunde, ist die Vorgeschichte. Wenn mir irgendjemand nochmal nachschenken würde, komme ich zur eigentlichen Tat.
Ingrid, Beckers Ehefrau, schenkte schnell und reichlich nach. Sie kannte den Fall auch noch nicht und war genauso neugierig wie die übrigen Gäste.
Der Hauptkommissar fuhr fort: Was Marc und Dennis genau ausgeheckt haben, haben wir nie herausgefunden. Aber wenn das, was später umgesetzt wurde, ihrem Plan entsprach, war es eine verdammt perfide Sache. Dabei nutzten sie geschickt die Ängste aus, die durch die immer dreister werdenden Diebstähle in der Bevölkerung des Stadtviertels und besonders intensiv bei Helen entstanden waren. Die ganze Sache begann damit, dass sich Marc für das Wochenende verabschiedete.
„Ich werde übers Wochenende nach Hartford fahren und auf die Outdoormesse gehen. Jagen, Fischen, Campen, meine Leidenschaften. Ich bin jedes Jahr da, wie du weißt. Du hast mich doch für die nächsten Tage nicht etwa eingeplant, Helen?“, fragte er ganz unschuldig.
„Nein, fahr ruhig“, kam es zurück. „Du hast ja sonst keine Sorgen“, schob sie ironisch hinterher.
„Und sorg dich nicht wegen der Diebstähle. Da gibt es genug Häuser hier in der Gegend, die bessere Beute versprechen als unser bescheidenes Hüttchen.“ Marc brachte bewusst die Diebeszüge zur Sprache. „Zur Not kannst du ja Dennis anrufen. Er bleibt gern bei dir, wenn es erforderlich ist.“
„Ach, er fährt gar nicht mit?“
„Nein, diesmal nicht. Er sagt, er müsse die Dachrinne am Haus reparieren. Dazu hat er für Samstag Nachmittag zwei Helfer bestellt. Denen wollte er nicht absagen.“
„Wann fährst du?“
„Am Freitag Nachmittag und am Sonntag Mittag zurück.“ Planmäßig griff er in den Zeitungsständer und entnahm die noch ungelesene Morgenzeitung. Mit unschuldiger Miene schlug er sie auf, überflog den Sportteil und legte sie so zusammen, dass die aktuelle Meldung über die Diebesbande oben auflag.
Minuten später sah er, wie Helen im Vorbeigehen die Zeitung aufhob und zu lesen begann. Sie sagte aber kein Wort. Am folgenden Tag packte Marc ein paar Sachen zum Übernachten in seinen Rover und fuhr gegen drei Uhr los.
Der Tag schien ganz normal abzulaufen. Helen ging am Nachmittag in den Supermarkt, um fürs Wochenende einzukaufen. Dann nahm sie sich Zeit für die Körperpflege, und abends um halb acht legte sie sich auf die Couch, kuschelte sich in eine Decke und schaltete den Fernseher ein. Sie zappte sich durchs Vorabendprogramm, und ehe die Nachrichten ausgestrahlt wurden, brachte der Lokalsender eine Sondermeldung zu den Diebstählen, die sie zutiefst beängstigte. Die Recherchen ergaben, dass sie gegen neun Uhr Dennis anrief und ihn bat, zu ihr zu kommen, da sie sich fürchte. Sie wäre froh, wenn er über Nacht bliebe.
Gegen zehn klingelte Dennis an der Haustür, und Helen ließ ihn rein.
„Mir ist gar nicht wohl bei dem Gedanken, dass hier kein Haus mehr sicher ist“, empfing sie ihn. „Danke, dass du gekommen bist.“
„Ist doch selbstverständlich.“
„Lass uns ins Wohnzimmer gehen und einen Drink nehmen. Ich muss erstmal wieder runterkommen. Musst du nicht auch ständig an diese Verbrecher denken?“
„Ein Mann nimmt das gelassener, Helen. Jetzt sind wir ja da – er klopfte mit der Rechten auf seinen Revolver, den er unter der linken Achsel trug -, und niemand wird uns hier aufsuchen. Ihr habt ja keine Kunstsammlung im Haus wie so mancher hier in der Gegend.“
„Metergroße Bilder sind auch nicht das, was ein Dieb nachts aus dem Haus tragen will. Ich schätze, die haben es auf Schmuck und Bargeld abgesehen. Steht ja auch so in der Zeitung.“
Dennis und Helen vertrieben sich die Zeit mit ein paar weiteren Drinks. Um kurz nach elf Uhr verabschiedete sich Helen. Sie war müde und wollte ins Bett. Ohne ihn, wie sie betonte. Aber wie sie so dalag, allein in dem dunklen Schlafzimmer, wollte sie keine Ruhe finden. Nach langem Zögern stand sie auf und weckte Dennis, der auf der Wohnzimmercouch lag und den Eindruck hinterließ, als sei er eingeschlafen.
