Berlin als Gegenstand physikalischer Betrachtungen 1

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zugnachpankow

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Wenn ich in Berlin bin, dann fühle ich mich überfordert. Es passiert zu viel und ich kann es nicht verarbeiten. Als Physiker habe ich jedoch ein Werkzeug, um der Welt Sinn abzuringen: Beobachtung. Ich falle kaum auf, wenn ich durch die Straßen ziehe, aber die Straßen fallen mir auf. Ich beobachte, ich werde nicht beobachtet. Vor dem Hintergrund also dieser Straßen spielt sich Unglaubliches ab: Menschen verhalten sich wie Naturgegenstände! Sie fließen, sie strömen, sie fallen, sie stürzen und was das Unglaublichste ist: sie erwecken emergente Phänomene. Ein Mensch selbst, für sich allein genommen, hat zum Beispiel keine Betriebsamkeit, ein ganzer Platz, wie der Savignyplatz hat aber Betriebsamkeit. Aber das ist ja wiederum keine Eigenschaft des Platzes, sondern kommt durch die Vielzahl Menschen auf ihm zustande, die für sich allein genommen, wie zuvor richtig festgestellt, selbst gar keine Betriebsamkeit vorweisen. Woher kommt dann die Gesamt-Betriebsamkeit? Das ist Emergenz! Ist das wirklich Emergenz? Naja, wahrscheinlich nicht ganz. Und sowas macht mich fertig. Es ist alles zu betriebsam und durch meine Präsenz wird alles noch betriebsamer. Aber ich will doch auch die langsamen Rhythmen, ich brauche den Schieber und nicht nur den Walzer, die Welt walzt schon genug. Da will ich mich nun ungern führen lassen – und ich muss ja doch willig sein, denn ich bin Teil der Welt also walze auch ich, egal wo und wann, walz, walz. Ich betreibe mit. Ist man in Berlin dem einen echten Tempo der Welt näher als gedacht oder dort wo nicht getanzt wird? Ich habe weitere Fragen. Eine davon: Lebt man in Berlin mehr, stirbt dafür aber früher? Mathematisch gesprochen, Lebenszeit mal Lebensinhalt = konstant? Eins ist immerhin klar: Betriebsamkeit ≈ emergent, q.e.d.
 

Matula

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Also, ich weiß nicht, ob das Straßengewusel in Berlin neue Existenzformen hervorbringt, würde aber eher meinen, dass politische Gleichschaltung in Verbindung mit massenhypnotischem Beiwerk zur (befristeten) Emergenz eines neuen Typus von Mensch führt. Mit "Betriebsamkeit" meinst Du wahrscheinlich den Eindruck, den eine größere Zahl von Menschen auf einen Beobachter macht, wenn sie in Bewegung und in dieser teilweise aufeinander abgestimmt, teilweise einander gegenläufig sind. Sicher vergeht die Zeit beim Walzen schneller als beim Schieben, aber dass man deswegen früher stirbt, werden die Berliner wahrscheinlich in Abrede stellen.

Schöne Grüße aus Wien,
Matula
 

zugnachpankow

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Hallo Matula,

Also, ich weiß nicht, ob das Straßengewusel in Berlin neue Existenzformen hervorbringt, würde aber eher meinen, dass politische Gleichschaltung in Verbindung mit massenhypnotischem Beiwerk zur (befristeten) Emergenz eines neuen Typus von Mensch führt.
interessanter Gedanke. Ich glaube auch, dass durch die von dir genannten Faktoren ein neuer Typus Mensch bedingt werden könnte. Ich frage mich, ob es in 1 Mio. Jahre den homo urbanis geben könnte?

Mit "Betriebsamkeit" meinst Du wahrscheinlich den Eindruck, den eine größere Zahl von Menschen auf einen Beobachter macht, wenn sie in Bewegung und in dieser teilweise aufeinander abgestimmt, teilweise einander gegenläufig sind.
Genau das meine ich. Man vergleiche diesen Eindruck mit dem Eindruck, den ein sich formierender Schwarm Staren erweckt: man kann auf einmal ganz neue Formen und Dynamiken erkennen, die man nie erahnt hätte, sähe man sich nur einen einzelnen Staren an. Das ist für mich Emergenz, die aus komplexer Dynamik entsteht!

