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Shallow

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Fünf Stunden war er weg. Im Regen ohne Schirm. Er hängt die nasse Jacke auf einen Bügel an die Garderobe. Feuchtigkeit sammelt sich, rinnt die Ärmel herunter und tropft auf das Parkett. Er schlurft in die Küche und betätigt den Wasserkocher. Die Tasse ist oben im Schrank, der Teebeutel in der Anrichte gegenüber. Er findet alles und stellt es bereit, während das Wasser zu brodeln beginnt. Tasse befüllen, den Beutel eintunken, sechs Minuten ziehen lassen. Löffel dabenlegen. Der Honig fehlt. Ohne schmeckt ihm der Tee nicht. Sie beobachtet ihn, als er in der Küche hantiert.
"Im Schrank oben beim Zucker", sagt sie.
Er nickt und öffnet die Schranktür. Früher, als es seine Wohnung war, stand der Honig in der Anrichte, neben dem Tee. Da, wo er hingehört. Er rührt etwas Honig in die Tasse.
"Warst du wieder am See?", fragt sie. "Bei dem Wetter?"
Er sagt nichts, umfasst die heiße Tasse mit beiden Händen, ohne sie anzusehen. Gleich wird sie ihm Vorwürfe machen, das macht sie immer.
"Du hättest denen Bescheid sagen müssen, die haben sich Sorgen gemacht. Du kannst nicht einfach so abhauen!"
Er pustet in den Tee und nimmt einen Schluck. Sie greift nach ihrem Handy und tippt auf das Display.
"Ich sage, dass du aufgetaucht bist und fahre dich gleich vorbei."
Er pustet wieder in die Tasse, stellt sich vor die Glastür zum Balkon und sieht in den Vorgarten. Draußen wird es langsam dunkel, der Regen hat nachgelassen. Ein Eichhörnchen sitzt auf dem Blumenkasten und starrt ihn durch die Scheibe an. Es bewegt sich nicht. Er bleibt stillstehen und sieht zurück. Seine Tochter hört auf zu telefonieren und kommt zu ihm. Sie legt ihre Hand auf seine Schulter.
"Trink in Ruhe aus, dann bring ich dich zurück. Ich wusste nicht, dass du noch einen Schlüssel zur Wohnung hast. Leg ihn nachher bitte auf die Ablage!"
Die Hand wird zurückgezogen und er sieht wieder hinaus. Das Eichhörnchen ist verschwunden. So, als wäre es nie dagewesen. Er nimmt einen Schluck. Der Tee ist nicht mehr heiß.
"Ich bin kurz im Bad", sagt die Tochter. Ihre Schritte klackern auf dem Parkett. Er wartet, bis das Geräusch verstummt, stellt die Tasse in das Spülbecken und geht in den Flur. Den Schlüssel legt er auf die Ablage und greift nach der Jacke auf dem Bügel. Eine kleine Pfütze hat sich auf dem Boden gebildet. Das ist nicht gut für das Holz. Er überlegt kurz, es aufzuwischen, aber dafür bleibt keine Zeit. Die Tür zieht er leise hinter sich zu.
 
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ARIIOOL

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Ausgezeichnet! Also sprachlich und vom Satzaufbau her …
Ich sage, dass du aufgetaucht bist und fahre dich gleich vorbei.
Das fand ich etwas seltsam, nachdem ich weiterlass. Du lässt das zwar offen, aber offensichtlich ist das eine Art Flucht und vorher besucht er seine Tochter.
Altersheim? Er macht einen klaren Eindruck, motorisch ist alles ok und alleine wandern kann er auch …
Gleich wird sie ihm Vorwürfe machen, das macht sie immer
Es denkt?

Meine phantasiegetränkte Erklärung: Er ist ihr ausrangierter Haushaltsroboter, der sich aufgrund einer Fehlfunktion für ihren Vater hält.
Der ist aus der Reparaturabteilung der Robotic Inc. Haushaltsandroiden Manufaktur ausgebüxt, weil er sich dort langweilt …

die Leerzeichen könntest du noch einfügen. Wie gesagt, dein Schreibstiel gefällt mir sehr gut. Da kommt was rüber

Gruß Ari
 

Shallow

Mitglied
Hallo @ARIIOOL,

vielen Dank fürs Lesen!

