Begegnung am Brandenburger Tor

Ich war gerade auf dem Weg, mir einen Kaffee zu kaufen. Es war kurz vor Mittagszeit, da kaufte ich mir immer einen Kaffee. Immer zwischen der letzten Vorlesung am Vormittag und dem Mittagessen in der Studentenmensa, wenn ich schon langsam müde wurde. Und der Kaffee in der Mensa schmeckte scheußlich, doch keinen halben Kilometer weiter von meiner Musikhochschule, direkt am Brandenburger Tor, gab es immer den besten Kaffee in ganz Ostberlin. Also taumelte ich verschlafen unter den Linden entlang. Ich hatte die vorige Nacht kein Auge zugedrückt, weil ich für eine Seminararbeit lernen musste. Dazu stand noch bis übermorgen ein Aufsatz über eine musikalische Reise zu „Die Leiden des jungen Werther“ von Goethe an. Dieses unsägliche Stück in vierzehn Sätzen hat, wer sollte es auch sonst sein, mein lieber Professor Sommer geschrieben. Der uns, wie immer, durch seine zeitgenössischen Trommelfellstrapazen jagen musste. Im Moment war ich mit meiner Analyse bei der musikalischen Intervention des Abschiedsbriefes des jungen Werther. Ich wusste, Sommer liebte es, im Hintergrund seiner Stücke leise Details zu verstecken. So fiel mir erst nach achtmaligem Hören auf, dass unter dem elfminütigen Paukensolo im letzten Satz eine Gambe „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ spielte. So ging ich also mit meinem Buch Richtung Brandenburger Tor und blickte ein wenig in der Gegend herum, als ich kurz darauf mit einem Mann zusammenstieß. Er war ganz in graublau gekleidet; graublauer Mantel, graublauer Hut; graublaue Hose. Einen starken Kontrast zu dieser Wüste in Graublau bildeten seine hellbraunen Lederschuhe. Allgemein sah er recht gepflegt aus. Seine Kleidung war sauber und sein Bart frisch rasiert, doch sein Blick wüst und starr. Ein bisschen wie Professor Sommer guckte, nur noch bitterer. „Es tut mir Leid.“, sagte ich beschämt. Sein Blick ließ mich nicht los. „Entschuldigung“, fügte ich hinzu. Er starrte mir immernoch tadelnd in die Augen. „Keine Ursache.“, sagte er. Doch nicht finster, wie sein Gesichtsausruck, sondern freundlich. Dennoch behielt er immernoch seinen starrer Blick. Es war wohl sein ständiges Gesicht, das sich durch nichts und niemanden ändern wollte. Er sah auf das Buch, das ich in den Händen hielt. „Die Leiden des jungen Werther; Goethe, 1774, nicht?“ „J-ja.“, stammelte ich verwundert. Meine Hand verdeckte den Titel, er erkannte das Buch allein am Portrait auf dem Buchcover; und das es von 1774 ist, stand nicht einmal dort. „Sie haben Geschmack. Ich lese inzwischen nur noch Literatur von 1774.“, merkte er an. „Was schätzen sie denn so an der Weimarer Klassik?“, fragte ich, und versuchte, so intelektuell wie möglich zu klingen. „Oh nein, nicht die gesamte Weimarer Klassik, nur die Literatur von 1774!“, sagte er. Für einen Moment sah ich ihn verwundert an. „Und von 1773?“ „Da war man noch nicht so weit!“ „1775?“ „Überdramatisierendes Romanzengeschwafel.“ Ich konnte es nicht glauben. „Also nur 1774?“, fragte ich zweifelnd. „1774 ist das Jahr der wertvollen Literatur!“, antwortete er in einem prahlenden Ton. Nun interessierte mich dieser Mann sehr. Ich fragte ihn: „Was machen Sie denn beruflich?“ Das erste mal änderte sich nun sein Blick; in seinem Gesichtsausdruck bahnten sich tausend Erinnerungen und Geschichten an. Ein Gesichtsausdruck, wie ihn ein Wüstenwanderer hat, wenn er nach Tagesmärschen wieder eine Oase sieht. Er begann sofort zu erzählen: „Ich brach die Oberstufe in der Elften ab. Das war kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag. Ich zog los, um mir einen Traum zu erfüllen: Einen Doktortitel zu bekommen. Ich wollte vorerst in Chemie promovieren, doch entschied mich letztendlich für Architekturgeschichte. Studieren wäre mir zu lästig gewesen, doch man kann theoretisch auch ohne Studium promovieren; und das war mein Plan. Also ging ich mit ein wenig Geld, das ich mir beim Ferienjobben in der Jugend verdient hatte nach Australien und begann dort meine Doktorarbeit zu schreiben. Das Thema, das ich mir ausgesucht hatte, war: Der Einfluss von norddeutscher Backsteingothik auf australische Opernhäuser. Zwar wollte mir kein Doktorvater diese Arbeit abnehmen, doch ich dachte, wenn sie erstmal fertig wäre, würden sich die Professoren nur darum reißen, mit mir und meinem Werk zu prahlen. So forschte ich in Sydney, Perth, Melbourne und notierte meine Forschungen auf über 300 Seiten!