„Dennis, ich kriege kein Auge zu“, flehte sie. „Würde es dir etwas ausmachen, in meiner Nähe zu bleiben?“
„Natürlich nicht.“ Er richtete sich auf und streifte sich die Decke von den Beinen.
„Komm mit, aber ich kann dich nicht mit unter die Decke nehmen, das verstehst du doch.“ Sie betraten das Schlafzimmer.
„Klar! Würde ich auch nicht machen. Marc ist mein bester Freund. Ich fläze mich in den Sessel und mache die Beine lang. Wäre das okay für dich?“
Helen nickte dankbar. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass heute noch etwas passieren würde. Aber mit Dennis buchstäblich neben sich fühlte sie sich endlich auf der halbwegs sicheren Seite. Trotzdem konnte sie nicht einschlafen. Sie fiel in eine Art Dämmerschlaf, der augenschonend war, aber sonst jeder Entspannung entbehrte.
So dösten beide unruhig bis kurz nach Mitternacht, als sie plötzlich Geräusche an der Haustür hörten. Dann plötzlich ein kurzes Aufblitzen von Licht. Dennis griff ans Halfter und entsicherte seinen Revolver. Helen saß in ihrem weißen Nachthemd kerzengerade wie gelähmt im Bett, was im Restlicht der Nacht geradezu gespenstisch wirkte. Sie starrte auf die angelehnte Tür. Nur wenige Sekunden vergingen, da betrat eine dunkel gekleidete Gestalt ganz langsam, als schien ihr etwas nicht geheuer, das Zimmer und blieb nach nur einem weiteren Schritt stehen.
Dennis schoss.
Die dunkle Gestalt schoss.
Helen war augenblicklich tot.
„Ach, du lieber Gott, ist das schlimm, wenn einem sowas passiert. Überlegt euch doch mal …“, entsetzte sich Anna Militzer, die Frau des Stadtrates. „Was du da so erlebt hast, Rolf, das ist ja schrecklich.“
„Erzähl weiter!“ polterte Johannes, ihr Mann. „Mach weiter, jetzt, wo’s grad so aufregend ist.“
„Ja, liebe Gäste, jetzt wird es erst richtig spannend. Jetzt kommt nämlich die Auflösung. Ihr wollt natürlich wissen, wer die dunkle Gestalt war, die die beiden für einen Einbrecher hielten. Was glaubt ihr wohl?“
Niemand in der Geburtstagsrunde traute sich, etwas zu sagen, obwohl außer dem Ehemann und einem unbekannten Dieb niemand infrage kam.
„Gut, dann will ich‘s verraten. Es war Marc. Ja, ich weiß, das überrascht euch jetzt nicht wirklich: Marc hat seine Frau erschossen.“
Die Ermittlungen ergaben, dass die ganze Sache genau so geplant war, wie sie in Wirklichkeit abgelaufen ist. Marc hat einen Schaden an der Wasserpumpe seines Rover vorgetäuscht. Am späten Nachmittag hatte er eine Werkstatt aufgesucht und angegeben, dass die Wassertemperatur sporadisch auf über 130 Gad ansteige. Mal sei die Temperatur normal, mal schieße sie in die Höhe bis zum Anschlag des Anzeigers – ein unkontrollierbarer Vorgang. Der Mechaniker riet ihm, das Auto abzustellen, um einen Motorschaden zu vermeiden. So fuhr er mit dem Zug zurück, aß unterwegs noch etwas und nahm für den Rest der Strecke ein Taxi, das im Übrigen beim Umwenden den kurzen Lichtschein verursachte, den Dennis und Helen gesehen hatten. Das alles begründe sein spätes Nachhausekommen. Als er das Haus betrat, habe er kein Licht machen wollen, um Helen nicht aufzuwecken, was durchaus plausibel klingt.