Sicher vergeht die Zeit beim Walzen schneller als beim Schieben, aber dass man deswegen früher stirbt, werden die Berliner wahrscheinlich in Abrede stellen.
Beim Walzer vertraue ich gerne deiner Expertise aus Wien. Mit dem nicht-früheren-Tod hast du wohl auch recht, die Lebenserwartung in Berlin ist anscheinend die 5. höchste der deutschen Bundesländer. Bei all dem Stress und dem wilden Leben, kommt es mir hier als Landkind dennoch so vor, als reduziere sich jeden Tag meine Lebenserwartung.

Liebe Grüße aus Berlin,
Max

P.S.: Vielen Dank, für meine erste Antwort auf meinen ersten Beitrag hier.
 

lietzensee

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Hallo Zugnachpankow,
willkommen im Forum! Da hast du einen interessanten Eindruck vom Stadtgewimmel geschrieben. Mir gefällt dein Stil, komplexe, aber gut lesbare Sätze.

Ich denke, ich verstehe auch, um was es dir geht. Einige Formulierungen finde ich aber etwas unscharf. Sicher ist vieles hier Geschmackssache, aber ich schreibe mal drauf los und du kannst dir Interessantes rauspicken.

Als Physiker habe ich jedoch ein Werkzeug, um der Welt Sinn abzuringen: Beobachtung. Ich falle kaum auf, wenn ich durch die Straßen ziehe
durch meine Präsenz wird alles noch betriebsamer.
Für mich widersprechen sich diese zwei Gedanken. Bist du nun der unbeteiligte Beobachter oder hast du Einfluss auf das Geschehen? Hat man selber Einfluss, macht das Beobachtungen doch zunichte. Ist das nicht grad in der Physik ein zentrales Problem? Man sollte doch immer schauen, dass nicht der eigene Daumen auf der Wage liegt.

Es passiert zu viel und ich kann es nicht verarbeiten. Als Physiker habe ich jedoch ein Werkzeug, um der Welt Sinn abzuringen: Beobachtung.
Auch hier, wie kannst du der Welt Sinn abringen, wenn du das Beobachtete nicht verarbeiten kannst?

die Straßen fallen mir auf.
Vor dem Hintergrund also dieser Straßen spielt sich Unglaubliches ab
Gilt dein Interesse den Straßen selber oder sind die Straßen nur der Hintergrund?

Menschen verhalten sich wie Naturgegenstände!
Den Vergleich finde ich hier nicht so passend. Bei Naturgegenständen denke ich eher an Steine oder Holzstücke und mit solchen Sachen verbinde ich nicht unbedingt aktives ein Verhalten.

Aber ich will doch auch die langsamen Rhythmen, ich brauche den Schieber und nicht nur den Walzer
Die Tanz- Metaphern gefällt mir hier nicht. Ein Tanz läuft doch gerade noch festen Regeln ab, ganz anders als das Chaos auf dem Savigny-Platz, das du vorher rausgearbeitet hast.

Ich habe weitere Fragen. Eine davon:
Diese Zusatzfrage wirkt auf mich eingeschoben und bremst deinen Hauptgedankengang zur Betriebsamkeit aus.

Was ich schreibe, ist natürlich alles nur Kleinvieh, aber das macht auch Mist, besonders in kurzen Texten.

Viele Grüße
lietzensee
 

zugnachpankow

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Hallo lietzensee,

vielen Dank für deine Rückmeldung. Tatsächlich hast du da ein paar interessante Punkte genannt, über die ich noch ein bisschen nachdenken muss.

Für mich widersprechen sich diese zwei Gedanken. Bist du nun der unbeteiligte Beobachter oder hast du Einfluss auf das Geschehen? Hat man selber Einfluss, macht das Beobachtungen doch zunichte. Ist das nicht grad in der Physik ein zentrales Problem? Man sollte doch immer schauen, dass nicht der eigene Daumen auf der Wage liegt.
Das ist wirklich ein zentrales Problem der Physik und wäre vielleicht einen eigenen Text wert. Ich glaube in meinem Text ist das nicht gut ausgearbeitet. Wenn ich z.B. an die Quantenmechanik denke, bei der die Messung bzw. das Beobachten selbst das Ergebnis beeinflussen, ergeben sich ein paar interessante Ideen.