“ „Und?“, fragte ich. Er antwortete in leichter Peinlichkeit, doch dem Willen seinen stolz aufrecht zu erhalten: „Die Ergebnisse meiner Forschungen: Es gibt keinen Zusammenhang; und leider wollte mir niemand diese Doktorarbeit abnhemen. Deren Schuld!“ „Was haben Sie dann gemacht?“, fragte ich. Seine Lebensgeschichte erschien mir immer spannender. „Ich zog zurück zu meinen Eltern nach Deutschland. Ich brauchte ein neues Projekt, mit dem ich in die Berufswelt eintreten konnte. Ich las etliche Literatur aus dem Jahre 1774, doch selbst das konnte mich zu keinem Projekt inspirieren. So fing ich an, von der Literatur zur Theologie zu wechseln; um genauer zu sein, interessierte ich mich besonders für Kirchengeschichte. Ich las den Briefverkehr der Auseinandersetzungen zwischen Huldrych Zwingli und den Täufern. Da kam mir eine neue Idee: Ich wollte diese Briefe in einem Opernring vertonen.“ In diesem Moment musste ich mir ein Lächeln verkneifen. Er erzählte weiter: „Zuerst musste ich eine Besetzung für das Orchester festlegen. Da habe ich mich für drei Klaviere, ein Cembalo, ein Tamborin, ein Saxofon und vier Gamben entschieden.“ Bei den Gamben musste ich wieder an Professor Sommer denken; und daran, dass ich bald wieder zur Fachhochschule zurückmusste. Doch ein wenig wollte ich ihm noch zuhören. Er sprach weiter: „Ich wollte ausnahmslos alle Briefe vertonen, darum hat mich dieses Projekt vier Jahre gekostet. Der Opernring dauert letztendlich über 21 Stunden.“ Ich war kurz davor zu fragen, ob er verlegt wurde, doch traute es mich nicht, weil ich davon ausging, dass das nicht der Fall war; und ich behielt Recht, denke ich, da er direkt mit seinem nächsten Lebensschritt fortfuhr: „Nach dieser Zeit kehrte ich zu meinen Wurzeln zurück; meiner Bestimmung. Die Literatur von 1774! Ich schrieb ein Buch über die Literatur in diesem Jahr, das tatsächlich auch verlegt wurde. Ich bekam genug Geld für den Umzug nach Berlin.“ In diesem Moment klingelte mein Handy. Es war der Wecker, den ich mir immer auf die Zeit stelle, in der ich vom Tisch in meinem Lieblingscafé austehen und den Kaffee auf die Hand nehmen musste; und nun hatte ich nicht einmal einen Kaffee. Ich stellte den Wecker aus und musste mich schweren Herzens von diesem Mann verabschieden. „Ich hab´s eilig, ich muss los!“, verabschiedete ich mich schnell. „Na, dann… Es war nett mit ihnen zu reden“, sagte der Mann und ging weiter. Mir ist kaum aufgefallen, dass sich sein Blick während unseres Gespräches entspannt hat und er nun, so sah ich es von weitem, recht glücklich aussah; und ich hatte den Eindruck, dass das noch eine Weile so bleiben sollte. Er ging nach dem Café rechts am Berliner Mauerweg entlang, dann war er hinter der Fassade verschwunden. „Was für eine interessante Persönlichkeit.“, dachte ich mir. Dann fiel mir ein, dass ich ganz vergessen hatte, ihn zu fragen, was er aktuell beruflich macht. Ich betrat das Café. Die Kassiererin nahm gerade ihre Schürze ab. „Mein Kollege ist gleich für Sie da.“, sagte sie mir und hing ihre Schürze hinten neben der Tür hinter dem Tresen auf. Der Kollege stellte sich an den Tresen. Es war der Mann, den ich vorher getroffen hatte. Sein Blick ähnelte dem bitteren, bevor ich ihn traf, doch wurde nun übertönt von einem aufgesetzen Lächeln.
 
