Begegnung

Haki

Mitglied
Langsam brach die Nacht herein. Der wärmende Tag wurde von einem kühlen Schatten verdrängt, der sich über das Dorf legte. Allmählich verstummten die täglichen Geräusche. Es wurde still.
Eigentlich hätte der Junge längst zu Hause sein müssen, doch heute war etwas anders. Nur wenige Straßen entfernt brannte in einem der Bauerngüter noch Licht. Er rannte ihm entgegen, kam an einzelnen herunter gekommenen Gebäuden vorbei, bis er schließlich das Gut erreichte. Vorsichtig schlich er sich der Wand entlang. Unter einem der Fenster, aus denen das Licht drang, stoppte er kurz und versuchte, die Stimmen zu verstehen, die aufgeregt an seine Ohren drang. Eine Frau unterhielt sich mit einem älteren Mann. Sie schienen bestohlen worden zu sein. Das klang interessant.
Der Junge schlich weiter bis an das Ende der Hausseite. Dann rannte er geduckt ein paar Schritte durch die Dunkelheit und fand sich im Schatten der Scheune wieder. Er presste sich gegen die Holzwand und hielt kurz inne, horchte. Hatte ihn jemand bemerkt? Es schien nicht so. Er entspannte sich und wollte gerade weiter gehen, als ein Geräusch ihn zusammen zucken ließ. Es war ein Schluchzen. Nicht sonderlich laut, aber es schien direkt von der Innenseite des Speichers zu kommen. Da war jemand drin. Der Junge schluckte. Was macht jemand bei völliger Dunkelheit in einer Scheune? Es dauerte einen Moment, dann gab er sich einen sichtbaren Ruck und schlich zum Eingang des Kornspeichers. Er ging noch um eine Ecke, da stand er auch schon vor dem morschen Tor. Erneut blieb er stehen und lauschte. Die Stimmen aus dem Bauernhaus waren leiser geworden. Ein leichter Wind wehte durch das Laub der umstehenden Bäume und ließ die Blätter tanzen. Dann konzentrierte er sich auf das Innere des Speichers. Er vernahm ein Rascheln - welches wohl von Mäusen stammte - und nach wie vor ein leises Schluchzen. Da war eindeutig jemand in der Scheune und er musste herausfinden, wer.