Dennis hat ausgesagt, die dunkle Gestalt für einen Einbrecher gehalten zu haben und einen Schuss abgegeben, was in den USA durchaus üblich ist und vom Gesetzgeber nicht geahndet wird. Das Recht, mit einer Schusswaffe sein Hab und Gut und erst recht sein Leben zu verteidigen, ist, wie wir wissen, über dem großen Teich gängige Praxis. Da wird nicht groß nach den Umständen gefragt. Wer unbefugt ein Haus betritt, muss mit einer Kugel rechnen.
Marcs Schuss, der zweite, der abgefeuert wurde, wird rechtlich von der Notwehr gedeckt. Dennis hatte auf ihn gefeuert, Marc zurückgeschossen. Dass Marc dabei aus Versehen bzw. aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse Helen erschossen hat, ist ein bedauernswerter Umstand. Ein Unglück, für das niemand zur Rechenschaft gezogen werden kann.
Ein Beispiel, dass es das perfekte Verbrechen tatsächlich gibt. Der Fall wäre nie aufzuklären gewesen, und Marc hätte in aller Ruhe seine Helen mit ihren eineinhalb Millionen Dollar beerben können, wie es schien. Der Plan war wirklich perfekt. Nur eine Kleinigkeit hatte nicht gestimmt.
Wieso kommt - bei aller Begeisterung für Waffen in den Staaten - der Ehemann nach Hause und betitt mit einer Schusswaffe in der Hand das gemeinsame Schlafzimmer, wo es doch gar keinen Anlass dazu gibt? Marc Feinberg hatte bei der Vernehmung darauf einfach keine plausible Antwort, und sogar seinem Anwalt waren diesbezüglich die Ausreden ausgegangen.
Es gibt aber noch eine Kleinigkeit, die dem Ausgang dieses Falls einen höchst ironischen Anstrich verliehen hat. Marc wusste nämlich nicht, dass Helens Vater in der Schenkungsurkunde eine kleine Hürde eingebaut hatte. Die Klausel lautete: Die Wertpapiere sind nicht übertragbar. Stirbt die Besitzerin eines nicht natürlichen Todes, sind sie an den Schenker rückzuübereignen.
Die Stehparty war vorbei, die Schnittchen waren gegessen, und es ging auf neun Uhr zu. Die vier Gäste mit ihren Ehefrauen machten es sich in den schweren Ledersesseln und auf der Couch in Beckers englisch eingerichtetem Wohnzimmer bequem. Wie bei jedem Geburtstag erwarteten sie von Kriminalhauptkommissar a. D. Rolf Becker, dass er nun einen seiner spektakulären Fälle aus seiner Dienstzeit zum Besten gab. Das Erzählen war – wann immer die Beckers Gäste hatten – zu einer geschätzten Gewohnheit geworden, was nicht nur an den Erzählqualitäten des Gastgebers und seiner bassigen, ruhigen Stimme lag. Hauptgrund waren vielmehr die verzwickten Kriminalfälle, die er zudem immer so schilderte, dass sich seine Zuhörer zum Schluss fragen mussten, wer was wie und warum so und nicht anders getan hatte.
„Ich muss immer tiefer in meinem Gedächtnis graben, um einen interessanten Kriminalfall für euch zu finden“, stapelte er tief. „Mein letzter Fall liegt immerhin schon sieben Jahre zurück. Mein Gott, als Pensionär bekommt man gar nicht mit, wie schnell die Zeit vergeht.“ Er senkte den Kopf, stützte das Kinn mit dem linken Zeigefinger, nahm dabei die Pose eines intensiv Nachdenkenden ein und sagte dann: „Doch! Eine Geschichte habe ich noch aus meiner Zeit, als ich sechs Monate Austausch-Cop beim FBI in den Staaten war. Sie war eine ziemlich gemeine Sache damals, die in der Öffentlichkeit monatelang diskutiert wurde. Leider waren die Umstände ziemlich komplex, und gerade dieser Fall …“
„Rolf, bitte, ich habe mir schon zweimal nachschenken müssen, weil du nicht anfängst. Lass uns doch nicht so lange warten!“, unterbrach ihn Günter Borg, ein Staatsanwalt aus dem Nachbarbezirk, der ein Jahr nach ihm in den Ruhestand gegangen war.
