Billige Imitate

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Papiertiger

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„Die einfachste Art, an Abenteuern und Erlebnissen teilzuhaben, ohne selbst wirklich aktiv und kreativ sein zu müssen, ist es den Fernseher einzuschalten. Ob ich dabei eine Serie oder einen Film gucke oder ein Videospiel zocke, ist unerheblich. All das ist Berieselung, passives Konsumieren und nur ein Ersatz für reales Erleben. Wozu noch eine fiktive Story reinziehen, die wenig bis nichts mit meinem Leben zu tun hat? Zugeben, mein Leben könnte abwechslungsreicher verlaufen und spannender sein, sofern echtes Leben so prickelnd sein kann wie ausgedachte und auf Unterhaltung getrimmte Geschichten. Im echten Leben gibt es keine Drei-Akte, den klaren roten Faden und gegen Ende nochmal den ganz großen Wendepunkt.“, sagt Harvey.





„Das sagst Du doch nur deshalb, weil Du kein Talent fürs Schreiben hast und es noch nicht mal übst. Natürlich löst das Schreiben nicht alle Probleme und es soll gar kein Ersatzleben sein. Geschichten geben keine Antworten auf sämtliche Lebensfragen, aber ein guter Text ist deutlich mehr als seichte Unterhaltung und Zeitvertreib.“, entgegne ich und frage: „Was willst Du denn nun konkret an Deinem Leben verändern?“





„Ich mache jetzt auf richtig dicke Hose. Nur noch Maßanzüge, feinste Restaurants, Reisen um die Welt, die schönsten Frauen…“





„Und wie willst Du das bezahlen, hängst Du etwa noch mit diesen zwielichtigen Typen ab, Harvey Kartell?“





„Ha, ha, sehr witzig! Ein total originelles Wortspiel aus dem imaginären zwei Meter großen Hasen, dem mäßig berühmten US-Schauspieler und meiner halbseidenen Kontakte“, entgegnet Harvey.





90 Tage später treffen wir uns wieder. Harvey trägt einen teuren Kaschmirschal, einen schwarzen Anzug und eine Sonnenbrille. Während wir uns unterhalten, fällt das linke Glas aus der Brille. „Na, wenn das keine echten Ray-Ban sind, dann weiß ich auch nicht“, sage ich spöttisch. Er legt den Schal über die Stuhllehne im Flur und betritt das Wohnzimmer und tut so, als wäre nichts passiert. Ich hole derweil den guten Wein zum Anstoßen auf den neuen Lebensabschnitt meines besten, wenn auch exzentrischen Kumpels. Als ich wieder zurück bin, fällt gerade das zweite Glas aus der Brille. Und die Bügel zerfallen zu Staub. „Ich stecke ab jetzt den Großteil meines Geldes ins Business, da kann nicht alles Tip Top sein“, erläutert er nun notgedrungen. „Im Zweifel lieber Sachen, die gut aussehen statt gut verarbeitet zu sein. Am Ende zählt nur der schöne Schein, also der mit dem Euro drauf, wenn Du verstehst“, versucht sich Harvey extra cool zu geben, während ein Knopf von seinem Anzug abfällt.





„Ist es nicht irre, wie ein klein wenig Gift, sagen wir mal von einer Biene, einen ausgewachsenen Mann töten kann, wenn der Allergiker ist?“, frage ich, für mein Gegenüber offensichtlich völlig aus dem luftleeren Raum. „Na, manchmal läuft alles so gut, aber dann passiert dir ein unerfreuliche Sache und dein ganzer Tag ist versaut, weil du nur noch am das negative Erlebnis denkst. Quasi ein winziger Tropfen Schweröl, der zig Liter Meerwasser verunreinigt? Na, ja, ich muss los.“, rufe ich noch, nun rennend, und schnell die Haustür hinter mir schließend.





„Du Depp hast Rotwein auf meinen Kaschmirschal gekleckert, ich bring dich um, der ist wirklich echt und hat richtig Geld gekostet“, höre ich Harvey noch durchs Treppenhaus schreien.





Ich fahre mit der Bahn in die Innenstadt. Nur halb bei der Sache blättere ich in einem Buch von Marc-Uwe Kling. Ich finde die Story lustig, obwohl sie im Grunde genommen sehr viel aus Chuck Palahniuks „Fight Club“ geklaut hat und vieles offensichtlich auf eine Pointe hin konstruiert wurde. Na ja, das war bei „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams auch so und das war gut so.





„Die Fahrscheine bitte!“, knurrt ein Kontrolleur plötzlich und wie aus dem Nichts. Ich zeige mein Monatsabo. „Besten Dank. Bitte geben Sie mir mal das Buch, sie kennen das ja sicher schon.“. In der Tat waren mir die Literaturkontrollen in der Öffentlichkeit bestens vertraut, seit Rolf Brotbeere Kulturminister in unserem Bundesland war. Wer in die innere Stadt wollte, musste vorab beweisen, das er über Geschmack, Witz und Esprit verfügt. Also wurde Fragen zum jeweiligen Buch gestellt. Ich bestand den Text und durfte weiterfahren. Zwei Fahrgäste mussten von der Security hinausgeleitet werden, einer hatte ein Werk von Mario Barth dabei, der andere hatte einen Comic von Carl Barks im Rucksack, aber keinen gültigen Fahrschein. „Das ist ungerecht, guter Geschmack, aber eben nicht genug Geld.“, diese neue, elitäre Regierung lief noch nicht optimal, dachte ich.





Die Haltestelle liegt im Stadtviertel, in dem die Abgehängten, die Menschen leben, die letztlich auch nur von einem besseren Leben träumen, aber noch nicht recht wissen, wie es gehen soll. Menschen, die nicht von der Weltrevolution träumen, sondern vom Feierabend und der Rente, wie es ein deutscher Kabarettist mal treffend ausdrückte. Mein Blick fällt auf eine riesige Plakatwand. „Ich bringe sie nach vorne! Ich verrate ihnen die Abkürzung zum Erfolg! Herzlichst Ihr Erfolgstrainer und Direktkandidat Harvey Kaitel“. Eine Durchsage reißt mich aus meinen Gedanken. „Verehrte Fahrgäste, aufgrund von Personenschäden im Gleisbereich, muss dieser Zug leider wenden und umkehren“.





Mit dieser überraschenden Wendung hatte ich nicht gerechnet. Sicher passiert als nächstes was ganz großartiges. Da bin ich mir fast sicher.
 



 
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