Hallo Simon,

ein kleines Feedback von mir.

Zunächst empfehle ich, bei Sprecher-/Perspektivwechseln einen Zeilenumbruch zu machen, damit der Leser weiß, wer da spricht und damit es einfacher zu lesen ist und nicht alles wie ein Riesen-Block aussieht.
Die Satzzeichen in den wörtlichen Reden solltest du nochmal prüfen. Ggf. kannst du auch hier nachschlagen: www.woertlicherede.de

Beispiel:

„Sie haben Geschmack. Ich lese inzwischen nur noch Literatur von 1774.“, merkte er an. „Was schätzen sie denn so an der Weimarer Klassik?“, fragte ich,
„Sie haben Geschmack. Ich lese inzwischen nur noch Literatur von 1774“, merkte er an.
„Was schätzen sie denn so an der Weimarer Klassik?“, fragte ich,

Der Anfang ist im Allg. der wichtigste Teil einer Geschichte. Viele entscheiden hier, ob sie weiterlesen.
Hier dreht sich alles im Kreis, da geht es nicht vorwärts:
Ich war gerade auf dem Weg, mir einen Kaffee zu kaufen. Es war kurz vor Mittagszeit, da kaufte ich mir immer einen Kaffee. Immer zwischen der letzten Vorlesung am Vormittag und dem Mittagessen in der Studentenmensa, wenn ich schon langsam müde wurde. Und der Kaffee in der Mensa schmeckte scheußlich, doch keinen halben Kilometer weiter von meiner Musikhochschule, direkt am Brandenburger Tor, gab es immer den besten Kaffee in ganz Ostberlin. Also taumelte ich verschlafen unter den Linden entlang.
Ich lese hier andauernd Kaffee (4 x), immer (3 x), Zeitangaben (zwischen, letze Vorlesung, Mittagszeit, Vormittag, Mittag), ...

Er/sie ist erst auf dem Weg, dann also taumelt er/sie. Taumelt er/sie eigentlich unter (den) Linden oder auf der Straße Unter den Linden?

Zudem, finde ich, sind da zu viele unwichtige Infos: Ist es wichtig, dass es 500 Meter sind, die letzte Vorlesung vor der Mittagszeit ist, dass es Ost-Berlin ist (Unter den Linden sagt doch alles) ...
Warum wird der Name der Musikhochschule nicht genannt, wo doch alles andere ganz detailliert beschrieben wird?

Da sind zu viele Füllwörter, die fast alle weg können:
gerade, kurz vor, immer, immer, langsam müde, doch, direkt am, immer, also.

Wohin taumelt er/sie eigentlich? Kaffee kaufen kann alles bedeuten. Kiosk, Café, Tanke, ...

"langsam müde" und "verschlafen" doppelt sich.

Wie gesagt: Der ganze Anfang dreht sich, alles wiederholt sich.
Vorschlag:

Verschlafen taumelte ich durch den Ausgang der XY (Musikhochschule) Richtung Brandenburger Tor, um mir wie immer in der Mittagszeit zwischen den Vorlesungen meinen Lieblingskaffee zu besorgen.
--> Ich denke, das sagt alles aus, zumindest was ich als ein (Muster-)Leser wissen muss.
Die Orte sind drin, die Zeit, die Gewohnheit und implizit, dass der Kaffee an der Schule nicht schmeckt.

Schönen Abend und liebe Grüße,
Franklyn
 



 
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