„Ist ja gut, Freunde“, versuchte Becker seine Gäste zu beruhigen und begann zu erzählen:
Wir gehen zurück ins Jahr 2003. Die Hauptbeteiligten in diesem Fall sind zwei junge Männer von 35 und 36 Jahren, die eine Druckerei besaßen. Der Betrieb lief anfangs großartig, in den letzten Jahren aber zusehends schlechter, was eindeutig damit zu tun hatte, dass die beiden Eigentümer ein zu luxuriöses und damit kostspieliges Leben führten, was der Betrieb wenn überhaupt nur mit Ach und Krach verkraftete. In den Jahren nach der Jahrtausendwende kam aber noch eine Erschwernis hinzu: Die beiden Inhaber verschliefen die Digitalisierung der Branche und die Einführung des revolutionären Digitaldruckes. Während die Mitbewerber auf die Übertragung der Daten direkt auf die Druckplatten umstiegen, arbeiteten Marc Feinberg und Dennis Martin weiterhin mit der viel aufwendigeren und fehleranfälligen Herstellung und Montage von Filmen, die auch deutlich mehr Personal erforderte. So manövrierten sie sich zuverlässig in die roten Zahlen.
Um da wieder herauszukommen, mussten sie investieren, aber sie hatten in den letzten Jahren keine finanziellen Reserven mehr bilden können, und die Hypotheken und Kredite waren ausgereizt. Keine Bank riskierte bei der aktuellen Geschäftsentwicklung von Feinberg & Martin auch nur einen Dollar. Es war schlicht unmöglich, weitere Kredite ohne neue Sicherheiten zu bekommen.
Jetzt kam Helen Feinberg ins Spiel. Sie hatte zur Hochzeit vor über zehn Jahren ein Privatvermögen von ihrem Vater, einem Juwelier, in Höhe von eineinhalb Millionen Dollar in Wertpapieren bekommen, über das sie aber nicht einfach so verfügen wollte und konnte.
„Wir brauchen doch nur vierhunderttausend, und wir wollen sie ja auch nicht geschenkt. Du gibst sie uns als Darlehen, und wir zahlen sie in monatlichen Raten zurück. Liebling, gib uns doch diese Chance!“, bettelte Marc sie an, und als ihr steinernes Gesicht sich zu keiner Regung hinreißen ließ, fügte er noch hinzu: „Dann steh du uns wenigstens als Bürge bei, bitte.“
„Dann kann ich euch das Geld auch gleich geben“, fauchte sie. „Du weißt, dass Dad mir die Aktien unter Auflagen anvertraut hat. Die Papiere dienen dazu, mein Leben, das Leben seiner Tochter, abzusichern. Und so, wie ich die Situation einschätzte, tritt dieser „Absicherungsfall“ gerade ein. Warum verkauft ihr die Klitsche nicht einfach?“, fragte sie fordernd. „Fangt was Neues an und macht die gleichen Fehler nicht ein zweites Mal. Oder geht zur Abwechslung mal arbeiten wie andere Leute auch“, gab sie sich altklug und sorgte dafür, dass sich nun auch Marcs Gesicht versteinerte. So endete wohl das letzte längere Gespräch zwischen den beiden nicht gerade einvernehmlich.
Marc überbrachte die schlechte Nachricht seinem Partner.
„Was haben wir noch für Möglichkeiten?“, fragte Dennis und ließ das Eis in seinem Whiskeyglas kreisen.