Der Junge strich sich nervös eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen und drückte vorsichtig gegen das alte Tor, welches geräuschvoll nach innen aufschwang. Der Junge spähte hinein in völlige Dunkelheit. Die einzige Lichtquelle war der Mond, der jedoch von dichten Wolken verschlungen wurde und somit sein kostbares Licht für sich behielt.
"Hallo?", fragte er vorsichtig in das Dunkel hinein. "Ist da jemand?" Keine Antwort. Vor ihm raschelte wieder etwas. Der Junge schluckte, dann trat er einen Schritt in die Scheune, eine Hand noch fest den alten Türgriff umklammernd. Gerade wollte er einen zweiten Schritt wagen, da vernahm er plötzlich kein Schluchzen mehr, sondern ein Knurren. Es klang jung, aber dennoch bedrohlich. Vielleicht ein Wolf?
"Du musst keine Angst haben." Die Stimme des Jungen zitterte leicht. "Ich tue dir nichts." Das Knurren verschwand, eine Nase wurde hochgezogen, dann setzte es wieder ein. Nach einem kurzen Moment drang eine Stimme aus dem Dunkel.
"Lass mich in Ruhe.", knurrte sie den Jungen an, welcher sich immer noch nicht vom Fleck rührte.
"Du sprichst?" Er war nun mehr erstaunt, als nervös. Ein sprechender Wolf? Wer oder was war das vor ihm in der Dunkelheit? Vorsichtig startete er einen nächsten Annäherungsversuch.
"Wenn du sprichst, dann verstehst du mich.", sagte er. "Ich bin Nairo und wie heißt du?" Er lächelte. Als wolle der Mond seine Worte zusätzlich unterstreichen, schien er die schwarzen Wolken zu verbannen und ließ einen schwachen Lichtschein in der Scheune erkennen. Man sah das Lächeln des Jungen.
Einen kurzen Augenblick später verstummte das Knurren. Ein Augenpaar blitzte im Dunkeln auf, dann vernahm man ein leises Rascheln.
"Geh weg. Verschwinde.", sprach der Fremde nun mehr traurig als bedrohlich.
"Du musst keine Angst haben.", wiederholte Nairo nun mit ruhiger Stimme. Dann atmete er tief durch, ließ das Tor los und trat ein. Vor ihm raschelte es erneut. Als er nur noch zwei Schritte von der Stimme entfernt war, sagte diese nervös: "Komm nicht näher." Der Junge stoppte und setzte sich im Schneidersitz in das Stroh zu seinen Füßen. Dann blickte er die Gestalt vor sich an, die an der Wand der Scheune saß und in ein graues Gewand gehüllt zu sein schien. Nairo konnte nicht viel erkennen, nur zwei Augen, welche ihn misstrauisch und ängstlich anblickten. Nach einem weiteren Moment des Mustern erkannte der Junge, dass diese Augen einem Wolfskopf zu gehören schienen und keineswegs dem eines Menschen. Also doch ein sprechender Wolf?
"Bist du ein Mensch?", platzte es plötzlich erstaunt aus Nairo heraus. Er hatte so jemanden noch nie gesehen.
Anstatt zu antworten, senkte sein Gegenüber nur den Blick und zog sich die Kapuze tiefer ins gesicht. Dann erklang ein erneutes leises Schluchzen.
"Oh ich... es tut mir Leid.", hörte sich der Junge stammeln. "Ich wollte nicht..." Dieser Versuch war gescheitert. Er seufzte. Dann versuchte er, sich im Dunkeln etwas umzusehen, jedoch vergebens. Er musterte sein Gegenüber ein weiteres Mal, erkannte jedoch nur das Gewand, welches fast seinen kompletten Körper einhüllte. Sein Blick wanderte zu Boden. Von da vernahm er das ständige leise Rascheln. Etwas bewegte sich da. Eine Schlange? Er kniff die Augen zusammen. Nein. Das war ein Schwanz? Ein Echsenschwanz. Er wollte den Blick abwenden, da bemerkte er die Füße des Jungen. Es waren Klauen mit kleinen, aber scharfen Krallen daran. Das war definitiv kein Mensch vor ihm im Stroh.
Nairo behielt seine Erkenntnis jedoch für sich und überlegte kurz. Schließlich fragte er: "Bist du hungrig?" Aus seiner braunen Jacke holte er zwei kleine Äpfel hervor. Einen davon reichte er seinem Gegenüber hin.
"Hier nimm. Die habe ich für schlechte Zeiten aufgehoben." Er grinste.
Die Gestalt hob den Kopf und sah erst den Apfel, dann Nairo durchdringend an. Nach kurzem Zögern nahm er ihm den Apfel mit beiden Händen - Klauen - vorsichtig ab. Dann sah er ihn noch einmal eingehend an und biss schließlich hungrig hinein. Nairo tat es ihm gleich. Eine Zeit lang aßen sie schweigend, dann murmelte die Gestalt ein "Danke" und der Junge grinste erneut.

Nachdem sie gegessen hatten, fügte er noch leise hinzu: "Ich heiße Kaysha."
"Kaysha", wiederholte Nairo. Er überlegte kurz. "So einen Namen habe ich noch nie gehört."
Der verhüllte Junge nickte knapp. "Es ist kein Menschenname." Er wurde mit jedem Wort leiser.
"Kein Menschenname?" Nairo sah wieder auf den Echsenschwanz, dann auf die scharfen Krallen an Händen und Füßen. "Zu welchem Volk gehörst du?"
"Jakesh", murmelte Kaysha als Antwort. Als keine Reaktion seines Gegenübers kam, meinte er leise: "Die Jakesh sind das Echsenvolk aus der Eiswüste."
"Ach so", erinnerte er sich. "Ich habe Geschichten über die Echsen gehört, aber ich hätte nie gedacht, dass es sie wirklich gibt." Eine kurze Pause, dann folgte: "Aber wieso bist du hier?"
Keine Antwort. Das Rascheln hatte aufgehört. Mit einem unterdrückten Schluchzen sprach der Junge: "Das geht dich nichts an."
"Entschuldige, ich wollte dir nicht zu..."
"Lass mich in Ruhe!", unterbrach Kaysha ihn. "Musst du dich nicht um deine eigenen Sachen kümmern?"
"Hee, was habe ich denn falsches gesagt?", verteidigte sich Nairo. "Ich will dir doch nur helfen."
"Ich brauche keine Hilfe von Menschen.", knurrte Kaysha zurück. Im selben Atemzug sprang er auf, stieß den Jungen zur Seite, noch ehe diesem bewusst wurde, was geschah, und rannte aus der Scheune.
"Hee, warte!", rief dieser ihm hinterher. Fluchend richtete er sich wieder auf, drehte sich um und folgte dem jungen Jakesh so schnell er konnte in den nahegelegenen Wald.
 



 
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