Auch hier, wie kannst du der Welt Sinn abringen, wenn du das Beobachtete nicht verarbeiten kannst?
Guter Punkt!

Den Vergleich finde ich hier nicht so passend. Bei Naturgegenständen denke ich eher an Steine oder Holzstücke und mit solchen Sachen verbinde ich nicht unbedingt aktives ein Verhalten.
Mit Naturgegenständen meine ich Gegenstände die Objekt meiner naturwissenschaftlichen Beobachtung sind, im Sinne einer naturalistischen Weltsicht. Gerade den Vergleich finde ich passend, weil ich es faszinierend finde, wie (eine Menge) Menschen sich genauso verhalten können wie, nach deinen Worten, inaktive Sachen. Also dass man von einem Menschenstrom spricht, der einem Wasserstrom in einigen Eigenschaften ähnelt, oder ganz basal, dass ein Mensch eben genauso fallen kann, wie ein Stein fällt. Emergente Phänomene finden sich interessanter Weise ja nicht nur bei aktiven Gegenständen, sondern auch bei inaktiven, wie zum Beispiel einer Sanddüne, nur vielleicht mit geringerer Komplexität im Vergleich zu einem Vogelschwarm.

Die Tanz- Metaphern gefällt mir hier nicht. Ein Tanz läuft doch gerade noch festen Regeln ab, ganz anders als das Chaos auf dem Savigny-Platz, das du vorher rausgearbeitet hast.
Diese Zusatzfrage wirkt auf mich eingeschoben und bremst deinen Hauptgedankengang zur Betriebsamkeit aus.
Auch zwei sehr gute Punkte, danke! Vielleicht zum Hintergrund des Textes: der ist in zwei sehr kurzen Sessions entstanden, die Monate auseinanderlagen. Diese Spannung merkt man dem Text doch an, aber ich konnte es einfach nicht mehr abwarten, mal etwas zu teilen.

Was ich schreibe, ist natürlich alles nur Kleinvieh, aber das macht auch Mist, besonders in kurzen Texten
Das ergibt sehr viel Sinn, war mir aber offen zugegeben doch gar nicht so klar. Vielen Dank für dein Feedback, das motiviert mich, an solchen Texten weiterzuarbeiten und sie noch deutlich tiefer zu durchdenken, vor allem wenn sie so kurz sind.

Liebe Grüße (tatsächlich aus der Nähe des Lietzensee)
Max
 

lietzensee

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Hallo Max,
klasse, dass du mit meinen Bemerkungen über das Kleinvieh etwas anangen kannst. 90% der Feinarbeiten an Texten wird sicher kein Leser jemals bemerken. Aber in der Summe spürt er trotz dem, wenn ein Text auf Hochglanz poliert wurde.

Mit Naturgegenständen meine ich Gegenstände die Objekt meiner naturwissenschaftlichen Beobachtung sind, im Sinne einer naturalistischen Weltsicht.
Also dass man von einem Menschenstrom spricht, der einem Wasserstrom in einigen Eigenschaften ähnelt,
Ich denke, beim Lesen versteht man schon, wie der Text den Vergleich mit Gegenständen meint. Im Kontext ergibt er Sinn. Für mich ist das Wort an dieser Stelle nur von seiner Assoziation her nicht so glücklich gewählt. Es mag bemüht klingen, aber da es dir um Bewegung geht, würde ich nicht von einem Gegenstand. Da steckt eben -Stehen- drin, also das Gegenteil von Bewegung. Ich weiß nicht, was besser wäre, Partikel, tote Partikel, natürliche Objekte, tote Materie, irgendwas in der Art. Beim nochmaligen Lesen habe ich jetzt aber gemerkt, dass dieses "Gegenstände" an den Titel anknüpft. Das wäre wieder ein Grund, das Wort zu behalten.

Einen schönen Abend und viele Grüße in die Nachbarschaft
lietzensee
 



 
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