„Keine. Wir sollten den Laden abstoßen.“
„Wer will so einen runtergewirtschafteten Laden schon kaufen?“
„Fackeln wir ihn ab?“
Dennis erkannte sofort die Realitäten. „Wenn bei dem Kontostand, wie wir ihn zur Zeit haben, ein Gebäude brennt, hockst du schon zu 98 Prozent im Gefängnis. Jeder weiß, dass wir die Bude in Brand gesetzt haben und somit Brandstiftung vorliegt, und danach hast du nicht nur die Polizei mit ihren Spezialisten am Hals, sondern auch noch die Detektive der Versicherungsgesellschaft. Da geht es nur noch darum, dass sie ein paar Indizien finden. Nein, Marc, das können wir nicht riskieren. Lass uns eine Nacht darüber schlafen.“
Sie schliefen drei Nächte darüber, und als Dennis am vierten Tag morgens in die Druckerei kam, hielt ihm Marc die Morgenzeitung vors Gesicht.
„Lies mal!“
Dennis murmelte leise vor sich hin: „… muss es sich um einen oder mehrere professionelle Diebe mit guten Ortskenntnissen handeln. Allein für die letzten beiden Monate werden ihnen 14 Fälle zugeschrieben, zehn im benachbarten Eastwood, vier in Southgate.“„Das ist bei uns, wie du unschwer erkennst.“
Sie schauten sich beide an und wussten, was der andere dachte.
„Aber wie willst du deine Helen bestehlen, Marc? Ein Aktienpaket ist eine Zeile auf einem Depotauszug.“
„Lass mich erklären, was ich mit dieser geizigen Kröte vorhabe.“
Dennis erschrak. Solche Begriffe hatte sein Freund noch nie benutzt, um seine geliebte Helena zu betiteln. Sieht aus, als hätten sie sich richtig heftig in die Haare gekriegt, mutmaßte er.
„Das, liebe Freunde, ist die Vorgeschichte. Wenn mir irgendjemand nochmal nachschenken würde, komme ich zur eigentlichen Tat.
Ingrid, Beckers Ehefrau, schenkte schnell und reichlich nach. Sie kannte den Fall auch noch nicht und war genauso neugierig wie die übrigen Gäste.
Der Hauptkommissar fuhr fort: Was Marc und Dennis genau ausgeheckt haben, haben wir nie herausgefunden. Aber wenn das, was später umgesetzt wurde, ihrem Plan entsprach, war es eine verdammt perfide Sache. Dabei nutzten sie geschickt die Ängste aus, die durch die immer dreister werdenden Diebstähle in der Bevölkerung des Stadtviertels und besonders intensiv bei Helen entstanden waren. Die ganze Sache begann damit, dass sich Marc für das Wochenende verabschiedete.
„Ich werde übers Wochenende nach Hartford fahren und auf die Outdoormesse gehen. Jagen, Fischen, Campen, meine Leidenschaften. Ich bin jedes Jahr da, wie du weißt. Du hast mich doch für die nächsten Tage nicht etwa eingeplant, Helen?“, fragte er ganz unschuldig.
„Nein, fahr ruhig“, kam es zurück. „Du hast ja sonst keine Sorgen“, schob sie ironisch hinterher.
„Und sorg dich nicht wegen der Diebstähle. Da gibt es genug Häuser hier in der Gegend, die bessere Beute versprechen als unser bescheidenes Hüttchen.“ Marc brachte bewusst die Diebeszüge zur Sprache. „Zur Not kannst du ja Dennis anrufen. Er bleibt gern bei dir, wenn es erforderlich ist.“
„Ach, er fährt gar nicht mit?“
„Nein, diesmal nicht. Er sagt, er müsse die Dachrinne am Haus reparieren. Dazu hat er für Samstag Nachmittag zwei Helfer bestellt. Denen wollte er nicht absagen.“
„Wann fährst du?“
„Am Freitag Nachmittag und am Sonntag Mittag zurück.“ Planmäßig griff er in den Zeitungsständer und entnahm die noch ungelesene Morgenzeitung. Mit unschuldiger Miene schlug er sie auf, überflog den Sportteil und legte sie so zusammen, dass die aktuelle Meldung über die Diebesbande oben auflag.
Minuten später sah er, wie Helen im Vorbeigehen die Zeitung aufhob und zu lesen begann. Sie sagte aber kein Wort. Am folgenden Tag packte Marc ein paar Sachen zum Übernachten in seinen Rover und fuhr gegen drei Uhr los.