Du lässt das zwar offen, aber offensichtlich ist das eine Art Flucht und vorher besucht er seine Tochter.
Altersheim? Er macht einen klaren Eindruck, motorisch ist alles ok und alleine wandern kann er auch …


Ich habe in dem Text nicht alles erklärt, es ist eine situative Beschreibung, die ein paar Dinge offen lässt. Ein älterer Mann kehrt in die ehemalige Wohnung zurück, in der nun seine Tochter lebt. Schon möglich, dass er aus einem Heim abgehauen ist. Ausrangierte Haushaltsroboter waren zwar nicht meine Intention,
aber die Leerstelle vor Balkon habe ich eingefügt, danke für den Hinweis! Stillstehen wird m.E. zusammengeschrieben.

Eine schöne Adventszeit wünscht

Shallow
 

lietzensee

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Hallo Shallow,
was für ein gelungener Einstiegstext. Willkommen im Forum! Mir gefallen die Auslassungen und die beschriebene Situation war für mich trotzdem greifbar. In dem Text lese ich eine stille Grausamkeit, die mich beeindruckt hat. Das Ende ist geschickt.

Ich denke auch über den Satz nach, auf den schon ARIIOOL hingewiesen hat:
Gleich wird sie ihm Vorwürfe machen, das macht sie immer.
Dass sie ihm immer Vorwürfe macht, holt ihren Charakter vielleicht ein wenig zu sehr aus der Schwebe.

Um noch etwas weiter zu spinnen: Der Text erzählt zum großteil nüchtern und distanziert. Nur an wenigen Stellen blickt man in den Kopf des Mannes. Ich denke, die Geschichte würde auch funktionieren, wenn man auf die Einblicke verzichten würde. Man könnte das Geschehen ganz als Fliege an der Wand verfolgen.

Viele Grüße
lietzensee
 

Shallow

Mitglied
Hallo @lietzensee,

danke für`s Lesen und die freundlichen Worte! Ich denke über den Satz nach, ich glaube, ich werde ihn streichen, gebe mir aber noch einen Tag. Besten Dank für den Tipp!

Eine entspannte Weihnachtszeit wünscht

Shallow
 

Ubertas

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Hallo @Shallow ,
ich bin ebenfalls begeistert von deinem Text. Gerade dadurch, dass du nicht alles erklärst, wird es für den Leser spannend. Er darf sich selbst eine Erklärung für den Aufenthalt des Mannes in der Wohnung suchen.
Meiner Lesart nach leidet der Mann an Verwirrtheit. Er hält sich an bestimmten Bewegungsabläufen fest. Damit die Teezubereitung gelingt, sollte sich alles am rechten Platz befinden. Die Frage, wo er war, kann er nicht beantworten, er sieht nicht auf - stattdessen umklammert er mit beiden Händen die heiße (!) Tasse. In diesem Zusammenhang sehe ich den Satz: "Gleich wird sie ihm Vorwürfe machen, das macht sie immer." als gut platziert an. In ihm versteckt sich das, was meistens Angehörigen im Umgang mit einem verwirrten Menschen passiert: die Geduld zu verlieren. Die Eichhörnchenszene empfinde ich ebenfalls als sehr bedeutsam. Das Eichhörnchen steht meines Erachtens hier symbolisch für sein Erinnerungsvermögen. Vielleicht habe ich jetzt nur aus dem Kaffesatz gelesen oder ein Teebeutelorakel vollführt..
Unabhängig von meiner Deutung - ich schließe mich dem Lob meiner Vorredner an und finde deinen Text hervorragend gelungen!
Zwei kleine Erdnüsse habe ich gefunden:
Zum "er bleibt stillstehen" im Sinne von lautlos, geräuschlos stehen, darf es getrennt geschrieben werden. Vor "Leg ihn nachher bitte auf die Ablage!" wohl Punkt statt Komma. Aber wie gesagt: Erdnüsse..

Ein großartiger Text!

Liebe Grüße ubertas
 

Shallow

Mitglied
Hallo @Ubertas,

vielen Dank für deine Einschätzung, freut mich sehr! Der Punkt ist gesetzt. Bei "stillstehen" bin ich immer noch unsicher im Sinne von bewegungslos
(also nicht im Sinne von geräuschlos, das Tier hört die Geräusche durch die Scheibe nicht unbedingt). Den Satz "Die Hand wird zurückgezogen.." habe ich von der ursprünglichen Aktiv-Form als Passiv genommen, um die Distanz zu unterstreichen, finde ich toll, dass du das bemerkt hast!

Beste Grüße, man liest sich

Shallow
 



 
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