Der Tag schien ganz normal abzulaufen. Helen ging am Nachmittag in den Supermarkt, um fürs Wochenende einzukaufen. Dann nahm sie sich Zeit für die Körperpflege, und abends um halb acht legte sie sich auf die Couch, kuschelte sich in eine Decke und schaltete den Fernseher ein. Sie zappte sich durchs Vorabendprogramm, und ehe die Nachrichten ausgestrahlt wurden, brachte der Lokalsender eine Sondermeldung zu den Diebstählen, die sie zutiefst beängstigte. Die Recherchen ergaben, dass sie gegen neun Uhr Dennis anrief und ihn bat, zu ihr zu kommen, da sie sich fürchte. Sie wäre froh, wenn er über Nacht bliebe.
Gegen zehn klingelte Dennis an der Haustür, und Helen ließ ihn rein.
„Mir ist gar nicht wohl bei dem Gedanken, dass hier kein Haus mehr sicher ist“, empfing sie ihn. „Danke, dass du gekommen bist.“
„Ist doch selbstverständlich.“
„Lass uns ins Wohnzimmer gehen und einen Drink nehmen. Ich muss erstmal wieder runterkommen. Musst du nicht auch ständig an diese Verbrecher denken?“
„Ein Mann nimmt das gelassener, Helen. Jetzt sind wir ja da – er klopfte mit der Rechten auf seinen Revolver, den er unter der linken Achsel trug -, und niemand wird uns hier aufsuchen. Ihr habt ja keine Kunstsammlung im Haus wie so mancher hier in der Gegend.“
„Metergroße Bilder sind auch nicht das, was ein Dieb nachts aus dem Haus tragen will. Ich schätze, die haben es auf Schmuck und Bargeld abgesehen. Steht ja auch so in der Zeitung.“
Dennis und Helen vertrieben sich die Zeit mit ein paar weiteren Drinks. Um kurz nach elf Uhr verabschiedete sich Helen. Sie war müde und wollte ins Bett. Ohne ihn, wie sie betonte. Aber wie sie so dalag, allein in dem dunklen Schlafzimmer, wollte sie keine Ruhe finden. Nach langem Zögern stand sie auf und weckte Dennis, der auf der Wohnzimmercouch lag und den Eindruck hinterließ, als sei er eingeschlafen.
„Dennis, ich kriege kein Auge zu“, flehte sie. „Würde es dir etwas ausmachen, in meiner Nähe zu bleiben?“
„Natürlich nicht.“ Er richtete sich auf und streifte sich die Decke von den Beinen.
„Komm mit, aber ich kann dich nicht mit unter die Decke nehmen, das verstehst du doch.“ Sie betraten das Schlafzimmer.
„Klar! Würde ich auch nicht machen. Marc ist mein bester Freund. Ich fläze mich in den Sessel und mache die Beine lang. Wäre das okay für dich?“
Helen nickte dankbar. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass heute noch etwas passieren würde. Aber mit Dennis buchstäblich neben sich fühlte sie sich endlich auf der halbwegs sicheren Seite. Trotzdem konnte sie nicht einschlafen. Sie fiel in eine Art Dämmerschlaf, der augenschonend war, aber sonst jeder Entspannung entbehrte.
So dösten beide unruhig bis kurz nach Mitternacht, als sie plötzlich Geräusche an der Haustür hörten. Dann plötzlich ein kurzes Aufblitzen von Licht. Dennis griff ans Halfter und entsicherte seinen Revolver. Helen saß in ihrem weißen Nachthemd kerzengerade wie gelähmt im Bett, was im Restlicht der Nacht geradezu gespenstisch wirkte. Sie starrte auf die angelehnte Tür. Nur wenige Sekunden vergingen, da betrat eine dunkel gekleidete Gestalt ganz langsam, als schien ihr etwas nicht geheuer, das Zimmer und blieb nach nur einem weiteren Schritt stehen.
Dennis schoss.
Die dunkle Gestalt schoss.
Helen war augenblicklich tot.
„Ach, du lieber Gott, ist das schlimm, wenn einem sowas passiert. Überlegt euch doch mal …“, entsetzte sich Anna Militzer, die Frau des Stadtrates. „Was du da so erlebt hast, Rolf, das ist ja schrecklich.“
„Erzähl weiter!“ polterte Johannes, ihr Mann. „Mach weiter, jetzt, wo’s grad so aufregend ist.“
„Ja, liebe Gäste, jetzt wird es erst richtig spannend. Jetzt kommt nämlich die Auflösung. Ihr wollt natürlich wissen, wer die dunkle Gestalt war, die die beiden für einen Einbrecher hielten. Was glaubt ihr wohl?“
Niemand in der Geburtstagsrunde traute sich, etwas zu sagen, obwohl außer dem Ehemann und einem unbekannten Dieb niemand infrage kam.
„Gut, dann will ich‘s verraten. Es war Marc. Ja, ich weiß, das überrascht euch jetzt nicht wirklich: Marc hat seine Frau erschossen.“
Die Ermittlungen ergaben, dass die ganze Sache genau so geplant war, wie sie in Wirklichkeit abgelaufen ist. Marc hat einen Schaden an der Wasserpumpe seines Rover vorgetäuscht. Am späten Nachmittag hatte er eine Werkstatt aufgesucht und angegeben, dass die Wassertemperatur sporadisch auf über 130 Gad ansteige. Mal sei die Temperatur normal, mal schieße sie in die Höhe bis zum Anschlag des Anzeigers – ein unkontrollierbarer Vorgang. Der Mechaniker riet ihm, das Auto abzustellen, um einen Motorschaden zu vermeiden. So fuhr er mit dem Zug zurück, aß unterwegs noch etwas und nahm für den Rest der Strecke ein Taxi, das im Übrigen beim Umwenden den kurzen Lichtschein verursachte, den Dennis und Helen gesehen hatten. Das alles begründe sein spätes Nachhausekommen. Als er das Haus betrat, habe er kein Licht machen wollen, um Helen nicht aufzuwecken, was durchaus plausibel klingt.
Dennis hat ausgesagt, die dunkle Gestalt für einen Einbrecher gehalten zu haben und einen Schuss abgegeben, was in den USA durchaus üblich ist und vom Gesetzgeber nicht geahndet wird. Das Recht, mit einer Schusswaffe sein Hab und Gut und erst recht sein Leben zu verteidigen, ist, wie wir wissen, über dem großen Teich gängige Praxis. Da wird nicht groß nach den Umständen gefragt. Wer unbefugt ein Haus betritt, muss mit einer Kugel rechnen.
Marcs Schuss, der zweite, der abgefeuert wurde, wird rechtlich von der Notwehr gedeckt. Dennis hatte auf ihn gefeuert, Marc zurückgeschossen. Dass Marc dabei aus Versehen bzw. aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse Helen erschossen hat, ist ein bedauernswerter Umstand. Ein Unglück, für das niemand zur Rechenschaft gezogen werden kann.
Ein Beispiel, dass es das perfekte Verbrechen tatsächlich gibt. Der Fall wäre nie aufzuklären gewesen, und Marc hätte in aller Ruhe seine Helen mit ihren eineinhalb Millionen Dollar beerben können, wie es schien. Der Plan war wirklich perfekt. Nur eine Kleinigkeit hatte nicht gestimmt.
Wieso kommt - bei aller Begeisterung für Waffen in den Staaten - der Ehemann nach Hause und betitt mit einer Schusswaffe in der Hand das gemeinsame Schlafzimmer, wo es doch gar keinen Anlass dazu gibt? Marc Feinberg hatte bei der Vernehmung darauf einfach keine plausible Antwort, und sogar seinem Anwalt waren diesbezüglich die Ausreden ausgegangen.
Es gibt aber noch eine Kleinigkeit, die dem Ausgang dieses Falls einen höchst ironischen Anstrich verliehen hat. Marc wusste nämlich nicht, dass Helens Vater in der Schenkungsurkunde eine kleine Hürde eingebaut hatte. Die Klausel lautete: Die Wertpapiere sind nicht übertragbar. Stirbt die Besitzerin eines nicht natürlichen Todes, sind sie an den Schenker rückzuübereignen.